Skip to main content
Log in

Die Krisenhaftigkeit der Krise – Misslingende demenzielle Interaktionsprozesse

The constitution of crisis. Failing interaction processes in the context of Dementia

  • Published:
Österreichische Zeitschrift für Soziologie Aims and scope Submit manuscript

Zusammenfassung

Dass die Betreuung von Demenzkranken als besonders belastend gilt, ist gemeinhin bekannt. Das situative Handlungssystem von Erkrankten und pflegenden Angehörigen ist unter Zuhilfenahme von Ansätzen der interpretativen Soziologie jedoch kaum ausgeleuchtet. Anhand von Interviews mit pflegenden Angehörigen wird in diesem Beitrag untersucht, wie sich die Interaktion mit demenzkranken Familienmitgliedern konstituiert und welche Handlungsstrategien der Angehörigen sichtbar werden. Dabei zeigt sich, dass es zum Zusammenbruch normaler Interaktionsprozesse aufgrund der Suspension der Reziprozitätsidealisierung kommt, was zu massiven Störungen der Beziehung und Verunsicherung des eigenen Selbst führt. Darüber hinaus sind die Interaktionskrisen weder vorhersehbar noch auf Dauer gestellt. Die Angehörigen können kein neues Handlungswissen aufbauen und es bleibt unklar, ob die konstitutiven Erwartungen aufzugeben sind oder nicht – es kommt zu einem Vertrauensbruch in der Beziehung.

Abstract

It is generally understood that the care of dementia patients is particularly demanding. However, the situational action system of sufferers and family caregivers has yet to be adequately analysed by means of interpretive sociological approaches. Using interviews with family caregivers, this article examines the nature of patient-caregiver interactions and particular strategies for action that relatives adopt. It shows that suspending the so-called Reziprozitätsidealisierung (‚idealization of reciprocity‘) leads to a breakdown of normal interaction processes, which in turn results in a severe deterioration of the relationship and in destabilized (caregiving) subjects. These disturbances of interaction are neither predictable nor permanent. Relatives are thus unable to acquire new recipe knowledge and uncertain whether or not they have to relinquish constitutive expectancies – as a result, the relationship becomes characterized by a breach of trust.

This is a preview of subscription content, log in via an institution to check access.

Access this article

Price excludes VAT (USA)
Tax calculation will be finalised during checkout.

Instant access to the full article PDF.

Notes

  1. Medizinisch definiert gilt Demenz als psychische Krankheit mit einer nachweisbaren zerebralen Veränderung infolge einer Hirnverletzung oder anderen Schädigung, die zu einer Hirnfunktionsstörung führt. Sie führt zu einer Beeinträchtigung des Denk- und Sprachvermögens, der Auffassungs- und Lernfähigkeit, zu zeitlichen und räumlichen Orientierungsstörungen und zum Verlust der Fähigkeit, vernünftig zu urteilen. Die heute am häufigsten diagnostizierte Form ist die Alzheimer-Demenz. Die verschiedenen Demenzformen unterscheiden sich laut Definition durch Beginn, Verlauf sowie körperliche und psychische Merkmale. Es werden auch Mischformen diagnostiziert (ICD-10-GM 2015). Bei der Demenz handelt es sich um eine ursächlich nicht geklärte Krankheit. Eine spezifische medikamentöse Therapie ist gegenwärtig nicht möglich. Ergänzend zur pharmakologischen Behandlung existiert eine breite Palette komplementärer Interventionen (z. B. Mal-, Atem-, Musik- und Bewegungstherapie sowie Gehirntrainingskurse), deren Evidenz kontrovers diskutiert wird (vgl. die Arbeiten der Forschungsgruppe „Versorgungsinterventionen“ von Margareta Halek am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen).

  2. Schütz bezieht sich hier nicht nur auf die physische Stellung, die der Einzelne in seinem gegenwärtigen Jetzt einnimmt, sondern auch auf seinen Platz in der kosmischen Zeit, bezüglich Status und Rolle sowie auf eine moralische und ideologische Position (Schütz 1971, S. 10). Der hellwache Mensch in der natürlichen Einstellung ordnet seine Welt aus seiner gegenwärtigen raum-zeitlichen Position um sich herum mittels der Kategorien von Rechts und Links, Vorn und Hinten, Oben und Unten, Nah und Fern sowie von Vorher und Nachher, von Vergangenem und Zukünftigem (ebd., S. 255).

