Zusammenfassung
Über die Relevanz der Entwicklung flexiblen Rechnens bei Grundschulkindern herrscht innerhalb der mathematikdidaktischen Diskussion weitgehend Konsens, jedoch gibt es diesbezüglich kaum empirische Erkenntnisse und auch keine expliziten kohärenten Theorien. Im Artikel wird eine Studie vorgestellt, die die Entwicklung flexiblen Rechnens bei Kindern des 2. Schuljahrs am Beispiel der Subtraktion im Zahlenraum bis 100 untersucht. Nach der theoretischen Einordnung und dem Einblick in das Untersuchungsdesign werden ausgewählte Ergebnisse vorgestellt: Dies sind zum einen Tendenzen im Lösungsverhalten und Merkmale, durch die sich flexible Rechner auszeichnen, zum anderen drei Deutungshypothesen sowie deren Genese. Abschließend werden die theoretischen Grundlagen und Ergebnisse in einem Modell zur Rechenwegsentwicklung zusammengefasst.
Abstract
In the mathematics didactics discussion wide consensus prevails on primary students’ development of flexible mental calculation competences. Nevertheless, empirical insights hardly exist and there are no explicit, coherent theories in existence either. In the article, a study is being presented which investigates second grade students’ development of flexible numeracy in the area of subtraction of two digit numbers. Following a theoretical characterization and an insight into the investigation design selected results are being outlined: On the one hand these are tendencies of students’ solving behaviour and features which flexible calculators are characterized by. On the other hand three interpretation hypotheses are being presented as well as their genesis. Concluding, theoretical basics and results are being summarized in a model of development of flexible calculation competence.
Notes
Der Begriff „Zahlenblick“ wird im Abschn. 2.2 geklärt.
„Number sense can be described as a good intuition about numbers and their relationships“ (Howden 1989, 11).
Die Begriffe „Lösungsweg“, „Rechenweg“ und „Vorgehensweise beim Lösen“ werden synonym verwendet.
Eine detaillierte Auflistung und Beschreibung der einzelnen Lernangebote kann in Rathgeb-Schnierer (2006, S. 147–177) nachgelesen werden.
Die Darstellung einer ausführlichen Interviewanalyse zum Einblick in das Verfahren kann im Rahmen dieses Beitrags nicht stattfinden (vgl. dazu Rathgeb-Schnierer 2006, 194 ff.).
Unter strategischen Werkzeugen werden Zahlzerlegung, regelgestützte Veränderung von Aufgaben sowie Nutzung von Hilfsaufgaben, Nutzung des Analogiewissens und Auswendigwissens verstanden. Charakteristisch für diese strategischen Werkzeuge sind ihre Aufgabenunabhängigkeit sowie die Kombinierbarkeit mehrerer strategischer Werkzeuge beim Lösen einer Aufgabe.
Unter Operationskontext werden die Regeln und Gesetze einer Rechenoperation gefasst; Aufgabenfolgekontext meint die Bearbeitungsreihenfolge, in die die Aufgabe eingebunden ist.
Individuelle Zahlpräferenzen verstehen wir als erfahrungsbedingte, persönliche Neigungen zu bestimmten Zahlen. Dies können beispielsweise Zahlen sein, mit denen Kinder aus dem Alltagskontext besonders vertraut sind oder mit denen sie besonders leicht rechnen können, weil deren Eigenschaften (Zerlegungen, Verdopplungen usw.) ihnen besonders vertraut sind.
Zeichen im Interviewausschnitt:
Sprechen beide Interviewpartner gleichzeitig, wird vor die gleichzeitig gesprochenen Teile ein „kleiner als Zeichen“ gesetzt.
– Wenn die Sprechenden sich gegenseitig unterbrechen, wird bei Abbruch und Wiederaufnahme des Sprechens ein Gedankenstrich gesetzt.
