Zusammenfassung
Gerade die Epoche, die von den Historikern auch das bürgerliche Zeitalter genannt worden ist, bringt für die Geschichte der Rhetorik als wissenschaftlicher Disziplin einschneidende Veränderungen. Beschreiben kann man sie als komplexe Verflechtung von Wandel, Transformation und Verdrängung. Den wissenschaftlichen Einfluß in Hochschule und Schule verliert die Rhetorik, die ihr gewidmeten Lehrstühle werden bald von Germanisten und Historikern, Philosophen und sogar Naturwissenschaftlern besetzt, und die Literatur im weitesten Verständnis (von der Poesie bis zur wissenschaftlichen Abhandlung, von der Parlamentsrede bis zu Drama und Roman) löst sich von ihrem rhetorischen Begriff, wird Gegenstand anderer, problem- und sachbezogener Disziplinen, denen die Wirkungsintention und Formkultur der geschriebenen oder gesprochenen Rede entweder gleichgültig oder nur in der Stilanalyse zugänglich sind. Diese Unterbrechung in der Wissenschaftsgeschichte der Rhetorik hängt gewiß mit der Spezialisierung des Wissens zusammen, die überhaupt eine Errungenschaft des 19. Jahrhunderts ist und sich nicht nur auf Deutschland beschränkt; andererseits ist hier die Ablehnung der Rhetorik besonders kraß, so daß noch spezifische Ursachen hinzukommen, wie fehlende demokratische Überlieferung, Kultur der Innerlichkeit und Zerstörung der Vernunft — Schlagworte, die zwar auch Teilerklärungen geben, aber so pauschal nicht stimmen. Hier öffnet sich noch ein weites Feld für detaillierte, auch kulturvergleichende Untersuchungen. Fest steht aber zweifellos, daß die Phänomene, für welche die Rhetorik die zuständige Theorie darstellt, im 19. Jahrhundert an Bedeutung sogar noch gewonnen haben, denn es ist nicht nur das Zeitalter des Liberalismus, sondern auch der Massenorganisation, nicht nur die Epoche der l’art-pour-l’art-Ästhetik, sondern auch der Propaganda und zweckgerichteten Pressebotschaften.
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Anmerkungen
Dolf Sternberger: Gerechtigkeit für das neunzehnte Jahrhundert. Zehn historische Studien. Frankfurt a.M. 1975, S. 17.
Helmut Schanze: Einleitun. In: Ders. (Hg.): Rhetorik. Beiträge zu ihrer Geschichte in Deutschland vom 16.–20. Jahrhundert. Frankfurt a.M. 1974, S. 16.
Gert Ueding: Rhetorik der Ta. Ludolf Wienbargs Ästhetische Feldzüge. In: Literatur in der Demokratie. Für Walter Jens zum 60. Geburtstag. Hg. v. Wilfried Barner, Martin Gregor-Dellin, Peter Härtling u. Egidius Schmalzriedt. München 1983, S. 342.
Gregor Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Werke in zwanzig Bänden. Frankfurt a.M. 1970, Bd. 7, S. 28.
Novalis: Das philosophische Werk I. In: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Zweite, nach den Handschriften erg., erw. u. verb. Aufl. in 4 Bden. u. e. Begleitband. Hg. v. Paul Kluckhohn u. Richard Samuel. Darmstadt 1965, Bd. 2, S. 535.
Marcus Tullius Cicero: Vom Redner (De oratore). Übers. u. hg. v. Raphael Kühner. München (1962), S. 55.
Friedrich Schlegel: Kritische Schrifte. Hg. v. Wolfdietrich Rasch. 3., durch e. Namen-und Begriffsregister erw. Aufl. München 1971, S. 42.
Vgl. Helmut Schanze: Romantik und Rhetorik. Rhetorische Komponenten der Literaturprogrammatik um 1800. In: Ders. (Hg.), Rhetorik, S. 135.
Friedrich Schlegel: Philosophische Lehrjahre 1796–1828, nebst philosophischen Manuskripten aus den Jahren 1796–182. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Bd. 19. Mit Einl. u. Kommentar hg. v. Ernst Behler. Paderborn 1971, S. 25.
Pseudo-Longinos: Vom Erhabenen. Griech. u. dt. Übers. u. hg. v. Reinhardt Brandt. Darmstadt 1966, S. 99.
