Zusammenfassung
Mit dem von Bourdieu entlehnten Begriff der Laufbahnklassen entwickelt der Beitrag ein dynamisiertes Verständnis sozialer Klassenzugehörigkeit im Lebensverlauf, das neben der Existenz stabiler Klassenzugehörigkeiten auch typische Aufstiegs- und Abstiegsmobilitäten als eigenständige Klassen(fraktionen) zulässt. Empirisch wird das Konzept der Laufbahnklassen mithilfe von Sequenzmusteranalysen individueller Erwerbsverläufe umgesetzt. Auf Basis von Daten des Sozio-oekonomischen Panels werden individuelle Klassenzugehörigkeiten – operationalisiert über das EGP-Klassenschema – von Männern und Frauen über jeweils 15 Jahre hinweg und für vier separate Alterskohorten verfolgt. Neben einer beachtlichen Stabilität der Klassenzugehörigkeit finden wir bei den Männern auch typische auf- und abstiegsmobile Laufbahnklassen, die auf spezifische institutionelle Schließungsmechanismen, aber auch Karrierepfade verweisen. Bei den Frauen dominieren dagegen klassenspezifische Muster der Erwerbsein- und -ausstiege. Anhand von Indikatoren der Akkumulation ökonomischen, kulturellen und sozialen Kapitals lassen sich die Laufbahnklassen zugleich anhand spezifischer Strategien der sozialen Platzierung beschreiben.
Abstract
Based on Bourdieu’s notion of trajectory-classes, the article proposes a dynamic concept of social class that accounts for typical patterns of intra-generational mobility. The hypothesis is that social class trajectories cluster into stable as well as upward and downward mobile trajectory-classes. This assumption is tested empirically by applying sequence analysis to individual trajectories of class positions measured by means of the Goldthorpe class scheme. The data are drawn from the German Socio-Economic Panel Study and cover 15 years of individual occupational histories for four different age cohorts of men and women. In addition to a striking stability of class positions, there are also specific patterns of class mobility for men that point to institutional mechanisms of social closure and career paths. Women’s trajectory-classes are shaped by class-specific patterns of labor market (re-)entries and exits. Furthermore, analyzing the process of capital accumulation based on various indicators of economic, cultural and social capital, the trajectory-classes can be interpreted as a result of investment strategies.
Résumé
Cet article développe à partir du concept bourdieusien de classe de trajectoires une conception dynamique de l’appartenance de classe au cours de la vie intégrant non seulement l’existence d’appartenances de classe stables mais aussi les mobilités ascendantes et descendantes typiques comme (fractions de) classes distinctes. Nous appliquons le concept de classe de trajectoires empiriquement à l’aide d’analyses de modèles de séquences de carrières professionnelles individuelles. Nous étudions les appartenances de classe – opérationnalisées à l’aide du schéma de classes EGP – d’hommes et de femmes sur une durée de 15 ans pour quatre cohortes d’âge distinctes sur la base de données du panel socio-économique. Outre une stabilité considérable de l’appartenance de classe, nous constatons chez les hommes des classes de trajectoires ascendantes et descendantes typiques revoyant non seulement à des mécanismes spécifiques de clôture institutionnelle mais aussi à des plans de carrière. Chez les femmes, en revanche, dominent les modèles d’entrées et de sorties du marché du travail spécifiques à chaque classe. En utilisant des indicateurs d’accumulation du capital économique, culturel et social, il est par ailleurs possible de décrire les classes de trajectoires à l’aide de stratégies spécifiques de placement social.
Notes
Das Klassenschema von Erikson, Goldthorpe und Portocarero (EGP), vgl. Erikson und Goldthorpe (1992).
In den Korrespondenzanalysen, die den Analysen des herrschenden und des kleinbürgerlichen Geschmacks in Die feinen Unterschiede empirisch zugrunde liegen, lässt sich die soziale Laufbahn sogar als zweite Achse interpretieren (Bourdieu 1987, S. 411, 534).
Ebenso bestimmt die soziale Laufbahn auch auf individueller Ebene die Klassenposition und die mit ihr verbundenen Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsweisen. Als „Laufbahneffekt“ bezeichnet Bourdieu die Effekte der Abweichungen der individuellen Laufbahn von der typischen Laufbahn der sozialen Klasse. Ungewöhnliche Biografien entziehen sich damit keineswegs klassensoziologischer Deutung. Indem sie unterschiedliche, zuweilen widersprüchliche Erfahrungen in sich vereinen, können sie sich hervorragend eignen, um die strukturellen Spannungen, aber auch mögliche Wahlverwandtschaften zwischen verschiedenen sozialen Klassen zu verdeutlichen.
In Bourdieus Analysen sind dabei Alters- und Generationenunterschiede kaum zu unterscheiden, da sie sich auf denselben historischen Zeitpunkt beziehen. Aber die theoretischen Ausführungen machen deutlich, dass beide eine differenzierende Rolle spielen.
Aus theoretischen Gründen hätte sich auch das Klassenschema von Oesch (2006) als Ausgangspunkt angeboten. Da es jedoch Arbeitsplatzmerkmale mit individuellen Merkmalen (Bildung) vermengt, eignet es sich weniger gut für Längsschnittanalysen.
Für die Analysen haben wir das Paket TraMineR für das Statistikprogramm R verwendet (Gabadinho et al. 2010). Wir danken jedoch Ulrich Kohler für die Bereitstellung einer modifizierten Version seines Stata-Programms sq (Brzinsky-Fay et al. 2006), mit deren Hilfe sich das DHD-Verfahren auch mit Stata umsetzen lässt, allerdings deutlich langsamer.
Damit finden sich teilweise dieselben Personen in zwei bis drei Alterskohorten, was uns die Möglichkeit eröffnet, zumindest zu Prüfzwecken die Mobilität zwischen Laufbahnklassen aufeinanderfolgender Alterskohorten zu betrachten. Von den insgesamt untersuchten 6.053 Personen sind 1.802 in mindestens zwei Alterskohorten anzutreffen.
Bei den grafischen Darstellungen handelt es sich nicht um Sequenzplots, sondern vielmehr um aggregierte Verteilungen der Personen des jeweiligen Alters auf die jeweiligen Klassenlagen.
Eine vollständige grafische Darstellung aller Laufbahnklassen und der dazugehörigen Indikatoren der Kapitalakkumulation findet sich in den Online-Ressourcen des Berliner Journals für Soziologie XXXXX.
Faktisch reichen die Fallzahlen nicht aus, um selbst bei einer sehr großen Zahl von Clustern eine abwärtsmobile Laufbahnklasse zu erhalten.
Die recht wenigen Fälle mit einer mehr als 20-jährigen Panelteilnahme lassen erkennen, dass sich die abwärtsmobilen Facharbeiter nach dem gescheiterten Platzierungsversuch zu stabilen Laufbahnklassen in einfachen Arbeiterberufen entwickeln.
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Groh-Samberg, O., Hertel, F. Laufbahnklassen. Zur empirischen Umsetzung eines dynamisierten Klassenbegriffs mithilfe von Sequenzanalysen. Berlin J Soziol 21, 115–145 (2011). https://doi.org/10.1007/s11609-011-0145-0
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