1 Einleitung

Ausgehend von einer Initiative der EU-Kommission hat sich die „Eigenständige Jugendpolitik“ in den vergangenen Jahren zu einem Leitbild europäischer, nationaler und subnationaler Politikgestaltung entwickelt. Nicht nur haben die Koalitionspartner der neuen Bundesregierung ein erneutes Bekenntnis zu einer Eigenständigen Jugendpolitik in den Koalitionsvertrag aufgenommen (Koalitionsvertrag 2018, S. 23), vielmehr haben sich mehrere Länder mittlerweile des Ansatzes der Eigenständigen Jugendpolitik angenommen und begonnen, integrative, mehrere Handlungsfelder (Bildung/Schule, Freizeit, Partizipation, Beschäftigung, Gesundheit etc.) verbindende Politiken für und mit jungen Menschen zu entwickeln. Insbesondere Rheinland-Pfalz nimmt hier mit seiner Strategie „JES! – Eigenständige Jugendpolitik“ derzeit eine Vorreiterposition ein. Aber auch andere Landesregierungen, wie z. B. Bayern, Baden-Württemberg oder Sachsen, haben sich dieses Leitbild inzwischen zu Eigen gemacht.

Da der Bund über wenige eigene Kompetenzen im Bereich der Jugendpolitik verfügt, wird die Übernahme der Programmatik in den Ländern (und auch den Kommunen) zum interessanten Testfall für die Wirkkraft „weicher“ Politikansätze im deutschen Föderalismus. Die Länder spielen als Scharnier zwischen der Bundesebene und den Kommunen, die durch ihre Ortsnähe und ihre Kompetenzen in der Kinder- und Jugendhilfe nach SGB VIII traditionell die zentrale Ebene der Jugendpolitik darstellen, eine wichtige Rolle nicht nur für die Finanzierung, sondern auch für die programmatische Ausgestaltung von Jugendpolitik. Die Landesjugendämter und Landesjugendhilfeausschüsse stellen bedeutende Instanzen der Planung, professionellen Selbstvergewisserung und Weiterbildung in Jugendarbeit und Jugendhilfe dar. Für die Eigenständige Jugendpolitik als neuartigem und jungem Politikansatz stellt die Landesebene daher eine wichtige Arena dar, die eine eigenständige Betrachtung notwendig macht. Dabei zeigt sich eine große Varianz zwischen den Ländern in ihren Ansätzen zur Etablierung einer Eigenständigen Jugendpolitik.

Mit einem Vergleich der jugendpolitischen Aktivitäten der Länder adressieren wir folgende Fragen:

  1. 1.

    Wie weit ist der Prozess der Etablierung von Eigenständiger Jugendpolitik auf Länderebene vorangeschritten? Welche Typen von jugendpolitischen Initiativen der Länder finden wir?

  2. 2.

    Was erklärt die Varianz der Strategien zur Etablierung einer Eigenständigen Jugendpolitik in den Ländern? Inwiefern hängen unterschiedliche Policy-Profile mit sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen, Parteipolitik und Akteurskonstellationen zusammen?

Methodisch wird ein strukturierter Vergleich über alle Länder durchgeführt, um so die Entstehungsprozesse und das Portfolio eigenständiger Jugendpolitik zu analysieren. Mittels einer Fuzzy-Set-Qualitative Comparative Analysis (fsQCA) werden ergänzend die Entstehungsbedingungen konfigurativ untersucht.

Zunächst wird die Etablierung des Leitbilds einer Eigenständigen Jugendpolitik eingeführt (Abschn. 2). Hiernach werden Angebote der vergleichenden Policy-Analyse auf ihre Anwendbarkeit auf den Fall Eigenständiger Jugendpolitik im Ländervergleich geprüft und Hypothesen entwickelt (Abschn. 3). Daran schließt eine Operationalisierung der abhängigen Variable an (Abschn. 4). In einem empirischen Abschnitt wird dann ein Ländervergleich durchgeführt, und die Hypothesen werden mittels eines strukturierten Vergleichs und einer fsQCA überprüft (Abschn. 5). Abschließend werden die Ergebnisse zusammengefasst und ein Ausblick auf Folgefragen gegeben (Abschn. 6).

2 Eigenständige Jugendpolitik: Vom Europäischen Leitbild zur Umsetzung im Mehrebenensystem

In der Jugend- und Sozialarbeit hat in den letzten Jahren der Begriff der „Eigenständigen Jugendpolitik“ erhebliche Aufmerksamkeit erfahren (Lindner und Pletzer 2017; Luedtke und Wiezorek 2016) – in der Politikwissenschaft wurde er bisher dagegen ignoriert. Dabei bietet es sich an, an diesem Beispiel die Diffusions- und Implementationsprozesse europäischen „Soft-Laws“ im Mehrebenensystem zu untersuchen.

In Abgrenzung zur „alten“ Jugendpolitik soll Eigenständige Jugendpolitik die Phase Jugend nicht mehr defizitorientiert im Sinne der Adressierung spezifischer Problemgruppen wahrnehmen, wie dies in der klassischen Jugendhilfe weitgehend der Fall ist. Stattdessen soll sie Jugendliche aktivieren und deren Belange ressortübergreifend und integrierend bündeln. Ziel ist die Etablierung von Teilhabe- und Beteiligungsrechten Jugendlicher in allen Politikbereichen. So verstandene Jugendpolitik ist keinem klassischen Politikfeld mehr eindeutig zuzuordnen. Einerseits wird sie in ihrem Kern vom klassischen (schulischen) Bildungswesen geleistet, andererseits ist sie in der Kinder- und Jugendhilfe verankert (Hornstein 2009, S. 59). Hinzu kommen eine Reihe anderer Politikfelder wie Gesundheits‑, Arbeitsmarkt‑, Kultur- oder Stadtentwicklungspolitik, die immer auch Schnittstellen zur Jugendarbeit und -politik aufweisen (Grohs und Reiter 2017). Die Gesetzgebungskompetenz liegt in diesen Feldern weitestgehend bei den Ländern, weshalb diese in diesem frühen Stadium der Eigenständigen Jugendpolitik wichtige Akteure bei deren (erster) Entfaltung sind.

