Seit dem 10. März 2017 ist das Gesetz zur Änderung betäubungsmittelrechtlicher und anderer Vorschriften in Kraft, das den Einsatz von cannabisbasierten Arzneimitteln als Therapiealternative bei Patienten mit schwerwiegenden Erkrankungen regelt. Bedingung für die Kostenübernahme durch die Krankenkassen ist die Genehmigung eines Antrags von Patient und verschreibendem Arzt durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK; [6]).
Aus einer am 30. Mai 2018 veröffentlichten Antwort des Bremer Senats auf eine parlamentarische Anfrage, für welche die größeren Landesverbände der Krankenkassen befragt wurden, geht hervor, dass bundesweit derzeit zwischen 12.000 und 14.000 Patienten aus medizinischen Gründen mit cannabisbasierten Arzneimitteln versorgt werden [1]. Die Ablehnungsquote der Anträge auf Kostenübernahme betrage 30–35 %. Abgelehnt worden seien Anträge unter anderem deshalb, weil keine schwerwiegende Erkrankung vorlag, alternative Therapien noch nicht ausgeschöpft waren oder eine Kontraindikation festgestellt wurde [1]. Aus der Erfahrung der Autoren besteht eine hohe Spannweite der Ablehnungsquoten in Abhängigkeit von einzelnen Krankenkassen und Bundesländern.
Ablehnungsbescheide des MDK bei Patienten mit Fibromyalgiesyndrom
Ablehnungen betreffen auch Anträge von Patienten mit Fibromyalgiesyndrom (FMS). Der MDK begründet die Ablehnungen mit folgenden Argumenten (Originalzitate aus ablehnenden Bescheiden an Patienten des Erstautors):
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a.
„Es liegt keine schwerwiegende Erkrankung im Sinne des § 31 (6) SGBV vor. Gemäß aktueller AWMF-Leitlinie Fibromyalgie sind die Beschwerden ungefährlich im Sinne einer normalen Lebenserwartung und die Patienten können durch eigene Aktivitäten die Beschwerden lindern“.
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b.
„In der Fibromyalgie-Leitlinie der AWMF werden Cannabinoide zum Einsatz bei Fibromyalgie nicht empfohlen. Evidenzbasierte Empfehlung: Cannabinoide sollten nicht empfohlen werden. EL3a, negative Empfehlung. Starker Konsens.“
Nicht nur Vertreter der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin (DGS; [2]) wenden sich zu Recht gegen diese Ablehnungsbescheide des MDK. Die DGS polemisiert dabei jedoch gleichzeitig gegen die AWMF-Leitlinie: „Die AWMF-Leitlinie ist diesbezüglich für den allgemeinen Praxisbetrieb allzu kategorisch negativ. Zum Teil wurden Studienergebnisse anderer Studien umbewertet.“ Als Beispiel wird die Studie von Skrabek [10] angefügt, „die das vollsynthetische THC-Analogon Nabilon doppelblind, placebokontrolliert und randomisiert bei 40 Patienten mit Fibromyalgie über vier Wochen als wirksam belegte“ [2].
Grammatik und Medizin
Wir möchten den Gutachtern des MDK und Vertretern der DGS die Systematik der Leitlinienempfehlungen der AWMF und der evidenzbasierte Medizin in Erinnerung rufen: Nach dem AWMF-Regelwerk können die Empfehlungsgrade „soll“/„soll nicht“, „sollte“/„sollte nicht“ und „kann erwogen werden/kann verzichtet werden“ vergeben werden. Während mit der Darlegung der Qualität der Evidenz (Evidenzstärke) die Belastbarkeit der Studienergebnisse und damit das Ausmaß an Sicherheit/Unsicherheit des Wissens ausgedrückt werden, ist die Darlegung der Empfehlungsgrade Ausdruck des Ergebnisses der Abwägung erwünschter/unerwünschter Konsequenzen alternativer Vorgehensweisen. Was dies in Bezug auf die Empfehlungsgrade der FMS-Leitlinie [4] bedeutet, ist in Tab. 1 dargestellt.
Eine negative Empfehlung („sollte nicht“, Empfehlungsgrad B) – wie im Falle der Cannabinoide für das FMS [11] – bedeutet deshalb im Umkehrschluss, dass eine Minderheit der Patienten die Therapie erhalten kann. Das ist eine aufgrund der geringen Qualität der Evidenz gut nachvollziehbare und auch in der praktischen Versorgung vernünftige Empfehlung, die im starken Konsens in der Leitliniengruppe verabschiedet wurde. Leider wird „sollte nicht“ und „soll nicht“ vielfach von Leitliniennutzern nicht unterschieden, während Leitlinienautoren diese beiden Formulierungen ganz bewusst unterschiedlich einsetzen [13].
Die „Chronikerrichtlinie“ des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) definiert eine schwerwiegend chronische Erkrankung unter anderem dadurch, dass eine kontinuierliche medizinische Versorgung (ärztliche oder psychotherapeutische Behandlung, Arzneimitteltherapie, Behandlungspflege, Versorgung mit Heil- und Hilfsmitteln) erforderlich ist, ohne die nach ärztlicher Einschätzung eine lebensbedrohliche Verschlimmerung, eine Verminderung der Lebenserwartung oder eine dauerhafte Beeinträchtigung der Lebensqualität durch die Gesundheitsstörung zu erwarten ist [3]. Die AWMF-Leitlinie unterscheidet leichte, mittelschwere und schwere Verlaufsformen des FMS [7]. Im Gegensatz zur Auffassung des MDK in dem oben aufgeführten und abgelehnten Antrag auf Kostenerstattung erfüllen schwere Verlaufsformen des FMS die Kriterien einer schwerwiegenden Erkrankung nach § 31 Abs. 6 SGB V, weil bei diesen Patienten die Lebensqualität auf Dauer beeinträchtigt ist [7]. Es ist bemerkenswert, dass der Leitfaden zur sozialmedizinischen Begutachtung von Cannabinoiden nach § 31 Abs. 6 SGB V des Medizinischen Dienstes des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen bei der Erläuterung der Kriterien einer schwerwiegenden Erkrankung auf ein Urteil des Bundessozialgerichts vom 14. Mai 2014 (Az.: B 6 KA 21/13 R) verweist, dass schwere Formen des Reizdarmsyndroms die Kriterien einer schwerwiegenden Erkrankung erfüllen. Das Reizdarmsyndrom wie auch das FMS werden von deutschen S3-Leitlinien als funktionelle somatische Syndrome klassifiziert [7, 9].