Literatur
Anghileri, J. (2001). Intuitive approaches, mental strategies and standard algorithms. In J. Anghileri (Hrsg.), Principles and practices in arithmetic teaching: innovative approaches for the primary classroom (S. 79–94). Suffolk: St. Edmundsbury Press.
Beck, C., & Jungwirth, H. (1999). Deutungshypothesen in der interpretativen Forschung. Journal für Mathematik-Didaktik, 20(4), 231–259.
Beishuizen, M., & Klein, T. (1997). Eine Aufgabe – viele Strategien. Zweitklässler lernen mit dem leeren Zahlenstrahl. Grundschule, 29(3), 22–24.
Beishuizen, M., & Klein, A. S. (1998). The empty number line in Dutch second grades: realistic versus gradual program design. Journal for Research in Mathematics Education, 29(4), 443–464.
Benz, C. (2007). Die Entwicklung der Rechenstrategien bei Aufgaben des Typs ZE ± ZE im Verlauf des zweiten Schuljahrs. Journal für Mathematik-Didaktik, 28(1), 49–73.
Blöte, A. W., Klein, A. S., & Beishuizen, M. (2000). Mental computation and conceptual understanding. Learning and Instruction, 10(3), 221–247.
Brandt, B., & Krummheuer, G. (2000). Das Prinzip der Komparation im Rahmen der Interpretativen Unterrichtsforschung in der Mathematikdidaktik. Journal für Mathematik-Didaktik, 21(3/4), 193–226.
Carpenter, T. P., Franke, M. L., Jacobs, V. R., Fennema, E., & Empson, S. B. (1997). A longitudinal study of invention and understanding in children’s multidigit additon and subtraction. Journal for Research in Mathematics Education, 29(1), 3–20.
Einsiedler, W. (1996). Wissensstrukturierung im Unterricht. Neuere Forschung zur Wissensrepräsentation und ihre Anwendung in der Didaktik. Zeitschrift für Pädagogik, 42(2), 167–191.
Fuson, K. C., & Burghardt, B. H. (2003). Multidigit addition und subtraction methods invented in small groups and teacher support of problem solving and reflection. In A. J. Baroody & A. Dowker (Hrsg.), The development of arithmetic concepts and skills (S. 267–304). London: Erlbaum.
Fuson, K. C., Wearne, D., Hiebert, J. C., Murray, H. G., Human, P. G., Oliver, A. I., Carpenter, T. P., & Fennema, E. (1997). Children’s conceptual structures for multidigit numbers and methods of multidigit addition and subtraction. Journal for Research in Mathematics Education, 28(2), 130–162.
Heinze, A., Marschick, F., & Lipowsky, F. (2009). Addition and subtraction of three-digit numbers: adaptive strategy use and the influence of instruction in German third grade. ZDM – The International Journal on Mathematics Education, 41(5), 591–604.
Heirdsfield, A. M., & Cooper, T. J. (2002). Flexibility and inflexibility in accurate mental addition and subtraction: two case studies. Journal of Mathematical Behavior, 21(1), 57–74.
Heirdsfield, A. M., & Cooper, T. J. (2004). Factors affecting the process of proficient mental addition and subtraction: case studies of flexible and inflexible computers. Journal of Mathematical Behavior, 23(4), 443–463.
Heuvel-Panhuizen van den, M., & Bodin-Baarends, C. (2004). All or nothing: problem solving by high achievers in mathematics. Journal of the Korea Society of Mathematics Education, 8(3), 115–121.
Hoffmann, M. H. G. (2001a). Skizze einer semiotischen Theorie des Lernens. Journal für Mathematik-Didaktik, 22(3/4), 231–251.
Hoffmann, M. H. G. (2001b). Skizze einer semiotischen Theorie des Lernens. In Beiträge zum Mathematikunterricht. Vorträge auf der 35. Tagung für Didaktik der Mathematik vom 5. bis 9. März 2001 in Ludwigsburg (S. 293–296). Hildesheim: Franzbecker.