Im Jahr 2011 hat das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ein Programm zur Entwicklung einer „Eigenständigen Jugendpolitik“ aufgesetzt, welches das Ziel verfolgt, „die Phase der Jugend in ihrer ganzen Vielfalt individueller Lebenswelten, Bedürfnisse und Fähigkeiten in den Mittelpunkt“ (BMFSFJ 2011, S. 2) zu stellen. Die Erarbeitung einer neuen, als „eigenständig“ bezeichneten Jugendpolitik hatte bereits 2009 Eingang in den Koalitionsvertrag von CDU/CSU und FDP gefunden. Nicht mehr die Kompensation von als problematisch empfundenen Lebenslagen sollte im Vordergrund stehen, sondern die (problemunabhängige) Förderung Jugendlicher und deren Belange. Ein erster Schritt hin zur tatsächlichen Ausarbeitung einer Eigenständigen Jugendpolitik auf Grundlage des Eckpunktepapiers war die Gründung eines „Zentrums Eigenständige Jugendpolitik“ (Zentrum Eigenständige Jugendpolitik 2013).

Die wesentlichen Inhalte Eigenständiger Jugendpolitik liegen erstens auf der Förderung der Partizipation Jugendlicher und junger Erwachsener. Ein zweiter großer thematischer Block befasst sich mit Förderung von Teilhabemöglichkeiten. Ein dritter Schwerpunkt ist die Förderung des öffentlichen Bewusstseins für die Belange Jugendlicher und der Verbesserung des Images Jugendlicher in der Öffentlichkeit. Viertens soll schließlich eine Eigenständige Jugendpolitik auch die europäische Dimension miteinbeziehen und Impulse, etwa die der EU-Jugendstrategie, stärker in den jugendpolitischen Diskurs integrieren.

Diese Entwicklung ging einerseits aus der jugendpolitischen Debatte in Deutschland hervor. So hatte das Bundesjugendkuratorium schon früh die Fragmentierung und Defizitorientierung der bestehenden Jugendpolitik bemängelt:

Die hohe politische Priorität ist nicht erkennbar, zudem erweist sich Jugendpolitik als ein Flickenteppich unabgestimmter Maßnahmen, Programme und Aktivitäten unterschiedlicher Ministerien. Ein integrierendes Gesamtkonzept, das gemeinsame Ziele solcher Aktivitäten und eine aufeinander abgestimmte Gesamtstrategie enthalten würde, existiert dagegen nicht. (Bundesjugendkuratorium 2009, S. 7)

Wichtigster Baustein einer neuen Jugendpolitik ist aus dieser Perspektive eine engere Verzahnung der jeweils fachlich zuständigen Jugendressorts mit anderen Ressorts, um eine „echte“ ressortübergreifende Querschnitts-Jugendpolitik zu schaffen. Erneut erhoben wurde diese Forderung im 14. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung (2013, S. 10), welcher sich die Länder im Bundesrat ausdrücklich angeschlossen haben (Bundesrat 2013).

Ein weiterer wichtiger Impuls kam von der EU: Ebenfalls im Jahr 2009 einigten sich die EU-Jugendminister auf die so genannte „EU-Jugendstrategie“, welche „ein umfassendes jugendpolitisches Konzept einerseits für die europäische Zusammenarbeit im Jugendbereich sowie andererseits für die Ausgestaltung bzw. Neuausrichtung nationaler Jugendpolitiken“ (Siebel und Wicke 2012, S. 399) beschreibt. Dabei handelt es sich um sog. „soft law“, also nicht-bindendes Recht auf Grundlage der sog. „Offenen Methode der Koordinierung“ (Barcevičius et al. 2014). Auch wenn es sich nicht um bindendes Recht handelt, so kann hierbei doch von einem mindestens ideellen Einfluss auf die nationale Debatte zur Jugendpolitik ausgegangen werden, wie dies auch schon in anderen Bereichen europäischen soft laws der Fall war (z. B. im Bereich der Europäischen Beschäftigungsstrategie, vgl. Preunkert und Zirra 2009).

Einer einfachen Top-Down-Implementierung stehen unterschiedliche Interessen und Priorisierungen im Mehrebenensystem entgegen. Zwar können sich alle betroffenen Ebenen (EU, Bund, Länder und Kommunen) darauf einigen, dass Eigenständige Jugendpolitik ein wichtiges Anliegen ist. Die konkrete Umsetzung trifft im Mehrebenensystem jedoch schnell auf Kompetenzgrenzen und unterschiedliche Interessen. EU und Bund sind sich einig über die Bedeutung des Themas, haben jenseits kommunikativer Instrumente jedoch nur beschränkte Umsetzungsinstrumente. Insbesondere finanziell kann der Bund auf kommunaler und Landesebene nur über zeitlich begrenzte Modellprojekte aktiv werden (vgl. Bogumil et al. 2008). Eigene Programme kommen kaum bei den Adressaten an, da Jugendpolitik primär kommunal stattfindet (Lindner 2017). Den Kommunen ihrerseits fehlen der finanzielle Handlungsspielraum und teils auch die personellen Ressourcen zur Entwicklung von Programmen Eigenständiger Jugendpolitik, so dass angesichts der Priorisierung des Ausbaus der Kindertagesbetreuung und der Erfüllung von Rechtsansprüchen nach SGB VIII nur in den seltensten Fällen Spielräume für eine eigenständige Programmentwicklung bleiben (Grohs und Reiter 2017). Angesichts der zeitlichen Befristung und häufigen Ko-Finanzierungsanforderungen stehen die Kommunen dem Engagement des Bundes daher eher skeptisch gegenüber (vgl. Bogumil et al. 2008). Die Länder schließlich stellen in diesem Zusammenhang ein wichtiges Scharnier dar, da hier Möglichkeiten längerfristiger finanzieller Verpflichtungen gegeben sind (die Mittel hierfür stehen allerdings angesichts der Schuldenbremse nur eingeschränkt Verfügung) und über die Landesjugendämter und die Landesjugendhilfeausschüsse wichtige Beratungs- und Koordinationsfunktionen bestehen. Allerdings bleiben auch die Länder mangels Fachaufsicht und dem Vorbehalt kommunaler Selbstverwaltung „schwache“ Spieler, deren Aktivitäten im Folgenden betrachtet werden soll. Die Analyse ist insofern ein Testfall für die Chance der Implementierung ambitionierter Programme bei fragmentierten Umsetzungskompetenzen in Mehrebenensystemen.

