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Religiöse Sinngehalte und konstruktives Recht

Zur Dynamik von „Religion“ und „Recht“ am Beispiel der Rechtspraxis von Religionsfreiheit im Strafvollzug der Bundesrepublik Deutschland

Religious meanings and constructive law

A dynamic perspective of ‘religion’ and ‘law’ through the example of religious freedom as law in action in German prisons

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Österreichische Zeitschrift für Soziologie Aims and scope Submit manuscript

Zusammenfassung

Religionsfreiheit ist ein Recht, das in so genannten modernen Gesellschaften gilt, sie ist sogar wesentlicher Bestandteil dieser Gesellschaften. Wie aber geht eine staatliche Institution mit Religionsfreiheit um? Mit Blick auf Deutschland regelt Artikel 4 Abs. 1 und 2 des Grundgesetzes die verfassungsmäßig garantierte Religionsfreiheit. Sie gilt sowohl für einzelne Personen (individuelle Religionsfreiheit) als auch für religiöse Gemeinschaften (korporative Religionsfreiheit). Was im Verfassungstext allgemein geregelt ist, wird in der Rechtspraxis unterschiedlich ausgelegt: Gehört der Tannenbaum zu Weihnachten? Ist ein Gebetsteppich notwendiger Bestandteil muslimischer Gebetspraxis? Sind Räucherstäbchen religiöse Gegenstände? – Besonders in einem stark reglementierenden Rahmen wie dem Strafvollzug wird deutlich wie das Verständnis von „Recht“ und „Religion“ die individuelle und korporative religiöse Praxis prägt.

In dem Artikel wird Religionsfreiheit im Strafvollzug auf den Ebenen des Rechtstexts und der innerinstitutionellen Rechtspraxis vorgestellt. Durch empirische und theoretische Kontextbetrachtungen wird deutlich, wie sich das dynamische Verhältnis von „Recht“ und „Religion“ in so genannten modernen Gesellschaften abbilden kann.

Abstract

Religious freedom is a right which applies in so-called modern societies, is even a substantial element of them. But how does a state institution deal with it? Religious freedom in Germany is regulated in Article 4 paragraph 1 and 2 of the German Basic Law. It applies both to individuals (individual religious freedom) as well as to religious communities (corporate religious freedom). What is generally regulated by a constitutional text is made concrete and interpreted differently in legal practice: Does the Christmas tree have a religious meaning? Is a prayer rug a necessary part of Muslim prayer practice? Is incense a religious object? – Especially in a highly regulated environment as the prison is it becomes clear how the understanding of “religion” and “law” individual and corporate religious practice.

The article presents religious freedom in prison on two levels the legal text, and the intra-institutional legal practice. In empirical and theoretical perspectives it becomes clear how the dynamic relationship between “religion” and “law” can be represented in so-called modern societies.

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Notes

  1. Hier seien beispielsweise eine Ganzkörpertaufe eines Baptisten, die Feier des Laubhüttenfestes oder das Zulassen eines schiitischen Gebetssteins genannt.

  2. Aktuell zeigt sich dies vor allem anhand der Diskussion um die Frage, ob und inwiefern islamische Seelsorge angeboten werden kann und soll (vgl. Jahn 2014, Spielhaus und Herzog 2015).

  3. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Darstellung und Analyse der innerinstitutionellen Rechtspraxis. Der Rechtstext wird als Referenzgröße eingeführt, um die Varianz von „Recht“ aufzuzeigen und die unterschiedlichen Deutungsmöglichkeiten in Bezug auf „Religion“ hervorzuheben. Die Rechtsprechung wäre eine weitere zu behandelnde Ebene, die hier nicht näher ausgeführt wird.

  4. Vgl. zum Beispiel in pointierter Weise die Studie von Ursula Unterberger „Religion – die letzte Freiheit. Religionsausübung im Strafvollzug“ (2013).

  5. Seit der Föderalismusreform 2006 ist die Regelungskompetenz für den Strafvollzug auf die sechzehn Bundesländer übergegangen. Seitdem wurden sukzessive föderale Gesetze erlassen. Da sich in Bezug auf „Religion“ mitunter nur der Wortlaut unterscheidet, der Inhalt aufgrund der verfassungsrechtlichen Bindung gleich geblieben ist, wird folgend nicht auf die Spezifika der einzelnen Ländergesetze eingegangen.

  6. Die fiktive Geschichte stellt in komprimierter Form einen Ausschnitt meines Materials dar, das ich im Rahmen meiner Feldforschungen gesammelt habe und in Anstaltsporträts systematisch aufgearbeitet wurde (vgl. Jahn 2017). Das heißt, die Handlung und Figur des Ahmad sind fiktiv, aber anhand meiner Beobachtungen dem Anstaltsalltag entlehnt. Die aufgeführten Beispiele und Argumentationen sind aus dem Interviewmaterial entnommen und als solche empirisch belegt.

  7. Mit Anstaltsleitung ist keine einzelne Person, also ein Leiter oder eine Leiterin gemeint. Es handelt sich um eine Sammelbezeichnung derjenigen Personen, die anstaltsleitende Tätigkeiten ausführen. Da dies je nach Anstaltstyp und Bundesland unterschiedlich organisiert ist, wird hier die allgemeine Funktionsbezeichnung verwendet.

  8. Zu den anderen Anstalten liegen keine Informationen vor, ob die Weisung vom Ministerium kam.

  9. Inwiefern die Argumentation rechtskonform ist, muss an dieser Stelle offen bleiben.

  10. Zur Unterscheidung des Trennungsgrundsatzes und des Neutralitätsgrundsatzes siehe Czermak (2008, S. 75–76).

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Die verwendeten Transkriptionsauszüge sind auf den relevanten Inhalt hin gekürzt und der Lesbarkeit wegen an die Regeln des Hochdeutschen angepasst. Die Transkriptionsauszüge beziehen sich auf Untersuchungen, die die Autorin im Zeitraum 2010–2013 durchgeführt hat.

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Jahn, S.J. Religiöse Sinngehalte und konstruktives Recht. Österreich Z Soziol 42, 259–279 (2017). https://doi.org/10.1007/s11614-017-0268-4

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