Zusammenfassung
Bislang ist wenig darüber bekannt, wie Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen den gegenwärtig hohen Anforderungen an frühpädagogisches Handeln – etwa Bildungsungleichheiten entgegenzuarbeiten – begegnen. Aus habitus- und professionstheoretischer Perspektive wird im Beitrag danach gefragt, wie die Fachkräfte auf der Basis ihres Habitus mit alltäglichen Handlungsanforderungen umgehen. Welche Grenzen und Möglichkeiten des Handelns werden deutlich? Datenbasis bilden acht qualitative Leitfadeninterviews sowie Beobachtungsdaten in zwei Fällen. Es zeigt sich, dass das pädagogische Denken und Handeln der Fachkräfte mit biographischen Erfahrungen verwoben und milieuspezifisch geprägt ist. Zuletzt werden Schlussfolgerungen für die frühpädagogische Professionsforschung und für Professionalisierung gezogen.
Abstract
At present pedagogical staff face high professional requirements in early childhood education and care settings, e. g. to reduce educational inequalities. However, to date findings on how they handle and meet these requirements are scarce. Arguing from a perspective of habitus theory and profession theory, this paper explores the staff’s different ways of tackling daily challenges for practice. Based on eight qualitative interviews and observations of two cases limitations and opportunities for the educators’ actions come to the fore. Furthermore, the paper reveals how the educators’ pedagogical actions are intertwined with individual experiences and influenced by their milieu-specific background. Finally, the author makes concluding remarks regarding early childhood education research and professionalization.
Notes
Professionalisierung wird hier im Sinne kollektiver und individueller Verberuflichung verstanden (Nittel und Seltrecht 2016).
Die Bedeutung der Biographie für berufliche Kontexte wird in verschiedenen pädagogischen Arbeitsfeldern beforscht (Kraul et al. 2002).
Einen Überblick über performativitätstheoretische Zugänge zu professionellem Handeln in der Frühpädagogik als Ergebnis von Situationen, an denen Körper, Dinge, Räume oder Artefakte beteiligt sind, bietet Cloos (2014).
Das bourdieusche Habituskonzept ist relational zu denken und enthält sowohl handlungstheoretische als auch gesellschafts- und sozialraumtheoretische Implikationen. Der vorliegende Beitrag konzentriert sich auf eine handlungstheoretische Lesart.
Helsper (2018) spricht in diesem Zusammenhang von einem familiären Herkunftshabitus, einem individuellen Habitus sowie von feldspezifischen Teilhabitusformen. Der Gesamthabitus umfasse alle genannten Formen (ebd., S. 122 f.).
Weniger in den Blick kommt damit die organisationskulturelle oder berufsfeldspezifische Ebene relevanter Handlungsbedingungen (Cloos 2014). So spricht bspw. Scherr (2018) von Professionalität als einem „Qualitätsmerkmal von Organisationen“ (ebd., S. 8). Professionalität (ausschließlich) als individuelle Eigenschaft zu sehen unterliegt der Gefahr, die Voraussetzungen professionellen Handelns zu verkennen (ebd., S. 9). Dies stellt eine durch die Konturierung des Forschungsgegenstands bedingte Begrenzung der angelegten Perspektive dar.
Helsper (2016) spricht im Kontext des Lehrer*innenhandelns von der Differenzantinomie (S. 115).
Das Konzept des professionellen Habitus stellt eine Möglichkeit dar zu untersuchen und zu beschreiben, wie die Bearbeitung feldspezifischer Probleme (adäquat) geschehen kann. Je nach professionstheoretischer Ausrichtung bezeichnet der professionelle Habitus eine Feld- und Handlungslogik bzw. den „Ausdruck einer geteilten Berufskultur“ (Dewe et al. 1992, S. 87) oder eine Handlungskompetenz, die im praktischen Vollzug eingeübt werden muss. In einer dritten Perspektive, die sich stärker für die Genese eines professionellen Habitus interessiert, tritt dieser als Produkt (vor-)beruflicher Sozialisation in Erscheinung. Hier wird am stärksten auf das bourdieusche Habituskonzept referiert, und hier schließt der vorliegende Beitrag an.
