Hintergrund

Der Schlaganfall stellt weltweit eine der häufigsten Ursachen für Tod und Behinderung dar [8]. Auch in Deutschland ist ein jährlicher Anstieg der Fallzahlen stationär behandelter Schlaganfallpatienten zu beobachten [26]. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes wurden im Jahr 2017 bundesweit über 264.000 Fälle mit der Hauptdiagnose Schlaganfall stationär im Krankenhaus behandelt [7]. Davon handelte es sich bei etwa 227.000 (86,1 %) Fällen um Patienten mit einem akuten Hirninfarkt. Hinzu kamen weitere ca. 106.000 Fälle mit der Hauptdiagnose transiente ischämische Attacke (TIA).

All diese Patienten sollten Anspruch auf eine optimale medizinische Behandlung auf einer qualifizierten Schlaganfallstation haben, da die Akutbehandlung auf einer Stroke-Unit (SU) einen nachweislich positiven Effekt auf den Krankheitsverlauf hat [16]. Durch stetiges Wirken u. a. der Deutschen Schlaganfall-Gesellschaft (DSG) auf die bestehenden Versorgungsprozesse (Zertifizierungsverfahren etc.) ist mit bundesweit 333 zertifizierten SU (Stand Mai 2020) inzwischen ein sehr hoher Durchdringungsgrad erreicht worden [32].

Darüber hinaus beinhaltet die Deutsche Leitlinie zur Therapie des akuten Hirninfarkts neben der seit 2000 zugelassenen intravenösen Thrombolyse (IVT) seit 2015 mit der mechanischen Thrombektomie (MT) eine weitere sehr zeitkritische Therapieoption [22]. Noch vor Aufnahme der MT in die Leitlinien war in Deutschland ein stetiger Anstieg der MT-Prozeduren mit Formierung überregionaler Interventionszentren und lokaler neurovaskulärer Netzwerke zu verzeichnen [13]. Trotz einer beeindruckenden stetigen Zunahme der Anzahl bundesweit durchgeführter Thrombektomien und einer gerade im internationalen Vergleich sehr hohen bundesweiten MT-Rate von 4,7 % bereits im Jahr 2016 zeigten sich in Abhängigkeit vom Wohnort der Patienten signifikante regionale Unterschiede in den Behandlungsraten [25].

Somit stellt die flächendeckende Verfügbarkeit der leitliniengerechten Therapieoptionen mit der Notwendigkeit einer unmittelbaren Einleitung für alle infrage kommenden Patienten unabhängig vom Wohnort eine große organisatorische und gesundheitspolitische Herausforderung dar. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es sich gerade bei der MT um ein kompliziertes interventionelles Verfahren handelt, welches in der Regel nur Zentren mit entsprechender Erfahrung (wenigstens >50 MT pro Jahr) und darin ausgebildeten neuroradiologischen Interventionalisten (z. B. Zertifizierung Modul E der Deutschen Gesellschaft für Neuroradiologie [DGNR]) vorbehalten sein sollte [4, 20, 22].

Die vorliegende Untersuchung hat zum Ziel, durch die Analyse administrativer Versorgungsdaten aus den 412 Kreisen und kreisfreien Städten Deutschlands ein Update der bundesweiten Versorgungsrealität mit den aktuellsten Datensätzen aus dem Berichtsjahr 2018 mit Blick auf die Anwendung der in den Leitlinien empfohlenen Therapien des akuten Hirninfarkts (SU-Behandlung, IVT, MT) zu geben. Einen besonderen Schwerpunkt soll dabei der Vergleich zwischen ländlichen und städtischen Regionen bilden, sodass diese aktualisierte Auswertung als mögliche Grundlage für weitere gezielte regionale oder überregionale Versorgungsplanungen dienen kann. Bei zunehmender Evidenz für den Nutzen einer MT bei selektierten Patienten auch außerhalb des üblichen Zeitfensters von 6 h nach Beginn der Symptomatik [3, 19] erfolgt zudem erstmalig eine detaillierte Untersuchung zur dynamischen Entwicklung einer reinen MT ohne die Kombination mit einer IVT im Vergleich zu einer sog. „Bridging“-Therapie (kombinierte IVT und MT) in den Jahren 2016 bis 2018.

