Zusammenfassung
Der vorliegende Beitrag zielt darauf ab zu zeigen, dass die Theorie des rationalen Handelns (RCT) – entgegen weit verbreiteter Einschätzungen – in einem engen Verhältnis mit kultursoziologischen Fragestellungen steht. Grundlage dieses Unterfangens ist eine Definition von Kultur als Verteilung von deskriptiven und evaluativen Überzeugungen in der Bevölkerung, deren individuelle mentale Repräsentationen es ermöglichen, Objekte in der Welt mit Sinn bzw. Bedeutung zu versehen. Da die RCT darauf ausgerichtet ist, soziales Handeln im Allgemeinen unter Rückgriff auf individuelle Ziele (Präferenzen), Handlungseinschränkungen (Restriktionen) und Erwartungen über Handlungsfolgen zu erklären, müssen diese Elemente bei der Anwendung auf einen konkreten Erklärungsgegenstand durch die evaluativen (Präferenzen) bzw. deskriptiven (Restriktionen, Erwartungen) Überzeugungen von sozio-kulturell eingebetteten Akteuren spezifiziert werden. Insofern spielen kulturelle Phänomene innerhalb der RCT eine zentrale Rolle als Antezedenzbedingung des Handelns. Dies ist besonders der Fall, wenn man die Situationsgebundenheit menschlichen Handelns im Modell der Frame-Selektion – als realistische Modifikation der RCT – explizit modelliert und zusätzlich deskriptive Überzeugungen von Situationsdefinitionen (Frames) und evaluative Überzeugungen von Handlungsvorschriften (Skripte) miteinbezieht. Darüber hinaus können kulturelle Phänomene auch als Explananda von Handlungen im Sinne der RCT verstanden werden, wenn man das Erlernen und Anpassen von deskriptiven und evaluativen Überzeugungen als Entscheidung konzeptualisiert.
Access this chapter
Tax calculation will be finalised at checkout
Purchases are for personal use only
Notes
- 1.
In der philosophischen Semantik wird zwischen diesen beiden Begriffen klar unterschieden, wir verwenden sie hier synonym, werden aber in der Folge nur noch den Begriff der Bedeutung verwenden.
- 2.
- 3.
Grundsätzlich könnte man hier noch die Frage stellen, wie es aus einer akteurtheoretischen Perspektive überhaupt zu bedeutungsgleichen Überzeugungen kommen kann. Dazu gibt es eine Reihe von plausiblen Antworten, die aber nicht in den Gegenstandsbereich dieses Artikels fallen. Siehe hierzu vor allem die Arbeiten von Tomasello (2006, 2011), der auch in der Soziologie schon lange diskutierte Ideen aufgegriffen und in ein empirisches Forschungsprogramm übersetzt hat.
- 4.
Streng genommen ist die Maximierungs-Annahme nur eine von mehreren möglichen Entscheidungsregeln, nach denen Akteure auf der Grundlage von Präferenzen und Opportunitäten/Restriktionen eine Handlung auswählen. Alternativen wären z. B. „minimales Bedauern“, „satisficing“ (Diekmann und Voss 2004, S. 16; Schoemaker 1982) oder die vieldiskutierten Entscheidungsheuristiken (Goldstein 2009). Die Maximierungsregel wird jedoch bisher mit Abstand am häufigsten eingesetzt, sodass wir uns hier auf diese konzentrieren.
- 5.
Der Ausdruck der variablen Rationalität ist von Kroneberg (2005) aus unserer Sicht nicht günstig gewählt. Eigentlich geht es um das variable Ausmaß der Informationsverarbeitung. Im Prinzip können die Ergebnisse beider im MFS diskutierten Mechanismen den von Neumann-Morgenstern-Axiomen entsprechen, es können mit diesem Modell aber auch die Bedingungen angegeben werden, unter denen Akteure gegen diese Axiome verstoßen. Ein alternativer und einflussreicher Versuch der Formulierung einer Entscheidungstheorie unter Berücksichtigung von Abweichungen von den von Neumann-Morgenstern-Axiomen ist die Prospect Theorie (vgl. Jungermann et al. 2005).
Literatur
Bandura, Albert. 1977. Social learning theory. Englewood Cliffs: Prentice-Hall.
Betsch, Tilman. 2005. Wie beeinflussen Routinen das Entscheidungsverhalten. Psychologische Rundschau 56:261–270.
Braun, Norman. 2009. Rational Choice Theorie. In Handbuch soziologische Theorien, Hrsg. Georg Kneer und Markus Schroer, 395–418. Wiesbaden: VS Verlag.
Caves, Richard E. 2000. Creative industries: Contracts between art and commerce. Cambridge: Harvard University Press.