  3. Schütz spricht hierbei auch von der „intersubjektiven Motivkette“ (1972d, S. 12 ff.).

  4. Ein Vergleich der Erschütterungsexperimente, die in verschiedenen Beziehungssettings stattfanden, kann einen möglichen Anhaltspunkt dafür geben. Garfinkels ausführliche Schilderungen der Reaktionen der Experimentator/innen und Versuchspersonen beim Hotelgast-Experiment, die in einer familialen Beziehung zueinander standen, deuten auf einen wichtigen Unterschied zu den Rollenverwechslungsexperimenten hin, die in anonymen Beziehungskonstellationen stattfanden. Die Studierenden, die sich in der Familie für einige Stunden wie Hotelgäste verhalten sollten, sahen im Vorfeld des Experiments hohe Risiken für die Beziehung, die aus der Verletzung der entsprechenden Verhaltenserwartungen resultieren können. Einige verweigerten sodann die Durchführung. Die Studierenden, die sich am Experiment beteiligten, berichteten hinterher über emotionale Spannungen beiderseits, die sich auch nicht hatten glätten lassen, nachdem das Experiment aufgelöst wurde und die Versuchspersonen darüber aufgeklärt waren. Das Vertrauen in die Kooperationsvereinbarung wurde so erschüttert. Für eine weiterführende Argumentation wäre zweifellos eine wichtige Untersuchungsfrage, wie sich demenzielle Interaktionskrisen in Familien mit anonymeren Pflegebeziehungen kontrastiv vergleichen lassen.

  5. Über die prä-diagnostische Phase berichten die Angehörigen ausnahmslos als die schwierigste Zeit, weil vollständig offen bleibt, wie das ungewöhnliche und sonderbare Verhalten des Gegenübers einzuordnen ist.

Literatur

  • Berger, Peter L., und Hansfried Kellner. 1965. Die Ehe und die Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Abhandlung zur Mikrosoziologie des Wissens. Soziale Welt 16:220–235.

    Google Scholar 

  • Dunkin, Jennifer J., und Cay Anderson-Hanley. 1998. Dementia caregiver burden. A review of the literature and guidelines for assessment and intervention. Neurology 51:53–60.

    Article  Google Scholar 

  • Fontana, Andrea, und Ronald Smith. 1989. Alzheimer’s disease victims. The „unbecoming“ of self and the normalization of competence. Sociological Perspectives 32:35–46.

    Article  Google Scholar 

  • Garfinkel, Harold. 1963. A conception of, and experiments with, “Trust” as a condition of stable concerted actions. In: Motivation and social interaction. Cognitive determinants, Hrsg. O. J. Harvey, 187–238. New York: Ronald.

    Google Scholar 

  • Garfinkel, Harold. 1973. Das Alltagswissen über soziale und innerhalb sozialer Strukturen. In: Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit, Bd. 1 Symbolischer Interaktionismus und Ethnomethodologie, Hrsg. Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen, 189–214. Reinbek: Rowohlt.

    Google Scholar 

  • Garfinkel, Harold. 1984 [1967]. Studies in Ethnomethodology. Cambridge: Polity Press.

    Google Scholar 

  • Hitzler, Roland. 2012. Die rituelle Konstruktion der Person. Aspekte des Erlebens eines Menschen im sogenannten Wachkoma. Forum Qualitative Sozialforschung 13:Art. 12.

    Google Scholar 

  • ICD-10-GM. 2015. Psychische und Verhaltensstörungen. Organische, einschließlich symptomatischer psychischer Störungen. Abgerufen am 6. 11. 2014. www.dimdi.de/static/de/klassi/icd-10-gm/kodesuche/onlinefassungen/htmlgm2015/block-f00-f09.htm.

    Google Scholar 

  • Katona, Cornelius, et al. 2009. World psychiatric association section of old age psychiatry consensus statement on ethics and capacity in older people with mental disorders. International Journal of Geriatric Psychiatry 24:1319–1324. Abgerufen am 16. 5. 2015. www.wpanet.org/uploads/Sections/Old_Age_Psychiatry/ethics-paper-December-2009.pdf.

    Article  Google Scholar 

  • Klie, Thomas. 2005. Würdekonzept für Menschen mit Behinderung und Pflegebedarf, Balancen zwischen Autonomie und Sorgekultur. Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie 38:268–272.

    Article  Google Scholar 

  • Kotsch, Lakshmi, und Ronald Hitzler. 2013. Selbstbestimmung trotz Demenz? Ein Gebot und seine praktische Relevanz im Pflegealltag. Weinheim: Beltz Juventa.