Untersuchungsmethoden

Die vorliegende Analyse erfolgt auf Basis der DRG(„diagnosis related groups“)-Statistik (www.destatis.de). Die Daten wurden jeweils regionalisiert und nach Wohnort der Patienten auf der Verwaltungsebene Kreis bzw. kreisfreie Stadt aggregiert. Die Erfassung der Hirninfarkte erfolgte über den ICD-10-GM(International Classification of Diseases and Related Health Problems 10 German Modification)-Code I63 (Hirninfarkt). Die Behandlungsraten wurden über die Kombination der Hauptdiagnose I63 und dem OPS(Operationen- und Prozedurenschlüssel)-Code 8‑020.8 (systemische Thrombolyse), dem OPS-Code 8‑836.80 (perkutan-transluminale Gefäßintervention, Thrombektomie: Gefäße intrakraniell) sowie den OPS-Codes 8‑981.-/8-98b.- (Komplexbehandlung des akuten Schlaganfalls) erfasst.

Die Fallzahlen der DRG-Statistik wurden um erfolgte Verlegungen zwischen Kliniken, die mit dem Entlassungsschlüssel 06 („Verlegung in ein anderes Krankenhaus“) erfasst werden, bereinigt. Dadurch wird vermieden, dass sog. „Stundenfälle“, die nach stationärer Erstaufnahme zu einer Akutbehandlung (z. B. mechanische Thrombektomie) in ein anderes Krankenhaus verlegt werden, oder Sekundärverlegungen in eine andere Klinik zur neurologischen oder geriatrischen Frührehabilitation, doppelt gezählt werden. Dieses würde zu einem entsprechenden Bias bei der Berechnung der Behandlungsraten führen.

Die Quote für die Bridging-Lyse wurde aus Addition der Fallzahlen Hauptdiagnose I63 mit OPS 8‑020.8 und 8‑836.80 und der Fallzahlen Stundenfälle Hauptdiagnose I63 mit OPS 8‑020.8 (ohne Entlassungsschlüssel 07; Tod) berechnet.

Für den Vergleich zwischen ländlichen und städtischen Regionen erfolgte die Kategorisierung der 412 Kreise und kreisfreien Städte nach der aktuellen Definition des Statistischen Amtes der Europäischen Union (Eurostat) in Bezug zu dem jeweiligen Grad der Urbanisierung [29]:

Dabei werden im ersten Schritt die Flächen in quadratische Rasterzellen von 1 km2 aufgeteilt. Rasterzellen mit einer Bevölkerungsdichte >500 Einwohner/km2 und einer Einwohnerzahl >50.000 werden als „urbanes Zentrum“, Rasterzellen mit einer Bevölkerungsdichte >300 Einwohner/km2 und einer Einwohnerzahl >5000 werden als „urbanes Cluster“ und Rasterzellen mit einer Bevölkerungsdichte <300 Einwohner/km2 werden als „ländlich“ definiert. Die Kategorisierung bzw. Typologisierung des Landkreises erfolgt dann in einem zweiten Schritt:

  • Typ 1 („städtisch bzw. hohe Bevölkerungsdichte“), wenn mindestens 50 % der Bevölkerung in urbanen Zentren leben,

  • Typ 2 („mittlere Bevölkerungsdichte“), wenn mindestens 50 % der Bevölkerung in urbanen Clustern und weniger als 50 % in urbanen Zentren leben sowie

  • Typ 3 („ländlich, bzw. dünn besiedelte Gebiete“), wenn mindestens 50 % der Bevölkerung in ländlichen Rasterzellen leben [30].

Statistische Analyse

Es erfolgte eine vorwiegend deskriptive statistische Darstellung der Versorgungsvariablen. Wo es sinnvoll ist, wurden einzelne Parameter mittels χ2-Test auf statistische Signifikanz hin geprüft. Korrelationen wurden in Abhängigkeit von der Variablenskalierung mittels Bravais-Pearson-Korrelation bzw. mittels Spearman-Rangkorrelation geprüft. Die Kalkulation der gepoolten Effektstärken erfolgte mittels „random-effects model“ (DerSimonian and Laird). Heterogenität zwischen den Subgruppen wurde mittels Cochrane Q und I2-Statistik ermittelt. Statistische Auswertungen erfolgten mittels Stata Statistical Software Release 16 for Windows (College Station, TX, StataCorp LP).

