Zusammenfassung
Hintergrund
Die flächendeckende Einführung der Polioschluckimpfung in der Bundesrepublik 1961 stellt einen der wichtigsten Fortschritte in der präventiven Kinderheilkunde in der Nachkriegszeit dar. Begleitet wurde diese jedoch von ethisch fragwürdigen Versuchsreihen in mehreren Westberliner Kinderheimen. Die Impfaktion im Mai 1960 in Westberlin wurde als unumgängliche Maßnahme betrachet, nachdem die DDR zuvor eine Massenimmunisierung mit der oralen Poliovakzine angeordnet hatte und man eine Einschleppung des Impfvirus in den Westen befürchtete.
Methodik
Zentral für die Analyse sind die Publikationen zu den Impfversuchen sowie die Sitzungsprotokolle der Deutschen Vereinigung zur Bekämpfung der Kinderlähmung e. V. Letztere sind im Bundesarchiv Koblenz (BArch) einsehbar.
Ergebnisse
Im Kinderheim Elisabethstift wurde zur Überprüfung der Übertragung und Stabilität des Impfvirus eine Versuchsreihe initiiert, wobei eine Kontrollgruppe ungeimpft blieb. Bei allen diesen Kindern konnte das Impfvirus unverändert nachgewiesen werden.
Diskussion
Durch die Nichtimpfung der Kontrollgruppe wurde diesen Kindern wissentlich eine präventive Maßnahme vorenthalten, die man der restlichen Bevölkerung eindringlich empfahl. Die ungeklärten möglichen Risiken des Versuchsdesigns für die betroffenen Kinder wurden in Kauf genommen und bewusst dem wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn untergeordnet. Viele Faktoren legen nahe, dass die ärztlichen Entscheidungsträger*innen die Versuche dennoch als legitim erachteten. Die Gründe hierfür sind in der Kontinuität nationalsozialistischer Ideologie, einer utilitaristischen Denkweise und rigidem ärztlichem Paternalismus zu suchen.
Abstract
Background
The comprehensive introduction of oral poliomyelitis vaccination in the Federal Republic of Germany in 1961 represents one of the most important improvements in preventive medicine in pediatrics in the postwar period. However, it was accompanied by an ethically questionable test series in several children’s homes in West Berlin. The vaccination program in May 1960 in West Berlin was considered to be an inevitable measure after the German Democratic Republic ordered a mass immunization with oral polio vaccine and it was suspected that the virus would be introduced into the population of West Berlin.
Methods
The publication of the vaccination tests and the proceedings of the German Association for Combating Poliomyelitis (Deutsche Vereinigung zur Bekämpfung der Kinderlähmung e. V.) were essential for the analysis. The latter are available in the Federal archives (Bundesarchiv [BArch]) in Coblenz.
Results
In the children’s home Elisabethstift a series of experiments were initiated and the transmission and stability of the vaccination virus was tested. As a part of these tests, a control group was not vaccinated. The vaccination virus could be detected unaltered in all children of the control group.
Discussion
Children in the control group who were not vaccinated were therefore intentionally denied preventive measures that were urgently recommended for the rest of the population. The unexplained potential risks of the test design for the affected children were intentionally accepted. However, these risks were considered of secondary importance to the scientific knowledge that could be gained from the trial. Despite these flaws, there are many factors that show that the medical community considered these trials to be valid. This is evident through the continuity of such ideas in National Socialistic ideology, including the utilitarian mindset as well as the rigid medical paternalism exhibited as part of this movement.