Hope, J. A. (1987). A case study of a highly skilled mental calculator. Journal for Research in Mathematics Education, 18(5), 331–342.
Howden, H. (1989). Teaching number sense. Arithmetic Teacher, 36(6), 6–11.
Kelle, U. (1994). Empirisch begründete Theoriebildung. Zur Logik und Methodologie interpretativer Sozialforschung. Weinheim: Deutscher Studien Verlag.
Klein, T. (1998). Flexibilization of mental arithmetic strategies on a different knowledge base: the empty number line in a realistic versus gradual program design. Utrecht: Freudenthal Institute.
Krauthausen, G. (1993). Kopfrechnen, halbschriftliches Rechnen, schriftliche Normalverfahren, Taschenrechner: Für eine Neubestimmung des Stellenwertes der vier Rechenmethoden. Journal für Mathematik-Didaktik, 14(3/4), 189–219.
Lorenz, J. H. (1997). Über Mathematik reden – Rechenstrategien von Kindern. Sache – Wort – Zahl, 25(10), 22–28.
Lorenz, J. H. (1998a). Rechenstrategien und Zahlensinn. Grundschulunterricht, 45(6), 11–13.
Lorenz, J. H. (1998b). Das arithmetische Denken von Grundschulkindern. In A. Peter-Koop (Hrsg.), Das besondere Kind im Mathematikunterricht der Grundschule (S. 59–81). Offenburg: Mildenberger.
Macintyre, T., & Forrester, R. (2003). Strategies for mental calculation. In J. Williams (Hrsg.), Proceedings of the British Society for Research into Learning Mathematics, 23(2), 49–54.
Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg; Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport Berlin; Senator für Bildung und Wissenschaft Bremen u. Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur Mecklenburg-Vorpommern (Hrsg.) (2004). Rahmenlehrplan Grundschule Mathematik. Berlin: Wissenschaft und Technik Verlag.
Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg (Hrsg.) (2004). Bildungsplan für die Grundschule. Ditzingen.
Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes NRW (Hrsg.) (2008). Richtlinien und Lehrpläne Grundschule. Schule in NRW, Nr. 2012. Frechen: Ritterbach.
Rathgeb-Schnierer, E. (2006). Kinder auf dem Weg zum flexiblen Rechnen. Eine Untersuchung zur Entwicklung von Rechenwegen von Grundschulkindern auf der Grundlage offener Lernangebote und eigenständiger Lösungsansätze. Hildesheim/Berlin: Franzbecker.
Schütte, S. (2002a). Die Schulung des „Zahlenblicks“als Grundlage für flexibles Rechnen; Die Matheprofis 3. Lehrerband (S. 3–7). München: Oldenbourg.
Schütte, S. (2002b). Aktivitäten zur Schulung des „Zahlenblicks“. Praxis Grundschule, 25, 2 5-12.
Schütte, S. (2004). Rechenwegsnotation und Zahlenblick als Vehikel des Aufbaus flexibler Rechenkompetenzen. Journal für Mathematik-Didaktik, 25(2), 130–148.
Schütte, S. (2008). Qualität im Mathematikunterricht der Grundschule sichern. Für eine zeitgemäße Unterrichts- und Aufgabenkultur. München: Oldenbourg.
Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.) (2005). Beschlüsse der Kultusministerkonferenz. Bildungsstandards im Fach Mathematik für den Primarbereich. Beschluss vom 15.10.2004. München/Neuwied: Luchterhand.
Selter, C. (1999). Flexibles Rechnen statt Normierung auf Normalverfahren. Die Grundschulzeitschrift, 13(125), 6–11.
Selter, C. (2000). Vorgehensweise von Grundschüler(inne)n bei Aufgaben zur Addition und Subtraktion im Zahlenraum bis 1000. Journal für Mathematik-Didaktik, 21(3/4), 227–258.