Ergebnisse

Bundesweite und länderspezifische Auswertung

Im Jahr 2018 wurden bundesweit 224.647 stationäre Patientenfälle mit der Hauptdiagnose I63 (akuter Hirninfarkt) und registriertem Wohnsitz in Deutschland kodiert. Innerhalb dieser Patientengruppe wurde bundesweit eine IVT in 36.790 Fällen, eine MT in 14.623 Fällen und eine Komplexbehandlung des akuten Schlaganfalls (Stroke-Unit-Behandlung, SU) in 165.629 Fällen kodiert. Dies entspricht einer bundesweiten IVT-Rate von 16,4 %, einer bundesweiten MT-Rate von 6,5 % und einer bundesweiten SU-Behandlungsrate von 73,7 %. Bei den SU-Behandlungen handelte es sich in 89,8 % der Fälle (n = 148.778) um die Kodierung einer „neurologischen Komplexbehandlung (OPS 8‑981)“ und in 10,2 % der Fälle (n = 16.851) um die Kodierung einer „anderen Komplexbehandlung (OPS 8‑98b)“.

Der Vergleich zwischen den 16 Bundesländern (Angaben jeweils auf Gesamtebene des Bundeslandes) ergab hohe Streubreiten sowohl für die SU-Rate (Minimum Sachsen mit 62,7 % bis Maximum Schleswig-Holstein mit 79,7 %) als auch für die IVT-Rate (Minimum Sachsen mit 13,3 % bis Maximum Nordrhein-Westfalen mit 17,9 %) und für die MT-Rate (Minimum Sachsen-Anhalt mit 4,2 % bis Maximum Nordrhein-Westfalen mit 7,7 %; Tab. 1).

Tab. 1 Therapieprozeduren bei Patienten mit akutem Hirninfarkt in Abhängigkeit vom Bundesland (Wohnort des Patienten)

Im Vergleich zu den jeweiligen bundesweiten Raten aus den Jahren 2012 bis 2017 [7, 12] sind für die Raten der Rekanalisationstherapien IVT und MT weiter zunehmende Werte zu verzeichnen, wohingegen für die SU-Rate ein Ceiling-Effekt zu beobachten ist (Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Entwicklung der Raten für SU-Behandlung, IVT und MT von 2012 bis 2018. IVT intravenöse Thrombolyse, MT mechanische Thrombektomie, STL systemische Thrombolyse, SU Stroke-Unit

Anteil an kombinierten Behandlungen („Bridging-Lysen“)

Von den Patientenfällen mit der Hauptdiagnose I63 und MT, welche als Direktzuweisung in ein Interventionszentrum verbracht wurden, erhielten im Jahr 2018 4825 Fälle neben einer MT eine zusätzliche IVT im Sinne einer „Bridging-Therapie“ (Kombination Hauptdiagnose I63 + OPS 8‑020.8 + OPS 8‑836.80). Zudem finden sich weitere 2925 Patientenfälle mit der Hauptdiagnose „akuter Hirninfarkt“ und zusätzlicher Durchführung einer IVT, welche als „Stundenfälle“ direkt in ein weiteres Krankenhaus verlegt wurden und in die DRG B70I gruppiert worden sind. Unter der Annahme, dass diese Patienten unter laufender IVT zur Durchführung einer MT in ein Interventionszentrum verlegt worden sind, ergibt sich für das Jahr 2018 eine Gesamtzahl von 7750 Patientenfällen, die eine kombinierte Behandlung aus IVT und MT erhalten haben. Dies entspricht bei der Gesamtzahl von 14.623 MT einem Anteil an „Bridging-Lysen“ von 53,0 %. Im Vergleich zu entsprechenden Kalkulationen aus den 2 Vorjahren ist ein relativer Rückgang des Anteils an Kombinationsbehandlungen, ausgehend von 64,2 % im Jahr 2016, um 11,2 %-Punkte zu verzeichnen (Tab. 2).

Tab. 2 Kalkulationen zum Anteil an kombinierter Behandlung von systemischer Thrombolyse und mechanischer Thrombektomie („Bridging-Lysen“)

Auf den Wohnort bezogene Behandlungsraten

Die auf den Wohnort des Patienten bezogene und auf Kreisebene regionalisierte Analyse der administrativen Daten erbrachte für das Jahr 2018 eine mittlere Fallzahl von 560 Hirninfarkten pro Kreis bzw. kreisfreier Stadt. Regionsspezifisch zeigte sich eine große Streubreite von 89 Fällen in der kreisfreien Stadt Zweibrücken bis zu 8468 Fällen in der Bundeshauptstadt Berlin (Info: die 12 Berliner Bezirke sind hier zu einer administrativen Einheit zusammengefasst).