3 Policy-Varianz im Ländervergleich: Theoretischer Rahmen und Hypothesen

Zur Erklärung von Varianz in den Politiken der Länder wird häufig auf die gängigen Schulen der vergleichenden Staatstätigkeitsforschung zurückgegriffen (vgl. Hildebrandt und Wolf 2016). Für den eher explorativ angelegten Charakter dieser Studie bietet sich dieses Vorgehen ebenfalls an. Dabei müssen die Spezifika der Jugendpolitik allerdings berücksichtigt und die Theorieangebote angepasst werden.

3.1 Sozio-ökonomische Schule

Die sozio-ökonomischen Theorien vergleichender Staatstätigkeit gehen von einer Abhängigkeit der Politikgestaltung von gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklungen aus (vgl. z. B. Schmidt und Ostheim 2007; Obinger 2015). Diese prägen die Gestaltungsspielräume und den Problemdruck des staatlichen Handelns. Hinsichtlich des Gestaltungsspielraums spielt insbesondere die fiskalische Situation des Landes (die primär dessen wirtschaftliche Situation widerspiegelt) eine wichtige Rolle. Da Eigenständige Jugendpolitik häufig als „Add on“ zu den jugendbezogenen Aufgaben mit individuellen Rechtsansprüchen, nämlich der Schulpolitik einerseits sowie der Kinder- und Jugendhilfe (insbesondere Hilfen zur Erziehung und Kindertagesbetreuung) andererseits, angesehen wird, ist davon auszugehen, dass Länder in vergleichsweise günstiger fiskalischer Situation einen weiter fortgeschrittenen Umsetzungsstand aufweisen (H1) (Grohs und Reiter 2017).

Ebenfalls den sozio-ökonomischen Theorien kann gesellschaftlicher Problemdruck zugerechnet werden. Im Bereich des Problemdrucks werden für die Länder zwei wesentliche Faktoren betrachtet: zum einen die Größe des Adressatenkreises (gemessen am Anteil der Jugendlichen an der Gesamtbevölkerung), zum anderen die Frage, inwiefern dieser Adressatenkreis als mit besonderem Handlungsbedarf versehen wahrgenommen wird. Hier wären mehrere Faktoren denkbar (Jugendarbeitslosigkeit, Schulabbrecher, Jugendkriminalität, Bezug von Jugendhilfeleistungen etc.). Aus Gründen der Datenverfügbarkeit wird hier die Jugendarbeitslosigkeit als wesentlicher Indikator verwendet. Wir gehen davon aus, dass je höher der Anteil der Jugendlichen (H2) und je höher der Problemdruck gemessen an der Jugendarbeitslosigkeit ist (H3), desto eher weisen die Länder einen weiter fortgeschrittenen Umsetzungsstand Eigenständiger Jugendpolitik auf.

3.2 Parteiendifferenzhypothese

Die Parteiendifferenzhypothese erklärt Varianten der Staatstätigkeit über die parteipolitische Färbung der Regierungen. Die Anwendung der These auf die Jugendpolitik stößt an Grenzen. Nach der gängigen Parteiendifferenzhypothese könnte erwartet werden, dass eine Expansion von Jugendpolitik (als erweiterter Sozialpolitik) eher von linken Parteien unterstützt wird. Im Hintergrund dieser Erwartung steht zum einen die Zuordnung der (klassischen) Jugendpolitik zum Feld der traditionell distributiven Sozialpolitik, für die die ursprüngliche Parteiendifferenzhypothese eine Expansion staatlicher Ausgaben unter linksorientierten Regierungen vorhersagt (vgl. Hibbs 1977). Zum anderen steht dahinter die Annahme, dass Jugendliche eine besondere Zielgruppe und auch (zukünftige) Wählergruppe von linken Parteien sind, deren „Werteangebote“ als besonders kompatibel mit den vermuteten Bedürfnissen sowie Einstellungen und Erwartungen von Jugendlichen gesehen werden (Inglehart 1988, S. 1224 f.). Letzteres führt wiederum zu der Annahme, dass linksgerichtete Parteien die Abkopplung einer Eigenständigen Jugendpolitik aktiver betreiben als konservative oder liberale Parteien.

Diese aus der Parteiendifferenzhypothese theoretisch ableitbare Annahme ist indes mit Vorsicht zu genießen. Rein empirisch betrachtet spricht schon das Faktum, dass erste konkrete Initiativen zur Etablierung einer Eigenständigen Jugendpolitik auf Bundesebene von einem unionsgeführten Bundesministerium ausgingen, gegen sie. Zudem geht Jugendpolitik insbesondere in der Weiterentwicklung zu einer Eigenständigen Jugendpolitik über traditionelle Sozialpolitik hinaus und in politische Handlungsfelder hinein, für die eine theoretisch fundierte Vorab-Identifizierung von Parteipositionen kaum möglich ist. Hinzu kommt, dass minderjährige Jugendliche keine Wählergruppe darstellen, die kurzfristig orientierte Wiederwahlinteressen bedienen würden. Daher scheint eine aus der Parteienfärbung von Landesregierungen abgeleitete verlässliche Prognose über das jugendpolitische Handeln und die entsprechende politische Strategiebildung in den einzelnen Ländern kaum möglich, die erwarteten Effekte der Parteifärbung sind also neutral (H4).