Die von der VolkswagenStiftung geförderte EDUCARE-Studie „Leitbilder ‚guter Kindheit‘ und ungleiches Kinderleben“ (Leitung: Prof. Dr. Tanja Betz, Laufzeit: 2010–2016) wurde an der Goethe-Universität Frankfurt/Main und im Forschungsverbund IDeA durchgeführt. Online verfügbar unter: www.educare.uni-frankfurt.de (abgerufen am 22.05.2018).
Etnographische Habitusanalysen in beruflichen Handlungsfeldern ermöglichen es, über die habituellen Orientierungen der Beteiligten hinauszugehen und diese in Relation zum Vollzug des Handelns, zu pädagogischen Ordnungen und (z. B. organisationalen) Kontexten zu untersuchen (Bischoff und Cloos 2018, angenommen). Diese Perspektive kann in der dem Beitrag zugrundeliegenden Dissertation nur angedeutet werden. Der Schwerpunkt liegt auf dem Interviewmaterial, das durch Beobachtungen flankiert wurde.
Grundlage für die Analyse waren die Volltranskripte der Interviews sowie ausgewählte verschriftlichte Handlungs- und Interaktionsverläufe von Videoaufzeichnungen des pädagogischen Alltags.
In der Dissertationsstudie wurden die Fälle im Zuge der habitushermeneutischen Interpretation auch sozialräumlich und milieuspezifisch verortet. Eine ausführliche Erläuterung des Vorgehens sowie zur Kombination von Dokumentarischer Methode und Habitushermeneutik findet sich in Bischoff (2017).
Alle personen- sowie einrichtungsbezogenen Daten wurden pseudonymisiert.
Die rekonstruktiv angelegte Interpretation des Falls erfolgt in der Dissertationsschrift (Bischoff 2017) auf ca. 40 Seiten. Frau Mindel wurde im Zuge der habitushermeneutischen Interpretation im modernen Arbeitnehmermilieu verortet (ebd., S. 220, 282). Aus Platzgründen muss die Falldarstellung hier ergebnisbezogen erfolgen.
Anführungszeichen markieren Zitate aus dem Datenmaterial des Falls.
Die Erzieher*innenausbildung schließt sie nach dem abgebrochenen Studium erfolgreich ab.
Insgesamt konnten für Frau Mindel vier habitusspezifische pädagogische Orientierungen rekonstruiert werden: Die Orientierung an Gemeinschaftlichkeit und sozialem Lernen (1), an Erfahrung (2), an Ganzheitlichkeit, Körper und Sinnlichem (3) und am Recht auf Selbstbestimmung und -erfahrung (4).
Frau Krohs wurde im Zuge der habitushermeneutischen Interpretation im modernen kleinbürgerlichen Arbeitnehmermilieu verortet, wobei ihr Habitus auch ambivalente Züge enthält (Bischoff 2017, S. 258, 282).
Insgesamt konnten für Frau Krohs vier habitusspezifische pädagogische Orientierungen rekonstruiert werden: Die Orientierung an individueller Entwicklung und bereichsspezifischem Lernen (1), an festen Ordnungsstrukturen und Funktionalität (2), an Regulierung von Verhalten und (Selbst‑)Kontrolle als Lernziel (3) und an Sprache, Wissen und überlegtem Handeln (4).
Das gewählte Beispiel (Kreissituation) ist eines aus einer Reihe von Beispielen, in denen Frau Krohs’ Orientierungen wiederholt sichtbar werden. Sequentiell nachvollzogen wird, wie Frau Krohs Dinge bearbeitet – wie etwa das gemeinsame Basteln von Weihnachtsschmuck – und welche Handlungs- und Interaktionsverläufe sich im Anschluss daran entwickeln.
So konnte bei der Durchführung eines Sprachförderprogramms durch Frau Mindel bspw. beobachtet werden, dass sich ein Kind der Situation entzog, ohne dass dies zu einer Intervention geführt hätte.
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Bischoff, S. Frühpädagogische Professionalität und Habitus – Analysen zum Denken und Handeln von Fachkräften in Kindertageseinrichtungen aus habitustheoretischer Perspektive. ZfG 11, 215–230 (2018). https://doi.org/10.1007/s42278-018-0020-6
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