Chaiken, Shelly, und Yaacov Trope, Hrsg. 1999. Dual-process theories in social psychology. New York: Guilford Press.
Diekmann, Andreas, und Thomas Voss. 2004. Die Theorie rationalen Handelns. Stand und Perspektiven. In Rational-Choice-Theorie in den Sozialwissenschaften. Anwendungen und Probleme, Hrsg. Andreas Diekmann und Thomas Voss, 13–29. München: Oldenbourg.
Durkheim, Émile. 1976. Die Regeln der soziologischen Methode. Darmstadt: Luchterhand.
Esser, Hartmut. 1993. Soziologie. Allgemeine Grundlagen. Frankfurt a. M.: Campus.
Esser, Hartmut. 1996a. Die definition der situation. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 48:1–34.
Esser, Hartmut. 1996b. What is wrong with ‚variable sociology‘? European Sociological Review 12:159–166.
Esser, Hartmut. 1999. Soziologie. Spezielle Grundlagen. Band 1: Situationslogik und Handeln. Frankfurt a. M.: Campus.
Esser, Hartmut. 2000. Normen als Frames: Das Problem der „Unbedingtheit“ des normativen Handelns. In Normen und Institutionen: Entstehung und Wirkungen. Leipziger soziologische Studien, Hrsg. Regina Metze, Kurt Mühler und Karl-Dieter Opp, Bd. 2, 137–155. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag.
Esser, Hartmut. 2001. Soziologie. Spezielle Grundlagen. Band 6: Sinn und Kultur. Frankfurt a. M.: Campus.
Esser, Hartmut. 2003. Institutionen als „Modelle“. Zum Problem der „Geltung“ von institutionellen Regeln und zur These von der Eigenständigkeit einer „Logic of Appropriateness“. In Ökonomischer und soziologischer Institutionalismus. Interdisziplinäre Beiträge und Perspektiven der Institutionentheorie und -analyse, Hrsg. Michael Schmid und Andrea Maurer. Marburg: Metropolis.
Esser, Hartmut. 2010. Sinn, Kultur, Verstehen und das Modell der soziologischen Erklärung. In Kultursoziologie. Paradigmen, Methoden, Fragestellungen, Hrsg. Monika Wohlrab-Sahr, 309–335. Wiesbaden: VS Verlag.
Esser, Hartmut. 2011. Das Modell der Frame-Selektion. Eine allgemeine Handlungstheorie für die Sozialwissenschaften? In Soziologische Theorie kontrovers. 50. Sonderheft der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Hrsg. Gert Albert und Steffen Sigmund, 45–62. Wiesbaden: VS Verlag.
Evans, Jonathan S. 2008. Dual-processing accounts of reasoning, judgment, and social cognition. Annual Review of Psychology 59:255–278.
Fazio, Russel H. 1990. Multiple processes by which attitudes guide behavior: The MODE model as an integrative framework. Advances in Experimental Social Psychology 23:75–109.
Festinger, Leon. 1957. A theory of cognitive dissonance. Evanston: Row, Peterson.
Gallese, Vittorio, und Thomas Metzinger. 2003. Motor ontology. The representational reality of goals, actions and selves. Philosophical Psychology 16:365–388.
Gallese, Vittorio, Christian Keysers, und Giacomo Rizzolatti. 2004. A unifying view of the basis of social cognition. Trends in Cognitive Science 8:396–403.
Gerhards, Jürgen. 1989. Kleine Anfrage an eine Soziologie der Kultur. Österreichische Zeitschrift für Soziologie 14:4–11.
Godfrey-Smith, Peter. 2003. Theory and reality. An introduction to the philosophy of science. Chicago: University of Chicago Press.
Goldstein, Dan. 2009. Heuristics. In Handbook of analytical sociology, Hrsg. Peter Hedström und Peter Bearman, 140–167. Oxford: Oxford University Press.
Gosepath, Stefan. 2003. Eine einheitliche Konzeption von Rationalität. Ein Zugang aus Sicht der Analytischen Philosophie. In Zugänge zur Rationalität der Zukunft, Hrsg. Nicole C. Karafyllis und Christian C. Schmidt, 29–52. Stuttgart: J.B. Metzler.
Green, Donald P., und Ian Shapiro. 1996. Pathologies of rational choice theory. A critique of applications in political science. New Haven: Yale University Press.
Hedström, Peter. 2008. Anatomie des Sozialen – Prinzipien der analytischen Soziologie. Wiesbaden: VS Verlag.
Hempel, Carl Gustav. 1965. Aspects of scientific explanation and other essays in the philosophy of science. New York: Free Press.