3.3 Machtressourcenansatz

Im Gegensatz zur Parteidifferenzhypothese geht der Machtressourcenansatz davon aus, dass Politikgestaltung auch von der Mobilisierung gesellschaftlicher Interessengruppen für oder gegen eine Gestaltungsoption beeinflusst wird. Gesellschaftliche Interessenvermittlung im Bereich der Jugendpolitik geht in erster Linie von Jugendverbänden und Wohlfahrtsverbänden aus. Die Jugendverbände – allen voran die Landesjugendringe als Dachverbände – sind bundesweit die stärksten Promotoren einer Eigenständigen Jugendpolitik (vgl. z. B. Deutscher Bundesjugendring 2015; Landesjugendring Rheinland-Pfalz 2014; Landesjugendring Nordrhein-Westfalen 2013). Die Wohlfahrtsverbände sind dagegen deutlich zurückhaltender – sind sie doch die bedeutendsten Anbieter traditioneller Angebote der Kinder- und Jugendhilfe und vertreten damit ein gewisses Bestandsinteresse (Grohs 2010; Grohs et al. 2014). Sowohl die Jugend- als auch die Wohlfahrtsverbände sind über die Landesjugendhilfeausschüsse an der Ausgestaltung der Kinder- und Jugendhilfepolitik der Länder beteiligt (§ 71 SGB VIII). Den Ausschüssen gehören zu zwei Fünfteln Vertreter an, die auf Vorschlag der anerkannten Träger der freien Jugendhilfe benannt werden (§ 71 Abs. 4 SGB VIII). In den Ländern unterscheidet sich allerdings das Gewicht der jeweiligen Gruppierungen erheblich. Auf Grund des starken pro-aktiven Engagements der Jugendverbände für eine Eigenständige Jugendpolitik erwarten wir daher in den Ländern mit einem größeren Anteil von Jugendverbänden im Landesjugendhilfeausschuss eine höhere Aktivität in der Umsetzung einer Eigenständigen Jugendpolitik (H5).

3.4 Pfadabhängigkeit

Bei der Analyse der Landespolitiken muss berücksichtigt werden, dass institutionelle Arrangements, Kooperations- und Ausgabemuster historisch gewachsen sind und in ihrer jeweiligen Ausgestaltung sowohl die Interessen und Ressourcen der beteiligten Akteure prägen als auch deren Weltbilder, also ihre Vorstellungen über die „richtige“ Ausgestaltung und Erbringung sozialer Dienstleistungen, maßgeblich formen. Dadurch werden durch vergangene Entscheidungen die Verwirklichungschancen zukünftiger Optionen wesentlich beeinflusst und auf einen engeren Handlungskorridor geführt. Bezugnehmend auf diesen als „Pfadabhängigkeit“ (vgl. Beyer 2015) oder „Politik-Erblast“ (Schmidt und Ostheim 2007) bezeichneten Sachverhalt erwarten wir in Ländern, die traditionell ein höheres Aktivitäts- und Ausgabenniveau für Kinder- und Jugendliche aufweisen, eine höhere Aktivität in der Eigenständigen Jugendpolitik (H6).

4 Eigenständige Jugendpolitik als abhängige Variable

Das Aktivitätsniveau aller 16 Länder in der Eigenständigen Jugendpolitik wird im Zeitraum von der Veröffentlichung des Eckpunktepapiers des BMFSFJ im Jahr 2011 bis zum August 2017 erfasst (siehe Abb. 1). Hierzu werden die Aktivitäten in verschiedenen Teilbereichen der Eigenständigen Jugendpolitik, abgeleitet aus den entsprechenden Leitlinien und Grundsätzen, erfasst. Die vier identifizierten Teilbereiche mit insgesamt zehn Aktivitäten erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit, geben aber die Schwerpunkte einer Eigenständigen Jugendpolitik als Tenor des analysierten Materials wieder. Die Informationen wurden durch umfangreiche Online-Recherchen und Dokumentenanalysen gewonnen. Wesentliche Quellen waren dabei die Internetpräsenzen der zuständigen Ministerien und gesonderte Webseiten zu Eigenständiger Jugendpolitik, Landtagsdrucksachen, Koalitionsverträge, Veröffentlichungen der Landesjugendhilfeausschüsse, Jugendverbände und Medienberichte. Die Aktivitäten werden in Abb. 1 nach einem vierstufigen Schema kategorisiert: Schwarz bedeutet eine hohe Aktivität in Bezug auf die einzelnen Items, dunkelgrau eine schwächere. Hellgrau hinterlegt sind jugendpolitische Aktivitäten, die zwar (teils auch stark ausgeprägt) von den Ländern wahrgenommen werden, bei denen aber nicht Bezug auf die Eigenständige Jugendpolitik genommen wird. Weiß zeigt an, dass keine Aktivitäten zu verzeichnen sind. Aus der Summe der Aktivitäten in einzelnen Teilaspekten der Eigenständigen Jugendpolitik wird ein Gesamt-Aktivitätsniveau bestimmt. Die Länder werden zur Vereinfachung der Analyse mittels eines einfachen Scoring-Verfahrens in vier Gruppen mit unterschiedlichem Aktivitätsniveau eingeteilt. Für den Score wird eine hohe Aktivität mit dem Wert 3 belegt, eine niedrigere mit dem Wert 2, eine Aktivität ohne Bezug auf Eigenständige Jugendpolitik mit dem Wert 1 und keine feststellbare Aktivität mit dem Wert 0. Es ergeben sich daraus Scores von 8 bis 23, die sich in vier Gruppen einteilen lassen:

  1. 1.

    Vorreiter (Scores zwischen 18 und 23: Sachsen, Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen): in mindestens vier Teilaspekten eine starke Aktivität in der Umsetzung der Eigenständigen Jugendpolitik und darüber hinaus einige weitere, schwächer ausgeprägte Aktivitäten.

  2. 2.

    Ambitionierte Nachzügler (Scores zwischen 14 und 16: Niedersachsen, Berlin, ThüringenFootnote 1, Sachsen-Anhalt, Bayern): weniger stark ausgeprägte Aktivitäten. Stattdessen sind bei ihnen überwiegend erste Initiativen erkennbar, die aber häufig noch im Stadium von Absichtserklärungen sind.

  3. 3.

    Zurückhaltende Nachzügler (Scores von 11 oder 12: Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein): Aktivitäten in einem oder zwei Teilaspekten. Damit haben sie das Konzept zwar grundsätzlich in ihre Landespolitik aufgenommen, sind aber sehr zögerlich in der breiteren Umsetzung.

  4. 4.

    Konventionelle (Scores von 8 oder 9: Hamburg, Bremen, Hessen, Saarland): keinerlei Bezug auf die Eigenständige Jugendpolitik, sondern Festhalten an den konventionellen Strukturen der Jugendarbeit.