Adam Müller: Zwölf Reden über die Beredsamkeit und deren Verfall in Deutschland. Mit e. Essay u. e. Nachw. v. Walter Jens. Frankfurt a.M. 1967, S. 127.
Franz Theremin: Die Beredsamkeit eine Tugend, oder Grundlinien einer Systematischen Rhetorik. 2., verb. Aufl. Berlin 1837, S. 20.
Ludwig Uhland: Poetologische Schrifte. In: Werke. 4 Bde. Hg. v. Hartmut Fröschle u. Walter Scheffler. Bd. 4: Wissenschaftliche und poetologische Schriften, politische Reden und Aufsätze. München 1984, S. 613.
Vgl. Friedrich Sengle: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815–1848. Bd. 1: Allgemeine Voraussetzungen, Richtungen, Darstellungsmittel. Stuttgart 1971, S. 594ff.
Carl Friedrich von Rumohr: Schule der Höflichkei. Für Alt und Jung. Stuttgart und Tübingen 1834. Nachdr. Stuttgart 1982, S. 51.
Otto Friedrich Rammler: Universal-Briefsteller oder Musterbuch zur Abfassung aller in den allgemeinen und freundschaftlichen Lebensverhältnissen sowie im Geschäftsleben vorkommenden Briefe, Documente und Aufsätze. 40., bearb. Aufl. Leipzig 1867, S. 51.
Wilhelm Scherer: Poetik. Mit e. Einl. u. Materialien zur Rezeptionsanalyse hg. v. Gunter Reiß. Tübingen 1977, S. 27.
Oskar Walzel: Wilhelm Scherer und seine Nachwelt. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 55 (1930), S. 391–400; S. 397.
Vgl. Aristoteles: Rhetorik. Die Lehrschriften. Hg., übertr. u. erl. v. Paul Gohlke. Paderborn 1959, S. 27ff.
Marcus Fabius Quintilian: Ausbildung des Redners. Lat. u. dt. Hg. u. übers. v. Helmut Rahn. 2 Bde. Darmstadt 1972 u. 1975, Bd. 1, S. 291f.
Adam Müller: Vorlesungen über die deutsche Wissenschaft und Literatur. Kritische, ästhetische und philosophische Schriften. 2 Bde. Hg. v. Walter Schroeder u. Werner Siebert. Neuwied und Berlin 1967, Bd. 1, S. 47.
Friedrich Schlegel: Philosophische Vorlesungen (1800–180. Erster Teil. Mit Einl. u. Kommentar hg. v. Jean-Jacques Anstett. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hg. v. Ernst Behler. 2. Abt., Bd. 12. Paderborn 1964, S. 313.
Karl Gutzkow: Vertheidigung gegen Menzel und Berichtigung einiger Urtheile im Publikum. Mannheim 1835, S. 23.
Heinrich Heine: Zur Geschichte der neueren schönen Literatur in Deutschland. In: Sämtliche Schriften in 12 Bänden. Hg. v. Klaus Briegleb. München 1976, Bd. 6, S. 869.
Ludolf Wienbarg: Ästhetische Feldzüge. Hg. v. Walter Dietze. Berlin und Weimar 1964, S. 3.
Georg Gottfried Gervinus: Grundzüge der Historik. Schriften zur Literatur. Hg. v. Gotthard Erler. Berlin 1962, S. 49–103; § 39.
Hermann Hettner: Die romantische Schule in ihrem inneren Zusammenhang mit Goethe und Schiller. Braunschweig 1850, S. 32.
Julian Schmidt: Geschichte des geistigen Lebens in Deutschland von Leibniz bis auf Lessings Tod. 1681–1781. Leipzig 1862. Vorrede.
Vgl. dazu Helmut Heiber: Die Rhetorik der Paulskirche. Phil. Diss. Berlin 1953.
Propyläen Weltgeschichte. Eine Universalgeschichte. Bd. 8: Das neunzehnte Jahrhundert. Hg. v. Golo Mann. Berlin, Frankfurt a.M., Wien 1976, S. 557f.
Die politischen Reden des Fürsten Bismarck: Historisch-kritische Gesamtausgabe. Hg. v. Horst Kohl. Bd. 3: 1866–1868. Stuttgart 1892, S. 22f.
Karl Liebknecht. Zit. n. Adolf Damaschke: Geschichte der Redekunst. Eine erste Einführung. Jena 1921, S. 317.
