Zusammenfassung
In das Internet werden regelmäßig Hoffnungen hinsichtlich einer Transnationalisierung und Demokratisierung politischer Öffentlichkeiten gesetzt. Der vorliegende Beitrag diskutiert diese politiktheoretischen Annahmen und überprüft die Erwartungen anhand einer empirischen Analyse der Twitter-Kommunikation zu den Politikfeldern Netzpolitik (Netzneutralität) und Umweltpolitik (Klimawandel). Die Ergebnisse lassen eine Transnationalisierung von Twitter-Kommunikation erkennen, deren Ausprägung allerdings an politikfeldspezifische Charakteristika gebunden ist. Eine weitreichende Egalisierung politischer Beteiligung ist nicht festzustellen, da die klassischen medialen und politischen Gatekeeper in den themengebundenen Twitter-Netzwerken weiterhin eine zentrale Rolle einnehmen.
Abstract
The internet has been regarded as a medium with a potential to transnationalize and democratize political public spheres. The present article discusses these expectations and tests them empirically by analyzing twitter communication on two policy fields: net neutrality and climate change. The results show a transnationalization of political twitter communication; however, its degree depends on the specific structural characteristics of the policy fields. There are no indications of a substantial equalization of political participation, as the traditional gatekeepers from media and politics still maintain a central role in the twitter networks related to the two policy fields.
Notes
Für eine umfassende Einführung in Transnationalisierung als ein empirisch-soziologisches Forschungsprogramm siehe Pries (2010). Die Definition des Begriffspaars transnational/Transnationalisierung geht bei Pries über das hier anwendbare Verständnis hinaus, wenn es ihm um „relativ dauerhafte und dichte soziale Beziehungen, soziale Netzwerke oder Sozialräume“ (Hervorh. im Original, S. 13) geht.
Nationalstaat und Demokratie bilden für Guéhenno (1996, S. 156) als „Zwillingspaar“ das „Ideal“ des „europäische[n] Modell[s]“.
Empirisch betrachtet basiert diese Integrationsleistung natürlich zunächst auf einer Exklusion, sogar einem doppelt exklusiv aufeinander bezogenen Verhältnis von Nationalstaat und Nationalgesellschaft (Pries 2010, S. 19).
Scharfsinnig vorgetragen etwa von Kielmansegg (2013, S. 248): „Guéhennos These ist effektvoll, weil sie übertreibt, aber sie übertreibt“.
Diese Voraussetzungen sind in sozialen Netzwerken wie Facebook, die sich primär um soziale Verknüpfungen gruppieren, oder in der Blogosphäre nicht zwangsläufig gegeben. Für die Wahl von Twitter sprechen auch gewichtige forschungspragmatische Gründe wie die Öffentlichkeit der Kommunikation und die Zugänglichkeit der Daten (vgl. Abschn. 3.3). Freilich sollten die Ergebnisse der Studie unter dem Vorbehalt eines potentiellen „Platform Bias“ betrachtet werden.
Diese Hashtags sind die zentralen „Themen-Container“ für die transnationalen Debatten zu den beiden Politikfeldern. Themenspezifische Diskussionen ohne eine derartige Kennzeichnung eines Tweets sowie benachbarte Hashtag-Communities, die sich während Debatten herausbildeten, wie z. B. #OpenInternet werden von diesem Selektionskriterium nicht erfasst. Nur mit diesem konservativen Vorgehen ist eine gleichberechtigte Erfassung der beiden Politikfelder möglich.
Zum Hashtag #ClimateChange konnten wir 380.890 Tweets, zum Hashtag #NetNeutrality 503.839 Tweets erheben. Dabei gibt es keine wesentlichen Unterschiede in der Geolokation von Tweets zu #ClimateChange (54 %) und #NetNeutrality (56 %).
Generell unterliegt die Untersuchung sozialen Verhaltens im Internet einer mediumsinhärenten Unsicherheit (Boyd und Crawford 2012; Ruths und Pfeffer 2014). So ist das Streaming über die Twitter API auf ein Prozent des in Echtzeit produzierten Gesamtvolumens beschränkt. Diese Schwelle ist in der vorliegenden Studie zu keinem Zeitpunkt überschritten worden. Zudem begleiten die Kommunikation in sozialen Netzwerken sozialwissenschaftlich irrelevante und den Diskurs systematisch verzerrende Informationsflüsse, z. B. Spam und Beiträge von Bots. Die Accounts @All4NeutralNet und @RealNeutralNet der Aktivisten von Demand Progress wurden deshalb ausgeschlossen, da diese computergeneriert und in Dauerschleife Petitionen von Bürgern an republikanische Abgeordnete und Präsident Obama versendeten.
Deren Stellung im Netzwerk wurde berechnet auf Basis des PageRank-Algorithmus, der auch zur Skalierung der Größe der Labels verwendet wurde. Bei Verwendung des Betweenness Centrality-Algorithmus zeigen sich die Ergebnisse robust. Die grafische Anordnung der Netzwerke wurde mit Hilfe des Fruchtermann-Reingold-Layouts erstellt.
Abgebildet beispielsweise durch den folgenden Tweet des republikanischen Senators und Präsidentschaftskandidaten Ted Cruz: „‚Net Neutrality‘ is Obamacare for the Internet; the Internet should not operate at the speed of government.“.
Dieser kontraintuitive Befund sollte durch qualitative Datenanalysen plausibilisiert werden.
In diesem Analyseschritt werden nur geolokalisierte Tweets betrachtet. Zu beachten ist die jeweils unterschiedliche Skalierung der Abbildungen. Zusätzlich ist die Regressionsgerade zwischen beiden Variablen abgebildet.
Die höchsten PageRanks erreichen die Accounts @earthhour und @real_liam_payne. Earth Hour, eine vom WWF organisierte transnationale Koalition für den Umweltschutz, startete unter Einschluss von Liam Payne, einem Popsänger, eine internationale Kampagne während des Untersuchungszeitraums.
Dieser Befund weist den Weg zu weiteren, länderspezifischen Diskursanalysen.
Er erzeugte mit einem Musikvideo zum Umweltschutz große Resonanz.
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Schünemann, W.J., Steiger, S. & Stier, S. Transnationalisierung und Demokratisierung politischer Öffentlichkeit über Soziale Medien – ein Politikfeldvergleich. Z Vgl Polit Wiss 10 (Suppl 2), 233–257 (2016). https://doi.org/10.1007/s12286-016-0300-2
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