Die AWMF-Leitlinie zum FMS spricht eine stark positive Empfehlung („soll“, Empfehlungsgrad A) für nichtmedikamentöse Behandlungen (aerobes Training, kognitive Verhaltenstherapie, meditative Bewegungstherapien) und eine Empfehlung („sollte“, Empfehlungsgrad B) für Amitriptylin, Duloxetin bei komorbiden depressiven Störungen oder generalisierter Angststörung und Pregabalin bei komorbider generalisierter Angststörung aus. Der Off-label-Gebrauch von Duloxetin oder Pregabalin kann im Falle von fehlenden komorbiden depressiven Störungen oder fehlender generalisierter Angststörung bei fehlendem Ansprechen auf oder Unverträglichkeit von Amitriptylin erwogen werden (offene Empfehlung, Empfehlungsgrad „0“). Als klinischer Konsensuspunkt wird eine multimodale Schmerztherapie bei schweren Verlaufsformen und fehlendem Ansprechen auf die oben genannten Therapien empfohlen [7]. Wenn diese etablierten Behandlungsoptionen ausgeschöpft und/oder dem Patienten nicht zumutbar sind, kann daher – in Übereinstimmung mit der AWMF-Leitlinie zum FMS als auch mit § 31 Abs. 6 SGB V – ein individueller Heilversuch mit cannabisbasierten Arzneimitteln durchgeführt werden. Ein individueller Heilversuch bei diesen klinischen Konstellationen wurde aktuell auch vom Positionspapier der Europäischen Schmerzgesellschaft EFIC befürwortet [5].
Evidenzbasierte Medizin bedeutet den gewissenhaften, ausdrücklichen und vernünftigen Gebrauch der gegenwärtig besten externen, wissenschaftlichen Evidenz für Entscheidungen in der medizinischen Versorgung individueller Patienten [8]. Für therapeutische Interventionen haben systematische Übersichtsarbeiten von gut durchgeführten randomisierten klinischen Studien („randomised controlled trials“, RCT) den höchsten Evidenzgrad. Weltweit haben systematische Übersichtsarbeiten der Cochrane Collaboration einen hohen Stellenwert aufgrund der einheitlichen und anspruchsvollen methodischen Standards und des umfangreichen internen und externen Begutachtungsverfahrens. Ein Cochrane-Review folgerte aus 2 RCT mit 72 FMS-Patienten und mit sehr niedriger Qualität der Evidenz: „We found no relevant study with herbal cannabis, plant-based cannabinoids or synthetic cannabinoids other than nabilone in fibromyalgia. We found no convincing, unbiased, high quality evidence suggesting that nabilone is of value in treating people with fibromyalgia“ [12]. In dem Cochrane-Review wurde auch die RCT von Skrabek [10] analysiert. Die Darstellung der Studienergebnisse durch Skrabek suggeriert eine Überlegenheit von Nabilon: „There were significant decreases in the VAS [Ergänzung Autoren Schmerz] (−2,04; p < 0,02), FIQ (−12,07; p < 0,02), and anxiety (−1,67; p < 0,02) in the nabilone treated group at 4 weeks. There were no significant improvements in the placebo group. The treatment group experienced more side effects per person at 2 and 4 weeks (1,58; p< 0,02 and 1,54; p < 0,05), respectively“ [10]. Vertreter der DGS beziehen sich auf diese Ergebnisdarstellung [2]. Standard in systematischen Übersichtsarbeiten und auch in den Zulassungsverfahren von Arzneimittelbehörden ist jedoch der Vergleich von Verum und Placebo am Therapieende. Dieser Vergleich wurde von Skrabek in der Publikation nicht berichtet. Anhand der in der Publikation in Abbildungen verfügbaren Daten verglichen die Cochrane-Autoren die Schmerz‑, Angst- und Lebensqualitätsscores von Nabilon und Placebo am Therapieende und fanden keine statistisch signifikanten Unterschiede [12].
W. Häuser
Fazit für die Praxis
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Gemeinsame Gespräche der schmerzmedizinischen Gesellschaften mit dem MDK zur Festlegung einheitlicher sowie wissenschaftlich valider Kriterien für die Überprüfung der Kostenübernahme von cannabisbasierten Arzneimitteln sind sinnvoller als ein falsches Verständnis der AWMF-Terminologie sowie die Fehlinterpretation einzelner Studienergebnisse mit der Gefahr, eine übertriebene Hoffnung in Bezug auf die klinische Wirksamkeit cannabisbasierter Arzneimittel zu wecken.
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Von den Gutachtern des MDK fordern wir die Berücksichtigung der eigenen Richtlinien bei Anträgen zur Kostenübernahme cannabisbasierter Arzneimittel.
Literatur
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Häuser, W., Petzke, F. & Nothacker, M. Eine schwach negative Empfehlung ist kein kategorisches Nein. Schmerz 32, 327–329 (2018). https://doi.org/10.1007/s00482-018-0328-0
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