Abb. 1
figure 1

Aktivität der Länder in der Eigenständigen Jugendpolitik. (Quelle: Eigene Darstellung)

5 Analyse

5.1 Methodisches Vorgehen

Für die Analyse wird zunächst ein strukturierter Vergleich der Aktivitäten in der Eigenständigen Jugendpolitik anhand unterschiedlicher Schulen der Staatstätigkeitsforschung mittels einer bivariaten Analyse zwischen allen 16 Ländern vorgenommen. Anschließend werden diese unterschiedlichen Faktoren durch eine Fuzzy-Set QCA auf ihr konfiguratives Zusammenwirken untersucht. Dabei wird zunächst das jeweilige Aktivitätsniveau in der Umsetzung der Eigenständigen Jugendpolitik deskriptiv erfasst. Um Verzerrungen durch kurzfristige Schwankungen zu verringern, betrachten wir dabei über mehrere Jahre gemittelte WerteFootnote 2 (etwa bei der Verschuldung oder der Jugendarbeitslosigkeit). So können längerfristig bestehende Einflüsse auf die Entscheidungen der jeweiligen Landespolitik erfasst werden, die bei der Betrachtung nur eines einzelnen Zeitpunktes nicht deutlich würden. Zur Prüfung der in den Hypothesen formulierten Zusammenhänge werden für die vier Ländergruppen Mittelwerte der jeweiligen unabhängigen Variablen gebildet. Diese Werte werden auf ihre Übereinstimmung mit dem jeweils erwarteten Zusammenhang hin geprüft.

In einem zweiten Schritt werden die Daten auf mögliche Zusammenhänge mit – der Logik von QCA-Analysen folgend – erklärenden Bedingungen geprüft. Die QCA-Analyse (Schneider und Wagemann 2007) bietet sich insbesondere zur Untersuchung kleiner und mittlerer Fallzahlen an, wie sie bei den 16 deutschen Bundesländern gegeben sind. Außerdem ermöglicht sie, anders als etwa Regressionsanalysen, Aussagen über (unterschiedliche) Kombinationen von Faktoren, die zu einem Outcome führen können, da sie auf der Mengentheorie (und nicht linearer Algebra) aufbaut. Wir haben uns zudem für die Anwendung der Fuzzy-Set QCA (fsQCA) entschieden, da hier, anders als bei dichotomen Crisp-Set QCA-Analysen, auch Werte zwischen 0 und 1 möglich sind (Schneider und Wagemann 2007, S. 173 ff.); damit lassen sich die Zugehörigkeiten zu analytischen Gruppen noch feiner abstufen (z. B. kann ein Land sehr stark, eher stark, eher weniger stark und kaum verschuldet sein etc.) was zu differenzierteren Ergebnissen bei der Analyse führt, da so auch qualitative und quantitative Unterschiede zwischen Fällen erfasst werden (ebd., S. 175).

5.2 Bivariate Analyse

5.2.1 Sozio-ökonomische Schule

Die erste These stellt die Vermutung auf, dass Länder mit einer vergleichsweise guten fiskalischen Situation eher einen weiter fortgeschrittenen Umsetzungsstand aufweisen würden. Als Proxy für die fiskalische Situation soll der Schuldenstand pro Kopf, gemittelt für die Jahre 2011–2015, dienen (vgl. Tab. 1).

Tab. 1 Schuldenstände, Anteil der Jugendlichen und Jugendarbeitslosigkeit im Vergleich. (Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage von Daten des Statistischen Bundesamtes)

Hinsichtlich der fiskalischen Situation scheint ein klarer Zusammenhang zu bestehen. Mit steigender Pro-Kopf-Verschuldung sinkt der Grad der Umsetzung Eigenständiger Jugendpolitik. Einzig die zurückhaltenden Nachzügler fallen aus dem Rahmen; sie weisen die zweitbeste fiskalische Situation auf. Dennoch kann die angenommene Wirkrichtung im Grundsatz bestätigt werden kann.

Zweitens wird erwartet, dass ein höherer Problemdruck, gemessen am Anteil Jugendlicher an der Gesamtbevölkerung (H2) und an der mittleren Jugendarbeitslosigkeit im Zeitraum 2011–2015 (H3) auch eine weiter fortgeschrittene Umsetzung Eigenständiger Jugendpolitik zur Folge hat (vgl. Tab. 1).

Hier ergeben sich einige bemerkenswerte Befunde. So zeigt sich in der Tat ein Zusammenhang: Länder mit höherem Anteil an Jugendlichen (14–27 Jahre) sind grundsätzlich aktiver. Abweichend davon ist in der Gruppe der Konventionellen der Jugendanteil am höchsten. In diesem Ländercluster sind zwei Stadtstaaten (Hamburg und Bremen) sowie ein Flächenland mit einem großen städtischen Agglomerationsraum (Hessen) vertreten, in denen die Herausforderung problematischer Stadtentwicklung und entsprechende Ungleichheitsentwicklungen eine besondere Rolle spielt. Hier könnte angenommen werden, dass die Jugendpolitik in diesen Ländern vor allem klassisch auf die Zielgruppe benachteiligter Jugendlicher ausgerichtet ist.

Die zweite Problemdruck-Hypothese betrachtet die mittlere Jugendarbeitslosigkeit (H3). Hierzu wurden die Arbeitslosenquoten für die 15–25-Jährigen im Zeitraum 2011–2015 betrachtet. Die Ergebnisse laufen hier entgegen der erwarteten Richtung: Die Vorreiter weisen die niedrigsten mittleren Quoten auf, während die ambitionierten und zurückhaltenden Nachzügler eine größere Jugendarbeitslosigkeit zeigen. Die Konventionellen fallen erneut aus dem Rahmen, weisen sie doch die zweitniedrigsten Quoten auf und haben den niedrigsten Umsetzungsstand Eigenständiger Jugendpolitik.

5.2.2 Parteiendifferenzhypothese

Ausgehend von der gängigen Parteiendifferenzhypothese wird insgesamt nur ein geringer Effekt der Parteipolitik erwartet (H4). Betrachtet wird die parteipolitische Zusammensetzung der Landesregierungen von 2011 bis 2017 (Tab. 2). „Rechtsorientierte“ Regierungskonstellationen stellen Landesregierungen dar, die allein von der Union (CDU oder CSU) geführt wurden, sowie Landesregierungen, die von einer Koalition aus einer Unionspartei und der FDP gebildet wurden. „Linksorientierte“ Regierungskonstellationen sind Landesregierungen, die allein von der SPD geführt wurden, sowie Landesregierungen, die aus einer Koalition aus SPD und Grünen und/oder Linken gebildet wurden. Andere, zwischen diesen beiden Polen (rechts-links) liegende Konstellationen, fassen wir unter „Andere“.

