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Mona Lisa hinter Glas

Die Herausforderung ästhetischer Erfahrungen

Mona Lisa behind glass

The challenge of aesthetic experiences

  • Originalarbeit
  • Published:
Forum der Psychoanalyse Aims and scope

„Ach wenn sie geweint hätte, nur einen einzigen Tropfen, eine einzige Träne der Reue“

(Georg Heym 1962, Der Dieb)

Zusammenfassung

Betritt man heute ein Museum, so sieht man sich relativ bald einer Glasbarriere gegenüber. Die Mona Lisa verbirgt sich im Louvre hinter Panzerglas, Nofretete hat im Neuen Museum in Berlin gar in einem ganzen Glaskasten auf gefedertem Fundament ihren neuen Aufenthaltsort gefunden. Es handelt sich um Kunstwerke, Objekte, die verehrt, bewundert, geliebt, gehasst und zerstört werden. Wir können uns von ihnen berühren lassen, sie allerdings sind für uns in der Regel nicht (mehr) berührbar. Aber: Der zunehmenden Entrückung der Kunstwerke stehen die Kunstattentate gegenüber.

Haben der Besuch in einem Museum und eine psychoanalytische Stunde etwas gemeinsam? Gibt es aus Kunstattentaten etwas für uns zu lernen, oder können wir diese einfach als das unverständliche Werk schwer gestörter Persönlichkeiten abstempeln?

Kunstwerke haben ebenso wie die Psychoanalytiker die Macht, ästhetische, das heißt sinnliche Erfahrungen zu ermöglichen, die verwandeln können. Im Gegensatz zu dem immer wieder mit der Ästhetik in Verbindung gebrachten Begriff des „Schönen“ können diese Verwandlungen jedoch auch verstörend sein.

Der Eintritt in die psychoanalytische Praxis schafft – ebenso wie der Eintritt ins Museum – einen Spannungszustand zwischen der sinnlichen Präsenz der Objekte, ihrer Verführungskraft, ihrer Aufforderung, sie sinnlich aufzunehmen, auf der einen und dem gleichzeitigen sinnlichen Entzug, dem Gebot des Abstandhaltens und dem Berührungsverbot auf der anderen Seite.

Unter diesem Aspekt betrachtet, liest man eher selten von Angriffen auf Psychoanalytiker oder auf ihr Praxisinventar. Aber es kommt vor. Margaret Little lässt uns von solchen – geschehen während ihrer Analyse bei Winnicott – wissen.

Was wird zerstört, wenn ein Bild zerstört wird? Sollten Attentate vielleicht den Versuch darstellen, eine sinnliche Antwort zu provozieren, die die Existenz und Wirksamkeit des Subjekts bestätigen soll? Diese Suche nach Antwort wäre auch eine mögliche Begründung für die nicht enden wollenden neuen Theorien, über das „wirkliche Vorbild“ der Mona Lisa. Dieser Ansatz neigt dazu, das Gemälde als reines Zeichen zu sehen, das auf ein Signifikat verweist, vielleicht, um sich vor der sinnlichen Präsenz des Gemäldes zu schützen.

Entsprechend könnten auch psychoanalytische Theorien, so sie über das ethisch notwendige Gebot der anhaltenden Reflexion scheinbar erhaben sein sollen, als Glasscheibe dienen, hinter der sich die Analytikerin in Sicherheit bringen kann, die aber auch ungeheure Verzweiflung und Zerstörungswut aufseiten des Patienten auszulösen imstande ist.

Abstract

If one enters a museum nowadays, one is soon confronted with a glass barrier. Mona Lisa is in the Louvre behind bullet-proof glass, Nofretete found her place in the Neues Museum in Berlin in a glass case standing on a spring-mounted fundament.

They are art objects, admired, adored, loved, hated and sometimes destroyed. We may be touched by them, but they are not to touch (any more) for us. But the more the art objects recede the more assassination attempts on art are to be observed.

What if anything have visits of museums with psychoanalytic sessions in common?

Is there anything we can learn from assassination attempts on art or is it right to put them down as incomprehensible acts of seriously disturbed personalities? Art objects just as psychoanalysts have the power to allow aesthetic, e.g. sensual experiences which are able to change the person but in contrast to the notion of beauty linked repeatedly to aesthetics, these changes may also be disturbing.

Entering a psychoanalytic practice just as entering a museum creates a tension between the sensual presence of the objects, their seductive potency, their invitation to be assimilated sensually on the one side and the simultaneous sensual deprivation, the imperative of distance and the prohibition of touching.

Considering this aspect one seldom hears about attacks on psychoanalysts or on their inventory but it happens. Margaret Little informs about such attacks during her analysis with Winnicott.

What is destroyed if a picture is destroyed? Are such assassination attempts attempts to provoke a sensual reaction, confirming the existence and the effectivity of the subject? Searching for answers to this question is a possible substantiation for endless new theories about who might have been the real model for Mona Lisa. This approach tends to see a picture purely as a sign referring to a signifié, perhaps to be protected against the sensual presence of the picture. Accordingly, psychoanalytic theories could also be considered as far as they are really above the ethically necessary imperative of the continuous reflection, to serve as glass plates behind which the analyst can seek shelter but which can also trigger in the patient an enormous desperation and destructiveness.

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Abb. 1

Notes

  1. So fand eine ältere Dame, die zu einer jungen Kollegin zwecks eines Vorgespräches in die Praxis kam, deren (analytisches) Verhalten „sehr merkwürdig“.

  2. Auch der Analysand wird natürlich aus seinem Lebenskontext isoliert.

  3. Man muss sich nur kurz vorstellen, wie es wäre, wenn die Maler gerade im Museum tätig wären, die Wand abgespachtelt hätten, an der die Exponate hängen, rund herum Malergeräte, Leitern, Farbtöpfe, Schutt, Papiermüll. Die Museumsangesellten trügen keine Uniformen, sondern zerrissene Jeans, kurze Röcke, Dreitagebärte, Lederjacke usw., keine Stille, sondern laute Musik aus dem Radio der Maler.

  4. „Wie die psychoanalytische Erfahrung lehrt, versucht das Kind die ausbleibende Antwort dadurch zu kompensieren, daß es jene befriedigenden Antworten der Mutter, die es früher erfahren hat, halluziniert. Die Halluzinationen Erwachsener, denen experimentell Reize vorenthalten werden, sind funktional – und vielleicht auch ontogenetisch – den auf Liebensentzug beruhenden Halluzinationen verwandt“ (Devereux 1984, S. 55). Nun, die Schlussfolgerung liegt nahe, dass die Situation umso dramatischer wird, je weniger befriedigende Antworten ein Mensch im Laufe seines Lebens erfahren hat, auf die er zum Zweck der Halluzination zurückzugreifen vermag.

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Pflichthofer, D. Mona Lisa hinter Glas. Forum Psychoanal 27, 1–22 (2011). https://doi.org/10.1007/s00451-011-0061-0

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