Bezogen auf die spezifisch für 412 Kreise bzw. kreisfreie Städte errechneten Raten ergaben sich für alle drei Prozeduren sehr hohe Streubreiten:

Die SU-Behandlungsrate zeigte bei einem Mittelwert von 72,2 ± 13,0 % hohe Streuungsbreiten von 14,9 % (45/302) der Fälle bis zu einem Maximum von 96,4 % (271/281) der Fälle. Eine SU-Rate von <50 % ergab sich in 34 (8,2 %), eine SU-Rate von >85 % in 33 (8,0 %) der bundesweit 412 administrativen Einheiten (Abb. 2).

Abb. 2
figure 2

Graphische Darstellung der nach Wohnort des Patienten und auf die 412 Kreise bzw. kreisfreien Städte aggregierte Daten der SU-, IVT- und MT-Raten 2018. a SU-Rate: Mittelwert = 72,2 %; b IVT-Rate: Mittelwert = 16,3 %; c MT-Rate: Mittelwert = 6,2 %. IVT intravenöse Thrombolyse, MT mechanische Thrombektomie, SU Stroke-Unit

Die IVT-Rate ergab bei einem Mittelwert von 16,3 ± 4,2 % hohe Streuungsbreiten von 5,2 % (9/174) der Fälle bis 30,7 % (112/365) der Fälle. Eine IVT-Rate von <10 % ergab sich in 17 (4,1 %), eine IVT-Rate von >20 % in 73 (17,7 %) der bundesweit 412 administrativen Einheiten (Abb. 2).

Die MT-Rate ergab bei einem Mittelwert von 6,2 ± 2,3 % hohe Streuungsbreiten von 0,9 % (2/235) der Fälle bis 14,4 % (140/973) der Fälle. Eine MT-Rate von <3 % ergab sich in 26 (6,3 %), eine MT-Rate von >10 % in 24 (5,8 %) der bundesweit 412 administrativen Einheiten (Abb. 2).

Die Analyse der jeweiligen Raten nach Zuordnung der 412 Kreise und kreisfreien Städte zum jeweiligen Bundesland ergab eine jeweils hochsignifikante Heterogenität zwischen den einzelnen Bundesländern in allen drei analysierten Akutprozeduren mit einem Heterogenitätsmaß I2 von jeweils >80 % (SU: I2 = 81,6 %, Abb. 3a; IVT: I2 = 86,3 %, Abb. 3b; MT: I2 = 81,3 %, Abb. 3c).

Abb. 3
figure 3

Behandlungsraten in den einzelnen Bundesländern im Vergleich. a SU-Rate; b IVT-Rate. B Berlin, ES Effektstärke, HB Hansestadt Bremen, HH Hansestadt Hamburg, IVT intravenöse Thrombolyse, KI Konfidenzintervall, MT mechanische Thrombektomie, SU Stroke-Unit

Abb. 3
figure 4

(Fortsetzung) c MT-Rate. ES Effektstärke, HB Hansestadt Bremen, HH Hansestadt Hamburg, IVT intravenöse Thrombolyse, KI Konfidenzintervall, MT mechanische Thrombektomie, SU Stroke-Unit

Korrelation zwischen den einzelnen Prozeduren

Es konnte ein hochsignifikanter linearer Zusammenhang zwischen der SU-Rate und den beiden Raten an durchgeführten Rekanalisationstherapien aufgezeigt werden (IVT-Rate zu SU-Rate: r = 0,238, p < 0,001; MT-Rate zu SU-Rate: r = 0,197, p < 0,000; Abb. 4).

Abb. 4
figure 5

Zusammenhang zwischen der SU-Behandlungsrate und den IVT- und MT-Raten in den 412 Kreisen bzw. kreisfreien Städten. (Pearson-Korrelation: IVT- zu SU-Rate: r = 0,238, p < 0,001; MT- zu SU-Rate: r = 0,197, p < 0,000). IVT intravenöse Thrombolyse, MT mechanische Thrombektomie, STL systemische Thrombolyse, SU Stroke-Unit

Die IVT- und MT-Rate korrelierten signifikant zueinander (r = 0,120, p = 0,016; Abb. 5).