Hempel, Carl G., und Paul Oppenheim. 1948. Studies in the logic of explanation. Philosophy of Science 15:135–175.
Henrich, Joseph, Robert Boyd, Samuel Bowles, Colin F. Camerer, Ernst Fehr, Herbert Gintis, und Richard McElreath. 2001. In search of homo economicus: Behavioral experiments in 15 small-scale societies. American Economic Review 91:73–78.
Henrich, Joseph, Robert Boyd, Samuel Bowles, Colin F. Camerer, Ernst Fehr, und Herbert Gintis. 2004. Foundations of human sociality. Economic experiments and ethnographic evidence from fifteen small scale societies. Oxford: Oxford University Press.
Jungermann, Helmut, Hans-Rüdiger Pfister, und Katrin Fischer. 2005. Die Psychologie der Entscheidung: Eine Einführung. München: Spektrum.
Kroneberg, Clemens. 2005. Die Definition der Situation und die variable Rationalität der Akteure. Zeitschrift für Soziologie 34:344–363.
Kroneberg, Clemens. 2011. Die Erklärung sozialen Handelns. Grundlagen und Anwendung einer integrativen Theorie. Wiesbaden: VS Verlag.
Kunz, Volker. 2004. Rational choice. Frankfurt a. M.: Campus.
Liberman, Varda, Steven M. Samuels, und Ross Lee. 2004. The name of the game: Predictive power of reputations versus situational labels in determining prisoner’s dilemma game moves. Personality and Social Psychology Bulletin 30:1175–1185.
Lindenberg, Siegwart. 1996. Die Relevanz theoriereicher Brückenannahmen. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 48:126–140.
Lizardo, Omar. 2007. „Mirror neurons“, collective objects and the problem of transmission: Reconsidering Stephen Turner’s critique of practice theory. Journal for the Theory of Social Behaviour 37:319–350.
Maurer, Andrea, und Michael Schmid. 2010. Erklärende Soziologie. Grundlagen, Vertreter und Anwendungsfelder eines soziologischen Forschungsprogramms. Wiesbaden: VS Verlag.
Opp, Karl-Dieter. 1999. Contending conceptions of the theory of rational action. Journal of Theoretical Politics 11:171–202.
Otte, Gunnar. 2012. Programmatik und Bestandsaufnahme einer empirisch-analytischen Kunstsoziologie. Sociologia Internationalis 50:115–143.
Prim, Rolf, und Heribert Tilmann. 1977. Grundlagen einer kritisch-rationalen Sozialwissenschaft. Heidelberg: UTB.
Rössel, Jörg. 2011. Soziologische Theorien in der Lebensstilforschung. In Lebensstilforschung. Sonderband 51 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Hrsg. Jörg Rössel und Gunnar Otte, 35–61, Wiesbaden: VS Verlag.
Savage, Leonard J. 1954. The foundation of statistics. New York: Wiley.
Schoemaker, Paul J. H. 1982. The expected utility model: Its variants, purposes, evidence and limitations. Journal of Economic Literature 20:529–563.
Stocké, Volker. 2002. Framing und Rationalität. Die Bedeutung der Informationsdarstellung für das Entscheidungsverhalten. München: Oldenbourg.
Tomasello, Michael. 2006. Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens. Frankfurt: Suhrkamp.
Tomasello, Michael. 2011. Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation. Frankfurt: Suhrkamp.
Udehn, Lars. 2001. Methodological individualism. Background, history and meaning. London: Routledge.
Udehn, Lars. 2002. The changing face of methodological individualism. Annual Review of Sociology 28:479–507.
von Neumann, John, und Oskar Morgenstern. 1944. Theory of games and economic behaviour. Princeton: Princeton University Press.
Wildavsky, Aaron. 1994. Why self-interest means less outside of a social context. Cultural contributions to a theory of rational choice. Journal of Theoretical Politics 6:131–159.
Wilson, Margret. 2002. Six views of embodied cognition. Psychonomic Bulletin & Review 9:625–636.
Author information
Authors and Affiliations
Corresponding author
Editor information
Editors and Affiliations
Rights and permissions
Copyright information
© 2019 Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature
About this chapter
Cite this chapter
Rössel, J., Weingartner, S. (2019). Rational Choice-Theorie in der Kultursoziologie. In: Moebius, S., Nungesser, F., Scherke, K. (eds) Handbuch Kultursoziologie. Springer Reference Sozialwissenschaften. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-07645-0_5
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-658-07645-0_5
Published:
Publisher Name: Springer VS, Wiesbaden
Print ISBN: 978-3-658-07644-3
Online ISBN: 978-3-658-07645-0
eBook Packages: Social Science and Law (German Language)