Tab. 2 Regierungsparteien 2011–2017. (Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage von Daten des Statistischen Bundesamtes)

In der Gesamtschau wird unsere Annahme bestätigt. Es ist kein Zusammenhang zwischen der parteipolitischen Zusammensetzung der Landesregierungen und der Einstufung der Länder in die vier Ländercluster in Bezug auf Eigenständige Jugendpolitik erkennbar.

5.2.3 Machtressourcenansatz

Nach dem Machtressourcenansatz wurde von einem Einfluss der Stärke der Jugendverbände ausgegangen, da diese als stärkste Promotoren Eigenständiger Jugendpolitik gelten können (H5). Zur Operationalisierung des Einflusses wurde hier der Grad der Repräsentation der Jugendverbände in den Landesjugendhilfeausschüssen gewählt. Hier gibt es eine deutliche Varianz, die von 10 % in den beiden Landesjugendhilfeausschüssen Nordrhein-Westfalens bis hin zu 26,7 % in Bremen reicht. Ein Zusammenhang zum Umsetzungsgrad eigenständiger Jugendpolitik ist nicht erkennbar. Vielmehr streut die clusterinterne Varianz erheblich (vgl. Tab. 3).

Tab. 3 Anteil Jugendverbände im Landesjugendhilfeausschuss. (Quelle: Eigene Darstellung)

5.2.4 Pfadabhängigkeit

Aufgrund der Annahme von Pfadabhängigkeiten erwarten wir in Ländern, die traditionell ein höheres Ausgabenniveau für Kinder und Jugendliche haben, eine höhere Aktivität auch bei der Eigenständigen Jugendpolitik (H6). Als für alle Länder vergleichbarer Näherungswert werden die addierten Ausgaben der Jugendarbeit pro Jugendlichem und die Ausgaben der Jugendsozialarbeit pro Jugendlichem verwendet. Jugendarbeit und Jugendsozialarbeit sind deswegen am besten geeignet, da sie mit keinem subjektiven Rechtsanspruch verknüpft sind und damit am ehesten eine eigenständige Prioritätensetzung ausdrücken. Dagegen sind Jugendhilfe- und Kita-Ausgaben mit Rechtsansprüchen verknüpft und daher stärker durch Sozialstruktur und Demographie eines Landes determiniert (vgl. Grohs und Reiter 2017). Dabei ziehen wir die Mittelwerte der jeweiligen Ausgaben im Zeitraum 2011–2015 für die vier Ländergruppen heran (vgl. Tab. 4).

Tab. 4 Ausgaben für Jugendarbeit und Jugendsozialarbeit in Euro pro Einwohner. (Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage von Daten des Statistischen Bundesamtes)

Es zeigt sich entgegen unseren Annahmen ein negativer Zusammenhang: Länder mit einem niedrigeren Ausgabenniveau zeigen entgegen der Erwartung also eher eine höhere Aktivität in der Etablierung der Eigenständigen Jugendpolitik. Dies spricht eher für einen Kompensationseffekt als für Pfadabhängigkeiten. Die – auch mit Bestandserhaltungsinteressen verbundenen – Ausgabenmuster verhindern eine jugendpolitische Expansion an anderer Stelle.

5.3 Zusammenfassende Gesamtanalyse: Fuzzy-Set QCA

Die bisherige Analyse der bivariaten Zusammenhänge zwischen den vier identifizierten Clustern hat den Vorteil der leichten Nachvollziehbarkeit, kann aber zwei zentrale Punkte nicht erklären: zum einen die Ländervarianz innerhalb der Cluster, zum anderen die Wirkung der untersuchten Faktoren in ihrem konfigurativen Zusammenhang. Um diese Fragen zu beantworten, wird die Analyse im Folgenden durch eine Fuzzy-Set QCA ergänzt (Schneider und Wagemann 2007). Die erklärenden Variablen werden in diesem Fall als Bedingungen für das Aktivitätsniveau der Länder in der Eigenständigen Jugendpolitik modelliert. Dabei wird untersucht, ob und inwieweit einzelne Bedingungen oder ihre Kombinationen miteinander notwendig und/oder hinreichend sind, um das Entstehen des OutcomesFootnote 3 zu erklären.

Die Daten zur Verwendung von fsQCA wurden so aufbereitet („kalibriert“), dass die jeweilige Spannweite der Daten für die einzelnen Bedingungen gut abgebildet wird, um den teilweise erheblichen Länderunterschieden gerecht zu werden. Dabei wurde die direkte Methode mit drei Grenzwerten genutzt: e (total exclusion – unterer Grenzwert), c (crossover point – mittlerer Grenzwert) und i (total inclusion – oberer Grenzwert) (Dusa 2018, S. 84 ff.).

Aufgrund der Datenverfügbarkeit umfasst die Kalibrierung (Tab. 5) dabei folgende Bedingungen: Hat das Land einen hohen Anteil Jugendlicher (an der Gesamtbevölkerung 2015), eine gute fiskalische Situation (Schuldenstand pro Kopf als Mittelwert von 2011–2015), eine hohe Jugendarbeitslosigkeit (als Mittelwert von 2011–2015), hohe (addierte) Ausgaben für Jugendliche (Jugendarbeit und Jugendsozialarbeit pro Jugendlichem als Mittlerwert von 2011–2015), einen hohen Anteil Jugendverbände (im Landesjugendhilfeausschuss) und/oder eine Dominanz linker Parteien (in der Landesregierung als Mittelwert 2011–2017)?

Tab. 5 Kalibrierung der Bedingungen. (Quelle: Eigene Darstellung)

Um für die QCA-Analyse nicht definierte (Mittel‑)Werte von 0,5 zu vermeiden, musste die Dominanz linker Parteien eigens kalibriert werden: 1 bei Beteiligung von SPD/Linke an der Regierung, 0,67 bei Dominanz von linken Parteien in der Regierung, 0,51 bei Großer Koalition mit SPD-Dominanz, 0,49 bei großer Koalition mit CDU-Dominanz, 0,33 bei Dominanz rechter Parteien in der Regierung und 0 bei alleiniger CDU/CSU-Regierung. Zur Kalibrierung und Analyse der Daten wurde das Programm „R“ mit den entsprechenden QCA-Softwarepaketen genutzt (Dusa 2018).

