Zusammenfassung
Obwohl Latein eine nicht mehr gesprochene Sprache ist und ihr deswegen kein kommunikativer Nutzen zukommt, ist die Anzahl der Latein als Schulfach wählenden Schüler im Zeitverlauf angestiegen. Mehrere Studien haben zudem gezeigt, dass Lateinkenntnisse weder das logische Denken, noch den Erwerb anderer Sprachen, noch das Gespür für die grammatikalische Struktur der Muttersprache verbessern. Auch wenn sich empirisch keine Vorteile des Erwerbs alter Sprachen nachweisen lassen, können Menschen subjektiv an solche Vorteile glauben und ihr Verhalten an ihrer Konstruktion von Wirklichkeit ausrichten. Auf der Basis einer unter Eltern von Gymnasialschülern durchgeführten Befragung zeigen wir, dass Latein umfassende Transfereffekte zugeschrieben und Personen mit Lateinkenntnissen positiver bewertet werden als Personen mit Kenntnissen moderner Sprachen. Weiterhin zeigt sich, dass die „Illusio“ der Vorteile von Latein zwar in allen Bildungsgruppen wirksam ist, doch besonders von den Hochgebildeten vertreten wird. Sie arbeiten damit an der Konstruktion einer Realität, von der sie selbst die größten Nutznießer sind, indem sie Latein als symbolisches Kapital verwenden.
Abstract
Although Latin is a non-spoken language and therefore has no communicative value, the number of students choosing Latin as a foreign language at school has increased over time. Several studies have shown that learning Latin does neither improve logical thinking, nor the acquisition of other foreign languages, nor linguistic abilities in the mother tongue. Despite the empirical lack of benefits associated with the acquisition of ancient languages, people might believe in such benefits and behave in accordance with their construction of reality. Based on a survey conducted among parents of students at German high schools (“Gymnasium”), we show that parents extensively attribute transfer effects to learning Latin. Furthermore, people with knowledge of Latin are rated more positively than those with knowledge of modern languages with respect to their general and cultural education, as well as their social status. We also demonstrate that although the illusory of the benefits of Latin is prevalent in all educational groups, it is particularly pronounced among the higher educated. They construct a social reality of which they are the greatest beneficiaries by using Latin as a symbolic capital.
Notes
Der Anteil derer, die Altgriechisch gewählt haben, bewegt sich über den gesamten Zeitraum bei ca. 0,5 %.
Nur für Personen mit Migrationshintergrund, die Deutsch als Zweitsprache lernen, weist Maria Große (2014) positive Transfereffekte des Lateinunterrichts zur Nominalreflexion im Deutschen nach. Die Arbeit von Maria Große ist in das Forschungsprojekt Pons Latinus eingebettet. Das Netzwerk um den Altphilologen Stefan Kipf (HU Berlin) hat sich zum Ziel gesetzt, die Gestaltung des Lateinunterrichts für die sprachliche Integration von Jugendlichen mit Migrationshintergrund zu optimieren.
Um leistungsbezogene Selektionseffekte weitgehend auszuschließen, kontrollieren Haag und Stern die Effekte folgender Variablen: Leistung in der zweiten schulischen Fremdsprache (Latein, Französisch), die in das Lernen von Spanisch investierte Zeit, Interesse am Lernen von Spanisch sowie generelle verbale Intelligenz.
Die genauen Ergebnisse können der Tab. A3 im Anhang entnommen werden.
Die Abiturienten-Prüfungsordnung vom 12.06.1812 definierte erstmals konkrete Inhalte, die für die Verleihung des Abiturs überprüft werden mussten.
Mädchen war es bis zu den „Bestimmungen über die Neuordnung des höheren Mädchenschulwesens“ vom 18. August 1908 nicht möglich, das Abitur zu erlangen.
Die Rücklaufquote lag bei ca. 40 %. Weiterführende Informationen zum Erhebungsdesign, den Inhalten und Daten können der Publikation der Daten im GESIS Datorium (Link zu Datenpublikation) entnommen werden (Gerhards et al. 2019).
Der genaue Wortlaut der E‑Mail ist im Codebuch der Studie dokumentiert, vgl. Arneth et al. (2019). Die Daten der Umfrage werden nach Abschluss noch anstehender Datenbereinigungs- und Dokumentationsarbeiten der GESIS übergeben.
Das bayerische Kultusministerium beruft sich in seiner Ablehnung auf einen Passus im bayerischen Schulgesetz, nach dem Erhebungen an Schulen nur durchgeführt werden dürften, sofern ein wissenschaftlich-pädagogischer Nutzen erkennbar sei. Der Befragung fehle der pädagogische Nutzen. Der Briefwechsel zwischen der Projektgruppe und dem Ministerium ist im Codebuch dokumentiert (Arneth et al. 2019).
Zur Ermittlung der Ausschöpfungsquote für den Elternfragebögen wurde vereinfachend von zwei Elternteilen pro Kind ausgegangen. Die oben ausgewiesene Ausschöpfungsquote bzgl. des Elternfragebogens unterschätzt die wahre Ausschöpfungsquote auf Grund von Haushalten mit nur einem Elternteil.
Um das potenzielle Ausmaß einer Verzerrung annäherungsweise abschätzen zu können, haben wir die Analysen für Haushalte, in denen die Kinder Latein lernen und solchen, in denen die Kinder kein Latein lernen, getrennt durchgeführt. Aufgrund der spezifischen Stichprobe lernen 60 % der Kinder der befragten Haushalte Latein entweder seit der fünften oder seit der sechsten Klasse, 40 % lernen kein Latein. In Tab. A5 im Anhang sind die Ergebnisse der Zuschreibung eines positiven Transfernutzens nach dem Sprachprofil differenzierend dargestellt. Es zeigt sich, dass alle Haushalte Latein einen größeren Transfernutzen zuweisen; die Tendenz, dies zu tun, ist jedoch bei Haushalten geringer ausgeprägt, deren Kinder kein Latein lernen.
Als „robustness check“ wurde geprüft, ob sich die in Tab. 1 und 2 dargestellten Ergebnisse verändern, wenn alternativ nur der höchste Bildungsabschluss der Mutter oder des Vaters für die Rekodierung herangezogen wird. Die Ergebnisse solcher alternativer Rekodierungen unterscheiden sich nicht substanziell von den hier präsentierten Ergebnissen.
In der Befragung bedeutete der Wert „1“ „trifft voll und ganz zu“ und der Wert „5“ „trifft überhaupt nicht zu“. Um die Lektüre der nachfolgenden Tabellen zu erleichtern, wurde die Skala für die Analysen gespiegelt.
Der Zusammenhang zwischen Bildungsherkunft und der Zuschreibung eines positiven Transfernutzens zu den alten Sprachen ist für alle drei Transferdimensionen statistisch signifikant mit p < 0,01.
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Gerhards, J., Sawert, T. & Kohler, U. Des Kaisers alte Kleider: Fiktion und Wirklichkeit des Nutzens von Lateinkenntnissen. Köln Z Soziol 71, 309–326 (2019). https://doi.org/10.1007/s11577-019-00624-8
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