Abb. 5
figure 6

Zusammenhang zwischen der IVT- und MT-Rate in den 412 Kreisen bzw. kreisfreien Städten. (Pearson-Korrelation: IVT- zu MT-Rate: r = 0,120, p = 0,016). IVT intravenöse Thrombolyse, MT mechanische Thrombektomie

Zusammenhang zwischen Grad der Urbanisierung und Therapieraten

Nach EUSTAT-Typologisierung konnten 94 (22,8 %) der bundesweit 412 Kreise bzw. kreisfreien Städte dem Typ 1 („städtisch bzw. hohe Bevölkerungsdichte“), 199 (48,2 %) administrative Einheiten dem Typ 2 („mittlere Bevölkerungsdichte“) und 108 (26,2 %) Regionen dem Typ 3 („ländlich bzw. dünn besiedelte Gebiete“) zugeordnet werden [30].

Es ergaben sich signifikante Unterschiede zwischen den drei Regionstypen bez. der Raten für alle drei Akutprozeduren (Kruskal-Wallis-Test: jeweils p < 0,001). Akute Hirninfarktpatienten wurden in Städten mit städtischer bzw. hoher Bevölkerungsdichte (Typ 1) signifikant häufiger mittels IVT und MT behandelt (Tab. 3; Abb. 6). Es konnte ein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Grad der Urbanisierung und allen drei akuten Schlaganfalltherapieraten detektiert werden (Spearman-Korrelation: SU-Rate zu Typologie: rho = −0,226; p < 0,001; IVT-Rate zu Typologie: rho = −0,186; p = 0,002; MT-Rate zu Typologie: rho = −0,332; p < 0,001; Tab. 3; Abb. 6).

Tab. 3 Vergleich der Therapieraten in Abhängigkeit vom Grad der Urbanisierung
Abb. 6
figure 7

Zusammenhang zwischen dem Grad der Urbanisierung und der a SU-Behandlungsrate sowie der b IVT- und c MT-Rate in den 412 Kreisen bzw. kreisfreien Städten. Typ 1 = städtisch, Typ 2 = intermediat, Typ 3 = ländlich (zur genauen Definition der Typologie siehe Methodik). Spearman-Korrelation: SU-Behandlungsrate zu Typologie: rho = −0,226; p < 0,001; IVT-Rate zu Typologie: rho = −0,186; p = 0,002; MT-Rate zu Typologie: rho = −0,332; p < 0,001. IVT intravenöse Thrombolyse, MT mechanische Thrombektomie, SU Stroke-Unit

Diskussion

Die vorliegende Analyse hat zum Ziel, eine aktualisierte Auswertung der bundesweiten Versorgungsrealität im Hinblick auf die Anwendung der drei in den Leitlinien zur Therapie des akuten Hirninfarkts empfohlenen Prozeduren (SU-Behandlung, IVT und MT) zu geben [10, 22]. Dafür wurden alle Patienten mit Wohnsitz in Deutschland, die im Jahr 2018 in bundesweit 1382 Krankenhäusern mit der Hauptdiagnose akuter Hirninfarkt behandelt wurden, berücksichtigt (insgesamt 224.647 Patientenfälle). Mit einer SU-Behandlungsrate von 73,3 %, einer IVT-Rate von 16,4 % und einer MT-Rate von 6,5 % bezogen auf die bundesweite Gesamtzahl der Patientenfälle mit inländischem Wohnort und Hauptdiagnose I63 konnte im Vergleich zu den Vorjahren eine weitere Steigerung der Behandlungsraten verzeichnet werden [13, 25].

