Zusammenfassung
Was vor etwa 15 Jahren im deutschen Sprachraum als Wende hin zu einer „empirisch orientierten Bildungspolitik“ (Lange) begann und später auch als „datengestütztes Steuerungsmodell“ oder „evaluationsbasierte Steuerung“ firmiert, wird gegenwärtig unter die Überschrift „evidenzbasierte Bildungspolitik“ gerückt. Entgegen dem hiermit vermittelten Eindruck, es handele sich bei diesen Begriffen um Synonyme, arbeitet der Beitrag Differenzen zwischen einer datengetriebenen Steuerung und einer evidenzbasierten Steuerung heraus. Während das Paradigma der Evidenzbasierung an eine Forschung über effektive Interventionen in Politik und Praxis und eine Infrastruktur für Evidenzsynthesen geknüpft ist, kommt eine datengetriebene Steuerung auch ohne ein solches Erklärungs- und Veränderungswissen aus. Am Beispiel des sog. „datengestützten Entwicklungskreislaufs“ einer Schule werden die kybernetischen Mechanismen datengetriebener Steuerung erläutert. Wenn dieser Steuerungsansatz gegenwärtig als „evidenzbasierte Steuerung“ ausgegeben wird, so stellt dies nicht nur eine eigenwillige Umdeutung des Paradigmas von „Evidenzbasierung“ dar; es enthält auch eine veränderte Zuschreibung von Verantwortlichkeiten zwischen Bildungsforschung, Bildungspolitik und Bildungspraxis.
Abstract
What had begun in German speaking countries as a turn to an empirically oriented education policy 15 years ago – later also labelled as data-based or evaluation-based governance – is currently captioned as evidence-based education policy. In contrast to the impression these terms could be used synonymously, the paper exposes differences between data-driven and evidence-based education policies. While the paradigm of evidence-based policies is bound to research on effective interventions in policy and practice together with an infrastructure for the synthesis of the best available evidence, data-driven governance also works without evidence about what works. Taking the example of the so-called “data-based quality circle” of school development the cybernetic mechanisms of data-driven governance are explained. Renaming this approach in education policy as “evidence-based” we experience not only a peculiar reinterpretation of the paradigm of evidence-based policy; we can also notice a different ascription of responsibilities between research, policy and practice.
Notes
So unterscheidet man Efficacy-orientierte Forschung, die die interne Validität experimenteller Grundlagenforschung betont, von Effectiveness-orientierter Forschung, die die externe Validität der Wirkungsforschung für komplexe Handlungsfelder betont (vgl. Pant 2014, 84 f.).
Dies zu konstatieren sollte nicht als Kritik verstanden werden, da es kaum verwundern kann, dass politische Diskurse eine normative Dimension haben. Es wäre eher verwunderlich, wenn evidenzbasierte Politik frei wäre von einer solchen normativen Dimension.
Die Formulierung geht auf Sacketts (1996, S. 71) vielzitierte Definition von „evidence-based medicine“ zurück – „integrating individual clinical expertise with the best available external evidence from research“ (Sackett 1996, S. 71) – und taucht analog bereits in den frühen Übertragungen des Paradigmas auf den Bildungsbereich auf (vgl. Davies 1999, S. 117).
Tatsächlich wird sogar die Orientierung der Politik an systemeigenen Erfolgskriterien gelegentlich als eines der entscheidenden Hindernisse für Evidenzbasierung angesehen: „It is quite unsatisfactory to allow politicians to make decisions in order to get elected rather than in order to improve the educational system“ (Tymms et al. 2008, S. 29).
Kluges Beobachtung ist gewissermaßen die Gegenthese gegen die nach PISA häufig zu hörende Einschätzung „Durchs Wiegen wird die Sau nicht fett“.
Thiel zufolge besteht „nach wie vor“ ein „großes Defizit […] hinsichtlich der Formen von Evidenz, die eine Entwicklung von Maßnahmen erlauben“ (Thiel 2014, S. 120; vgl. auch S. 124).
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Bellmann, J. Datengetrieben und/oder evidenzbasiert?. Z Erziehungswiss 19 (Suppl 1), 147–161 (2016). https://doi.org/10.1007/s11618-016-0702-6
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