5.3.1 Notwendige Bedingungen

Zunächst sollen die Bedingungen auf ihre Notwendigkeit zum Zustandekommen des Outcomes überprüft werden. Eine Bedingung ist genau dann notwendig, „wenn sie immer dann, wenn das Outcome vorliegt, ebenfalls vorliegt“ (Schneider und Wagemann 2007, S. 37).

Tab. 6 enthält in der ersten Spalte die für die Untersuchung interessierenden Werte für die Konsistenz notwendiger Bedingungen. Die Konsistenz zeigt hierbei an, inwieweit das Outcome auch Teil einer Bedingung ist. Wichtig ist hierbei aber auch die Betrachtung der zweiten und dritten Spalte, welche die Gütekriterien Abdeckung und Relevanz der Bedingung enthalten (ebd., S. 212 ff.). Die Abdeckung zeigt an, ob eine Bedingung trivial ist – ob sie also vernachlässigt werden kann, weil sie beispielsweise omnipräsent ist. Die Relevanz wiederum zeigt an, wie groß der Anteil vom Outcome an einer Bedingung ist. In unserer Analyse zeigt eine günstige fiskalische Situation hoheFootnote 4 Konsistenzwerte, die Abdeckung und Relevanz hierbei sind allerdings eher moderat; gute Werte liefert ebenfalls die Betrachtung der Dominanz linker Parteien. Betrachtet man die jeweiligen Werte für das negative OutcomeFootnote 5, also ein Ausbleiben einer starken Ausprägung von Aktivitäten Eigenständiger Jugendpolitik (hier aus Platzgründen nicht abgedruckt), bestätigt sich das unklare Bild. Auch dabei fallen die Werte ähnlich moderat aus und liefern somit keine eindeutige Erklärung; eine gute fiskalische Situation beispielsweise ist in diesem Fall mit 0,829 konsistent, hat aber mit 0,625 und 0,526 eher schlechte Werte für Abdeckung bzw. Relevanz. Als erstes Fazit kann also festgestellt werden, dass die einzelnen Bedingungen nicht notwendig zur Erklärung des Outcomes sind, weder in positiver noch in negativer Weise, sich in ihrer Tendenz aber mit der bivariaten Analyse decken.

Tab. 6 Berechnung notwendiger Bedingungen. (Quelle: Eigene Berechnung)

Bedingungen können auch in Kombination notwendig sein (siehe Tab. 7). Dabei werden ex ante hohe Schwellenwerte für Konsistenz und Abdeckung angesetzt (in diesem Fall jeweils 0,8).

Tab. 7 Berechnung der Kombination notwendiger Bedingungen. (Quelle: Eigene Berechnung)

Eine Kombination aus günstiger fiskalischer Situation und eher linker Regierung liefert brauchbare Werte als notwendige Bedingung des Outcomes. Allerdings liegt mit Sachsen, das einen hohen Wert für das Outcome und die fiskalische Situation aufweist, jedoch eher rechte Regierungen im Untersuchungszeitraum hatte, ein logisch inkonsistenter Fall vor.

Zusammengefasst zeigt sich also, dass die theoretisch angenommenen Konditionen einzeln nicht notwendig sind, um das Outcome zu erklären – eine Kombination aus fiskalischer Situation und Dominanz linker Regierungen scheint allerdings, mit Ausnahme von Sachsen, eine notwendige Kombination von Bedingungen zu sein. Dies spiegelt unsere theoretischen Erwägungen in Ansätzen wider, wenngleich der positive Einfluss der Parteien überrascht.

5.3.2 Hinreichende Bedingungen

In einem zweiten Schritt wird nun überprüft, ob und inwieweit die Bedingungen hinreichend zur Erklärung des Outcomes sind. Hinreichend ist eine Bedingung dann, „wenn sie für jeden untersuchten Fall […] zu dem zu untersuchenden Outcome führt“ (ebd., S. 32) – anders gesagt darf also kein Fall vorliegen, bei dem die Bedingung vorliegt, das Outcome aber nicht (vgl. Tab. 8).

Tab. 8 Berechnung hinreichender Bedingungen. (Quelle: Eigene Berechnungen)

Die Abdeckung gibt im Fall konsistenter hinreichender Bedingungen an, wie viel des Outcomes tatsächlich durch eine Bedingung erklärt wird. Die höchsten Konsistenzwerte erzielen der Anteil Jugendlicher an der Gesamtbevölkerung und erneut eine linke Dominanz der Regierungen, deren Abdeckungswerte eher gut ausfallen. Betrachtet man die Werte für ein negatives Outcome, lassen sich für die Bedingungen ähnliche Werte ablesen. Dies ist für fsQCA-Analysen nichts Ungewöhnliches, da das gleichzeitige Vorhandensein von Bedingungen in Sets für das positive und das negative Outcome möglich ist (Schneider und Wagemann 2007, S. 237). Ein hoher PRI-Wert (proportional reduction in inconsistency, ebd., S. 241 ff.) kann bei der Unterscheidung helfen, für welches Set die Werte ausschlagegebend sind – allerdings lässt sich auch hier keine eindeutige Aussage treffen, da die Werte für das negative Outcome zwar etwas höher, aber immer noch moderat ausfallen. Zusätzlich wird noch die Kombination aus Bedingungen betrachtet, erneut unter Anlage hoher Gütekriterien (siehe Tab. 9).

Tab. 9 Berechnung der Kombination hinreichender Bedingungen. (Quelle: Eigene Darstellung)

Interessanterweise scheint erneut die Kombination aus fiskalischer Situation und linker Regierungsdominanz hinreichend zu sein. Allerdings liefert die linke Regierungsdominanz als alleiniger Erklärungsfaktor auch für das negative Outcome ähnlich hohe Werte, was sich theoretisch nicht nachvollziehen lässt.