Literatur
BArch, B 142/28
BArch, B 142/33
BArch, B 142/52
BArch, B 142/53
BArch, B 208/1002
BArch, B 208/1004
Beddies T (2016) Besetzung pädiatrischer Lehrstühle in den westlichen Besatzungszonen und in der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg. Monatsschr Kinderheilkd 164(Suppl 1):26
BGH, III ZR213/57, 26. Jan. 1959
Bundesgesundheitsamt (1960) Streuung des Poliomyelitisvirus nach Oralimpfung. Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz 14:219
Bundesgesundheitsamt (1961) Deutsche Vereinigung zur Bekämpfung der Kinderlähmung: Poliomyelitis-Schutzimpfung. Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz 23:373–374
Eggert E, Koehn A (1961) Virologische Routineuntersuchungen bei der Erkennung und Bekämpfung der Poliomyelitis. Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz 25:399
Enders-Ruckle G, Siegert R (1961) Virusausscheidung und Antikörperentwicklung nach Anwendung eines trivalenten Poliomyelitis-Lebendimpfstoffs (Cox-Lederle). Dtsch Med Wochenschr 42:1999
Goffman E (2018) Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Suhrkamp, Frankfurt a. M., S 18
Impfung nur nach Unterschrift der Eltern (1. Mai 1960) Tagesspiegel, S 18
Joppich G (1939) Konstitution und Konstitutionsanomalien. Erbpflege und Erbkrankheiten im Kindes- und Jugendalter. In: Hördemann R (Hrsg) Die Gesundheitsführung der Jugend. J.F. Lehmanns, München/Berlin, S 39
Klee E (2003) Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945? Fischer, Frankfurt am Main
Kochs H (1960) Zur oralen Schutzimpfung gegen Poliomyelitis in West-Berlin 1960. Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz 10:149
Landesarchiv Berlin, B Rep. 002, Nr. 9952
Landesarchiv Berlin, C Rep. 031-01-04, Nr. 218
Landesarchiv Berlin, C Rep. 375-01-21, Nr. 388 A.01
Landesarchiv Berlin, F Rep. 260-02, Nr. C 0025
Landesarchiv Berlin, F Rep. 290 (07), Nr.: 0056635
Lennartz H, Valenciano L (1961) Virologische Untersuchungen zur oralen Schutzimpfung gegen Poliomyelitis in Westberlin 1960. Dtsch Med Wochenschr 32:1479–1150
Oehler-Klein S (2007) Entnazifizierung und Neuaufbau: Die Akademie für medizinische Forschung und Fortbildung der Justus-Liebig-Hochschule und der Umgang mit der Vergangenheit. In: Oehler-Klein S (Hrsg) Die Medizinische Fakultät der Universität Gießen im Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit: Personen und Institutionen, Umbrüche und Kontinuitäten. Franz Steiner, Stuttgart, S 496
Polio-Impfungen. Aktion Brunhilde. (21. Februar 1962) Der Spiegel
Seidler E (2000) Kinderärzte 1933–1945. Entrechtet – geflohen – ermordet. Bouvier, Bonn, S 31
Wagner S (2016) Ein unterdrücktes und verdrängtes Kapitel der Heimgeschichte. Arzneimittelstudien an Heimkindern. SozialGeschichteOnline 19:61–113
Wiesener H, Lennartz H, Enders-Ruckle H (1961) Poliomyelitisschutzimpfung mit abgeschwächten Viren. Dtsch Med Wochenschr 22:1085
Zepp F (2018) Impfmythen in der Pädiatrie. Monatsschr Kinderheilkd 166:1114–1119
Author information
Authors and Affiliations
Corresponding author
Ethics declarations
Interessenkonflikt
L. Münch gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden von den Autoren keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
Additional information
Redaktion
B. Koletzko, München
T. Lücke, Bochum
E. Mayatepek, Düsseldorf
N. Wagner, Aachen
S. Wirth, Wuppertal
F. Zepp, Mainz
Rights and permissions
About this article
Cite this article
Münch, L. Polioschluckimpfung in Westberlin 1960. Monatsschr Kinderheilkd 170, 817–823 (2022). https://doi.org/10.1007/s00112-019-00794-x
Published:
Issue Date:
DOI: https://doi.org/10.1007/s00112-019-00794-x