Etwa 3 von 4 Patienten mit Hirninfarkt erhalten eine Stroke-Unit-Behandlung

Die in nationalen und internationalen Leitlinien aufgeführte adäquate Diagnostik und Therapie eines akuten Hirninfarktes beinhalten ein komplexes Paket von Maßnahmen, welche in Deutschland am besten auf einer durch die DSG zertifizierten Stroke-Unit realisiert werden kann [2, 21, 22]. Zwar lässt sich die Behandlung auf einer zertifizierten Stroke-Unit im DRG-System nicht direkt abbilden, doch ist das komplexe Maßnahmenpaket einer Stroke-Unit im DRG-System unter den OPS 8‑981.- „neurologische Komplexbehandlung des akuten Schlaganfalls“ bzw. 8‑98b.- „andere neurologische Komplexbehandlung des akuten Schlaganfalls“ zusammengefasst. Somit wurden für die vorliegende Analyse diese Prozedurenschlüssel mit einer Stroke-Unit-adäquaten Behandlung gleichgesetzt [18, 31]. Dabei konnte gezeigt werden, dass in Deutschland im Jahre 2018 etwa 3 von 4 Patienten mit Hirninfarkt eine solche multimodale Schlaganfallkomplexbehandlung auf einer Stroke-Unit erhielten. Es ist anzunehmen, dass der tatsächliche Anteil noch etwas höher liegt, da zur Kodierung des OPS ein Verbleib der Patienten für mindestens 24 h auf der Behandlungseinheit Voraussetzung ist und dies aus verschiedenen Gründen nicht in allen Fällen erfolgen kann. Darüber hinaus werden Hirninfarktpatienten, die auf einer Intensivstation behandelt werden, mittels der OPS 8‑980.- für „intensivmedizinische Komplexbehandlung“ kodiert, was im Jahr 2017 bei immerhin 10,3 % der Hirninfarktpatienten der Fall gewesen ist [7]. Somit ist durch das seit über 20 Jahren stetige Wirken u. a. der DSG und der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) auf die bestehenden Versorgungsprozesse im Schlaganfallbereich in der bundesweiten Gesamtbetrachtung eine sehr gute Versorgungssituation mit einem sehr hohen Durchdringungsgrad erreicht worden [15]. Bei den Komplexbehandlungen handelte es sich in 10,2 % der Fälle um Kodierung einer „anderen neurologischen Komplexbehandlung“ (OPS 8‑98b), sodass etwa jeder 10. Schlaganfallpatient in einer Klinik behandelt wird, in der nicht die Neurologie die bettenführende Abteilung darstellt.

Bezüglich der rekanalisierenden Therapien wird in Modellen davon ausgegangen, dass in idealen Versorgungsstrukturen bis zu 25 % der Hirninfarktpatienten mittels IVT und bis zu 10 % mittels MT behandelt werden könnten [17]. Die in den letzten Jahren im Fokus stehende MT führte auch zu Diskussionen über das optimale Zuweisungskonzept („mothership“ vs. „drip and ship“ usw.). Erfreulicherweise sind in Deutschland sowohl für die MT als auch für die IVT kontinuierlich steigende Therapieraten zu verzeichnen, sodass sich zumindest aus der aktuellen Analyse kein Anhalt für eine Minderung des Engagements für das parallel existierende Ziel einer Zunahme von IVT-Behandlungen erkennen lässt. Die Erweiterung des Lysezeitfensters durch die „WAKE-UP“- und EXTEND-Studie [14, 23, 24] wird sicherlich auch zur weiteren Zunahme der IVT-Rate führen. Gleiches gilt für die bundesweite MT-Rate, für die sich auch durch den Einsatz der Perfusionsbildgebung bei selektierten Patienten im unklaren bzw. deutlich erweiterten Zeitfenster bis 24 h positive Studienergebnisse gezeigt haben [3, 19]. Die in den letzten Jahren beobachtete Abnahme des Anteils von Patienten, die parallel zur MT eine IVT erhalten haben („Bridging-Lyse“-Anteil 2016 = 64,2 %; 2018 = 53,0 %), ist daher sehr wahrscheinlich als Ausdruck der Zunahme von MT im erweiterten Zeitfenster zu interpretieren, zumal die absolute Anzahl an Kombinationsbehandlungen im gleichen Zeitraum von 6293 auf 7750 zugenommen hat. Es bleibt abzuwarten, inwieweit aktuelle Studien und noch laufende Studien weiteren Einfluss auf die Anwendung der IVT vor der MT nehmen werden [28].

Die MT-Rate liegt in Deutschland weit über dem europäischen Durchschnitt

Gerade im internationalen Vergleich ist die Versorgungssituation in Bezug auf die Anwendung von Rekanalisationstherapien als sehr gut bis hervorragend zu bezeichnen. So hat eine im Winter 2016/2017 durchgeführte paneuropäische Studie ergeben, dass Deutschland mit der Angabe einer MT-Rate von 5,2 % weit über dem europäischen Durchschnitt von 1,9 % lag [1]. Wie in vorliegender Studie dargestellt, konnte für das Jahr 2018 eine bundesweite MT-Rate von bereits 6,5 % erreicht werden, welche sich der postulierten möglichen MT-Rate von 10 % weiter annähert [17].