Die politischen Reden des Fürsten Bismarck. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Hg. v. Horst Kohl. Bd. 7: 1877–1879. Stuttgart 1893, S. 199.
T. Klein (Hg.): Der Kanzler. Otto von Bismarck in seinen Briefen, Reden und Erinnerungen, sowie in Berichten und Anekdoten seiner Zeit. München 1915, S. 260.
Karl Salomo Zachariä: Anleitung zur Gerichtlichen Beredsamkeit. Heidelberg 1810, S. VIIf.
Hermann Ortloff: Die gerichtliche Redekunst. Berlin und Neuwied o.J. [1887], S. VII.
Friedrich Schleiermacher: Sämtliche Werk. Berlin 1834–62. I. Abth., Bd. 13, S. 248.
Franz Theremin: Die Beredsamkeit eine Tugend, oder Grundlinien einer systematischen Rhetorik. 2., verb. Aufl. Berlin 1837, S. 25.
Joseph Jungmann: Theorie der geistlichen Beredsamkeit. 2 Bde. Freiburg 31895, Bd. 1, S. 54.
Oskar L. B. Wolff: Handbuch der geistlichen Beredsamkeit. Leipzig 1849, S. 24.
Sengle: Biedermeierze. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815–1848. 3 Bde. Bd. 2: Die Formenwelt. Stuttgart 1972, S. 187.
Johann Wolfgang von Goethe: Schriften zur Literatur. In: Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche. Hg. v. Ernst Beutler. Bd. 14. Zürich 1950, S. 391f.
Karl May: Ich. Radebeul bei Dresden 1916, S. 11.
Karl Barth: Geschichte der protestantischen Theologie im 19. Jahrhundert. Ihre Vorgeschichte und ihre Geschichte. 2., verb. Aufl. Zollikon-Zürich 1952, S. 379. Der Satz stammt von Schleiermacher selbst und ist auf Friedrich den Großen gemünzt.
Manfred Fuhrmann: Rhetorik und öffentliche Red. Über die Ursachen des Verfalls der Rhetorik im ausgehenden 18. Jahrhundert. Konstanz 1983, S. 23.
Friedrich Thiersch: Ueber gelehrte Schulen, mit besonderer Rücksicht auf Bayern. 3 Bde. Stuttgart u. Tübingen 1826–1829, Bd. 1, S. 314–317.
L. Wiese (Hg.): Verordnungen und Gesetze für die höheren Schulen in Preußen. Erste Abtheilung: Die Schule. Berlin 1867, S. 56.
Karl Ferdinand Becker: Der deutsche Stil. Frankfurt a.M. 1948, S. 84.
Ernst Laas: Der deutsche Unterricht auf höheren Lehranstalten. Ein kritisch-organisatorischer Versuch. Berlin 1872, S. 201.
Ernst Laas: Der deutsche Aufsatz in der ersten Gymnasialclasse (Prima). Ein Handbuch für Lehrer und Schüler enthaltend Theorie und Materialien. Zusammengestellt aus den Erträgen und Erfahrungen des Unterrichts. Berlin 1862, S. 139.
H. Kratz (Hg.): Die Lehrpläne und Prüfungsordnungen für die höheren Schulen in Preußen vom 6. 1. 1892 und 12. 9. 1898. 2., verm. Aufl. Neuwied u. Leipzig o.J., S. 19.
Theodor Fontane: Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Die Grafschaft Ruppin. In: Werke und Schriften Bd. 46. Hg. v. Walter Keitel und Helmuth Nürnberger. Frankfurt a.M., Berlin, Wien 21984, S. 521f.
Felix Dahn: Kampf um Rom. Darmstadt 1956, S. 24.
Jacob Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen. Mit e. Nachw. hg. v. Rudolf Marx. Stuttgart 1935, S. 209.
Vgl. Joachim Goth: Nietzsche und die Rhetorik, Tübingen. 1970.
Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches. 2 Bde. In: Werke. Hg. v. Karl Schlechta. Frankfurt a.M., Berlin, Wien 1972, Bd. 1, S. 931.
Friedrich Nietzsche: Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre. In: Werke. Hg. v. Karl Schlechta. Frankfurt a.M., Berlin, Wien 1972, Bd. 4, S. 261.
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Ueding, G., Steinbrink, B. (2011). Ubiquität der Rhetorik Vom Verfall und Weiterleben der Beredsamkeit im 19. Jahrhundert. In: Grundriß der Rhetorik. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-00726-1_6
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