Zusätzlich soll noch die sog. Wahrheitstabelle betrachtet werden. Mittels dieser wird „zu jedem Fall die Zugehörigkeit zu allen Kombinationen der einbezogenen Konditionen sowie deren Negationen“ (Berg-Schlosser und Cronqvist 2012, S. 213) berechnet. Anschließend werden die so gefundenen Lösungsformeln hinreichender Bedingungen für das Outcome konservativ – also nur unter Einbezug jener Fälle, für die ein positives, empirisch beobachtbares Outcome vorliegt (vgl. Dusa 2018, S. 173 ff.) – minimiert, um Lösungsformeln zur Erklärung des Outcome zu finden (Tab. 10).

Tab. 10 Ergebnis der Minimierung. (Quelle: Eigene Berechnung)

In zwei der drei gefundenen Lösungsterme taucht erneut die günstige fiskalische Situation auf – allerdings sind die gefundenen Werte für die Gütekriterien gering und die Erklärungskraft der Lösungen daher begrenzt. Dieser Befund wird durch die Analyse für ein negatives Outcome unterstützt, in der die günstige fiskalische Situation mit vergleichbaren Werten ebenfalls eine positive Rolle spielt, was den theoretischen Annahmen zuwiderläuft. Zudem können die drei Terme nur vier Fälle erklären, was zwar einerseits der Anlage hoher Gütekriterien geschuldet ist (Grenzwert für inclS = 0,95), andererseits aber insbesondere im Fall der beiden nicht erklärten „Vorreiter“ (NRW und BW) unbefriedigend ist. Auch wenn die günstige fiskalische Situation in Kombination mit der Dominanz eher linker Regierungen eine Rolle als notwendige Bedingung zu spielen scheint, sind unsere Ergebnisse nicht tragfähig genug, um sie zweifelsfrei als Faktor für die Eigenständige Jugendpolitik benennen zu können.

6 Schlussfolgerungen und Ausblick

Eigenständige Jugendpolitik stellt eine Politikinitiative dar, die ausgehend von EU und Bundesebene diffundiert und jeweils eigene Interpretationen und Handlungsfolgen auf Landes- und Kommunalebene nach sich zieht. Deutlich wurde hier, dass trotz der Unterstützung des Grundanliegens Eigenständiger Jugendpolitik über alle Ebenen hinweg fehlende Kompetenzen auf europäischer und Bundesebene einerseits, finanzielle Restriktionen und andere Prioritätensetzungen auf Landes- und Kommunalebene andererseits eine einfache Implementation verhindern. Damit handelt es sich um ein Beispiel, das jenseits des Nischenthemas Jugendpolitik von Interesse für die politikwissenschaftliche Forschung zu Diffusionsprozessen im Bereich des „Soft law“ und die Voraussetzungen einer erfolgreichen Umsetzung ist. Auf der Ebene der Landespolitik, die im Fokus dieses Beitrages stand, zeigt sich, dass die Länder sehr unterschiedlich mit diesem Innovationsimpuls umgehen. Im Weiteren wird zu zeigen sein, inwiefern diese Initiativen bei ihren Adressaten tatsächlich ankommen, inwiefern also die primär mit den Herausforderungen der Jugendpolitik konfrontierten Kommunen die Initiativen und Programme aufgreifen und umsetzen (Lindner und Pletzer 2017; Pletzer 2017) und wie viele Jugendliche tatsächlich erreicht werden.

Erklärungsfaktoren für die Varianz des bisherigen Umsetzungsstandes Eigenständiger Jugendpolitik aufzudecken, war wesentliches Anliegen dieses Artikels. Dabei konnten herkömmliche Ansätze der vergleichenden Policy-Analyse nur eingeschränkt zur Erklärung der vorzufindenden Muster beitragen. Nach der bivariaten Analyse der Zusammenhänge bei der Integration von Maßnahmen der Eigenständigen Jugendpolitik spielen die Haushaltslage und – in etwas schwächerer Form – eine gewisse „Jugendmacht“ (gemessen am Bevölkerungsanteil) im Land eine Rolle. Die Ergebnisse der QCA identifizieren eine Kombination aus fiskalischer Situation und Dominanz linker Regierungen, mit Ausnahme von Sachsen, als eine notwendige Kombination von Bedingungen. Als hinreichende Bedingungen treten der Anteil an Jugendlichen und die Kombination von günstiger fiskalischer Situation und Dominanz linker Regierungen hervor, wobei hier – allerdings unter der Anlage strenger Kriterien – die Aussagen etwas eingeschränkt werden müssen. Insgesamt ergibt sich ein uneindeutiges Bild. Neben der gemischten Erklärungskraft der ‚üblichen Faktoren‘ scheint Varianz zwischen den Bundesländern dabei auch auf hier nicht betrachtete Faktoren, wie etwa zeitliche Unterschiede in der ‚Entdeckung‘ des Themas und der ‚Sensibilisierung‘ der Akteure im jeweiligen Land oder Offenheit gegenüber EU-Einflüssen, zurückzuführen zu sein.

Die Idee, Jugendpolitik als „eigenständig“ zu betrachten, ist zwar in den meisten Ländern prinzipiell angekommen. Ein neues, einheitliches Policy-Leitbild fehlt dagegen noch und entwickelt sich derzeit nur langsam, vor allem zwischen den Vorreitern unter den Ländern und dem Bund. In diesem Zusammenhang spielt die Einzelinitiative von Akteuren („Entrepreneurship“) und die Existenz von fachlichen Netzwerken eine besonders wichtige Rolle. So sind es in vielen Fällen Akteure aus der Zivilgesellschaft und Jugendverbände, die die wesentlichen Impulse geben (z. B. Rheinland-Pfalz). Die für eine Verstetigung nötigen staatlichen Promotoren finden sich seltener; vor allem sind sie in den Vorreiter-Ländern erkennbar. Der Grad an Institutionalisierung und die Wahl eigener Instrumente ist in fast allen Ländern noch schwach ausgeprägt. Vielmehr bleibt es in der großen Mehrzahl der Länder bei Einzelprojekten ohne kohärenten Gesamtansatz und der Umwidmung ohnehin bestehender Maßnahmen. Ein genuines Set an Instrumenten und stärker institutionalisierten Strukturen findet sich allenfalls in den vier Vorreiter-Ländern. Auch hier muss sich aber die dauerhafte Etablierung der Eigenständigen Jugendpolitik als eigenes Politikfeld über längere Zeit und Regierungswechsel hinweg erst zeigen.