Bemerkenswert ist, dass in einigen Regionen Deutschlands diese angestrebte MT-Rate mit Werten bis zu 14,4 % deutlich überschritten wird. Patienten, die aus anderen Städten oder Kreisen zur Thrombektomie zuverlegt wurden, sind in der Erhebung dieser MT-Rate nicht berücksichtigt, da sich die aktuelle Auswertung auf den Wohnort der Patienten bezieht. Ein hoher Anteil an thrombektomierten Hirninfarktpatienten einer Stadt oder Region wird neben der regional unterschiedlichen Verfügbarkeit der neuroradiologischen Expertise wahrscheinlich auch durch die Ausweitung der MT-Indikation auf Patienten mit schon teilweise demarkierten Infarkten, Patienten mit einem großen Gefäßverschluss und milderen klinischen Defiziten und Patienten mit Verschlüssen in der hinteren Hirnzirkulation zurückzuführen sein [9, 11, 27]. Weitere Faktoren, die zu einer steigenden Rate an Thrombektomien führen könnten, sind bereits an anderer Stelle diskutiert worden. Dies könnten u. a. neben für die Ausbildung notwendige Interventionszahlen und solche für die im Raum stehende Mindestfallzahlen auch finanzielle Anreize durch das DRG-System an sich sein [25].

Für ländlichere Regionen besteht Optimierungspotenzial

Neben Regionen mit besonders hohen Prozedurraten sind in der regionalisierten Analyse der 412 Kreise und kreisfreien Städte auch Regionen zu identifizieren, die sehr niedrige Behandlungsraten vorweisen. In der vorliegenden Analyse konnte eine signifikante Abhängigkeit vom Grad der Urbanisierung einer Region festgestellt werden. So erhielten Hirninfarktpatienten aus Regionen mit hohem Urbanisierungsgrad signifikant häufiger eine SU-Behandlung und wurden auch signifikant häufiger mittels IVT und MT behandelt als in ländlichen Regionen (Abb. 6). Zudem konnte über alle 412 Regionen hinweg ein positiver Zusammenhang zwischen der SU-Behandlungsrate und den Raten an durchgeführten Rekanalisationstherapien dokumentiert werden. Dies unterstreicht die Wertigkeit einer flächendeckenden Implementierung von Stroke-Units, welche die Basis für eine flächendeckende Versorgung mit rekanalisierenden Therapien darstellen können. Die Durchführung interventioneller Therapien gehört nach Empfehlungen der Fachgesellschaften in spezialisierte (und „zertifizierte“) Hände der neurologischen und neuroradiologischen Fachdisziplinen (z. B. DeGIR[Deutsche Gesellschaft für interventionelle Radiologie und minimal-invasive Therapie]-Modul E; [4]).

Zusammenfassend ist vor allem im internationalen Vergleich die Versorgungssituation in Deutschland in ihrer Gesamtbetrachtung als gut bis sehr gut zu bezeichnen. Für die zwei rekanalisierenden Verfahren IVT und MT sind weiterhin kontinuierlich steigende Behandlungsraten zu verzeichnen. Die regionalisierte Analyse der bundesweit 412 Kreise bzw. kreisfreien Städte zeigt jedoch einen relevanten Streuungsbereich mit signifikant niedrigeren Behandlungsraten in Regionen mit geringerem Urbanisierungsgrad auf, sodass sich insbesondere für ländlichere Regionen weiteres Optimierungspotenzial dokumentieren lässt. Die flächendeckende Verfügbarkeit und Anwendung aller leitliniengerechten Behandlungen für alle infrage kommenden akuten Schlaganfallpatienten unabhängig vom Wohnort stellt weiterhin eine große organisatorische und gesundheitspolitische Herausforderung dar. Je nach regionalen Voraussetzungen werden hierfür unterschiedliche Netzwerkstrukturen gebildet, in denen verschiedene Zuweisungskonzepte („mothership“ vs. „drip and ship“ vs. „ship and drive“) praktiziert werden [6]. In Anlehnung an das Erfolgskonzept der Stroke-Unit-Zertifizierungen sollten sich solche interdisziplinäre Netzwerkstrukturen optimalerweise regelmäßigen qualitativen und quantitativen Überprüfungen durch Fachgesellschaften unterziehen. Dies wird durch die DSG mit den Deutschen Gesellschaften für Neurologie (DGN), Neuroradiologie (DGNR) und Neurochirurgie (DGNC) im Rahmen der Zertifizierung „interdisziplinärer neurovaskulärer Netzwerke“ mittlerweile bereitstellt [5].