    Google Scholar 

  • Lucius-Hoene, Gabriele, und Arnulf Deppermann. 2004. Narrative Identität und Positionierung. Gesprächsforschung 5:166–183.

    Google Scholar 

  • Meyer, Christian. 2014. Menschen mit Demenz als Interaktionspartner. Eine Auswertung empirischer Studien vor dem Hintergrund eines dimensionalisierten Interaktionsbegriffs. Zeitschrift für Soziologie 43:95–112.

    Article  Google Scholar 

  • Oevermann, Ulrich. 1981. Fallrekonstruktion und Strukturgeneralisierung als Beitrag der objektiven Hermeneutik zur soziologischstrukturtheoretischen Analyse. Unveröff. Manuskript.

    Google Scholar 

  • Pinquart, Martin, und Silvia Sörensen. 2003. Associations of stressors and uplifts of caregiving with caregiver burden and depressive mood. A meta-analysis. Journal of Gerontology B 58:P112–P128.

    Article  Google Scholar 

  • Pollner, Melvin. 1975. Mundanes Denken. In: Ethnomethodologie. Beiträge zu einer Soziologie des Alltagshandelns, Hrsg. Elmar Weingarten, Fritz Sack, und Jim Schenkein, 295–326. Frankfurt: Suhrkamp.

    Google Scholar 

  • Schütz, Alfred. 1971. Gesammelte Aufsätze, Bd. 1. Das Problem der sozialen Wirklichkeit. Nijhoff: Den Haag.

    Google Scholar 

  • Schütz, Alfred. 1972a [1944]. Der Fremde. In: Gesammelte Aufsätze, Bd. 2. Studien zur soziologischen Theorie, 53–69. Den Haag: Nijhoff.

  • Schütz, Alfred. 1972b [1946]. Der gut informierte Bürger. Ein Versuch über die soziale Verteilung des Wissens. In: Gesammelte Aufsätze, Bd. 2. Studien zur soziologischen Theorie, 85–101. Den Haag: Nijhoff.

  • Schütz, Alfred. 1972c [1954]: Don Quixote und das Problem der Realität. In: Gesammelte Aufsätze, Bd. 2. Studien zur soziologischen Theorie, 102–128. Den Haag: Nijhoff.

  • Schütz, Alfred. 1972d [1960]: Die soziale Welt und die Theorie der sozialen Handlung. In: Gesammelte Aufsätze, Bd. 2. Studien zur soziologischen Theorie, 3–21. Den Haag: Nijhoff.

  • Schütze, Fritz. 1980. Interaktionspostulate – am Beispiel literarischer Texte. Dostojewski, Kafka, Handke u. a.. In: Literatur und Konversation. Sprachsoziologie und Pragmatik in der Literaturwissenschaft, Hrsg. Ernest W. B. Hess-Lüttich, 72–94. Wiesbaden: Akademische Verlagsgesellschaft Athenaion.

    Google Scholar 

  • Strauss, Anselm, und Juliet Corbin. 1990. Basics of qualitative research. Grounded theory procedures and techniques. Newbury Park: Sage.

    Google Scholar 

  • Wilz, Gabriele, Corinne Adler, und Thomas Gunzelmann. 2001. Gruppenarbeit mit Angehörigen von Demenzkranken. Ein therapeutischer Leitfaden. Göttingen: Hogrefe.

    Google Scholar 

  • Zarit, Steven H., Karren E. Reever, und Julie Bach-Peterson. 1980. Relatives of the impaired elderly. Correlates of feelings of burden. The Gerontologist 20:649–655.

    Article  Google Scholar 

Download references

Danksagung

Ich danke Claudia Vorheyer, Stephanie Kernich, Sabrina Künzle und Manuela Schäfer sowie Alexander Leistner und Monika Wohlrab-Sahr für die ausführlichen Diskussionen. Bei Anke Jähnke bedanke ich mich für die redaktionelle Überarbeitung des Manuskripts.

Author information

Authors and Affiliations

Authors

Corresponding author

Correspondence to Andrea Radvanszky.

Rights and permissions

Reprints and permissions

About this article

Check for updates. Verify currency and authenticity via CrossMark

Cite this article

Radvanszky, A. Die Krisenhaftigkeit der Krise – Misslingende demenzielle Interaktionsprozesse. Österreich Z Soziol 41 (Suppl 1), 97–114 (2016). https://doi.org/10.1007/s11614-016-0208-8

Download citation

  • Published:

  • Issue Date:

  • DOI: https://doi.org/10.1007/s11614-016-0208-8

Schlüsselwörter

Keywords

Navigation