Limitationen der angewendeten Methodik

Die von uns gewählte Methodik der Auswertungen auf Basis der DRG-Abrechnungsdaten ist gewissen datentechnischen Limitierungen unterworfen. Es handelt sich bei der DRG-Statistik um die an das InEK (Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus) gemeldeten Abrechnungsdaten der einzelnen Krankenhäuser. Hierbei sind Änderungen, die sich aufgrund der Fall- und/oder Strukturprüfungen der MDK (Medizinischen Dienste der Krankenversicherung) ergeben, nicht berücksichtigt. Die Prüfergebnisse ändern jedoch nichts an der Tatsache, dass die Prozeduren real erbracht wurden.

Die Berechnung der Quote für die Bridging-Lyse ist mit gewissen Unsicherheiten verbunden, da nur die in den Abrechnungsdaten dokumentierten Fälle mit OPS 8‑020.8 bewertet werden können. Anzunehmen ist hier eine gewisse Anzahl von IVT-Prozeduren, die in den Stundenfällen nicht kodiert wurden. Hinzu kommen die nicht dokumentierbaren IVT-Prozeduren für ambulant versorgte Notfälle mit Weitertransport; d. h. es wurde vor der Verlegung kein DRG-Fall gruppiert. Die kalkulierten Zahlen aus den verlegten Fällen können leicht überschätzt sein, da es nicht möglich war, aus der DRG B70I („Apoplexie, ein Belegungstag“) die Todesfälle herauszurechnen. Andererseits kann auch nicht mit Gewissheit gesagt werden, ob die Bridging-Lysen nach der Verlegung tatsächlich eine MT ausgelöst haben, da es sich kodiertechnisch um 2 verschiedene DRG-Fälle handelt.

Auch bei der SU-Behandlungsrate ist anzunehmen, dass der tatsächliche Anteil noch etwas höher liegt, da zur Kodierung des OPS ein Verbleib der Patienten für mindestens 24 h auf der Behandlungseinheit Voraussetzung ist und dies aus verschiedenen Gründen nicht in allen Fällen erfolgen kann.

Insgesamt bilden die DRG-Abrechnungsdaten aufgrund der vollständigen Erfassung aller Patientenfälle unabhängig vom Behandlungsort die bundesweite Versorgungsrealität mit hoher Validität ab, beinhalten jedoch keine weitergehende individuelle Informationen zu Komorbiditäten, medikamentöser Begleittherapie, klinischem Befund oder dem klinischen Outcome der Patienten (Ausnahme: Todesfälle).

Fazit für die Praxis

  • Die im Jahr 2018 auf die bundesweite Gesamtzahl der Patientenfälle mit Wohnort in Deutschland und Hauptdiagnose akuter Hirninfarkt bezogene Stroke-Unit(SU)-Behandlungsrate lag bei 73,3 %, die Thrombolyserate bei 16,4 % und die Thromektomierate bei 6,5 %.

  • Nur etwa jede 10. Schlaganfallbehandlung erfolgt auf einer SU ohne Neurologie am Standort.

  • Der kontinuierlich abnehmende prozentuale Anteil von Patienten, die parallel zur mechanischen Thrombektomie (MT) eine intravenöse Thrombolyse (IVT; „Bridging-Lyse“) erhalten, ist sehr wahrscheinlich Ausdruck der Zunahme von MT im erweiterten Zeitfenster.

  • Gerade im internationalen Vergleich ist die Versorgungssituation in Deutschland in Bezug auf die Anwendung von Rekanalisationstherapien als gut bis sehr gut zu bezeichnen. Die regionalisierte Analyse der bundesweit 412 Kreise bzw. kreisfreien Städte zeigt jedoch einen relevanten Streuungsbereich mit signifikant niedrigeren Behandlungsraten in Regionen mit geringerem Urbanisierungsgrad auf, hier besteht Optimierungspotenzial.