Selter, C. (2003). Rechnen – im Kopf und mit Köpfchen. Beiträge zum Mathematikunterricht 2003. Vorträge auf der 37. Tagung für Didaktik der Mathematik von 3. bis 7. März 2003 in Dortmund (S. 33–40). Hildesheim/Berlin: Franzbecker.
Selter, C., & Spiegel, H. (2000). Wie Kinder rechnen. Leipzig/Stuttgart/Düsseldorf: Klett.
Steffe, L. P., & Thompson, P. W. (2000). Teaching experiment methodology: underlining principles and essential elements. In A. E. Kelly & R. Lesh (Hrsg.), Handbook of research design in mathematics and science education (S. 267–355). Hillsdale: Erlbaum.
Terhart, E. (1999). Konstruktivismus und Unterricht: Gibt es einen neuen Ansatz in der Allgemeinen Didaktik? Zeitschrift für Pädagogik, 45(5), 629–647.
Thompson, I. (1994). Young children’s idiosyncratic written algorithms for addition. Educational Studies in Mathematics, 26(4), 323–345.
Thompson, I. (2000). Mental calculation strategies for addition and subtraction. Part 2. Mathematics in School, 29(1), 24–26.
Threlfall, J. (2002). Flexible mental calculation. Educational Studies in Mathematics, 50(1), 29–47.
Threlfall, J. (2009). Strategies and flexibility in mental calculation. ZDM – The International Journal on Mathematics Education, 41(5), 541–555.
Torbeyns, J., De Smedt, B., Ghesquière, P., & Verschaffel, L. (2009). Jump or compensate? Strategy flexibility in the number domain up to 100. ZDM – The International Journal on Mathematics Education, 41(5), 581–590.
Verschaffel, L., Torbeyns, J., De Smedt, B., Luwel, K., & Van Dooren, W. (2007). Strategy flexibility in children with low achievement in mathematics. Educational and Child Psychology, 24(2), 16–27.
Wittmann, E. Ch. (1990). Wider die Flut der „bunten Hunde“ und der „grauen Päckchen“: Die Konzeption des aktiv entdeckenden Lernens und des produktiven Übens. In E. Ch. Wittmann & G. N. Müller (Hrsg.), Handbuch produktiver Rechenübungen. Band 1. Vom Einspluseins zum Einmaleins (S. 152–166). Stuttgart/Düsseldorf/Berlin/Leipzig: Klett.
Wittmann, E. Ch., & Müller, G. N. (1990). Handbuch produktiver Rechenübungen. Band 1. Vom Einspluseins zum Einmaleins. Stuttgart/Düsseldorf/Berlin/Leipzig: Klett.
Wittmann, E. Ch., & Müller, G. N. (1992). Handbuch produktiver Rechenübungen. Band 2. Vom halbschriftlichen zum schriftlichen Rechnen. Stuttgart/Düsseldorf/Berlin/Leipzig: Klett.
Wollring, B. (1994). Fallstudie zu frequentischen Kompetenzen von Grundschulkindern in stochastischen Situationen – Kinder rekonstruieren verdeckte Glücksräder. In H. Maier & J. Voigt (Hrsg.), Verstehen und Verständigung (S. 144–180). Köln: Aulis.
Author information
Authors and Affiliations
Corresponding author
Rights and permissions
About this article
Cite this article
Rathgeb-Schnierer, E. Entwicklung flexibler Rechenkompetenzen bei Grundschulkindern des 2. Schuljahrs. J Math Didakt 31, 257–283 (2010). https://doi.org/10.1007/s13138-010-0014-y
Received:
Accepted:
Published:
Issue Date:
DOI: https://doi.org/10.1007/s13138-010-0014-y
Schlüsselwörter
- Flexibles Rechnen
- Eigenständig entwickelte Rechenwege
- Arithmetik in der Primarstufe
- Subtraktion im Zahlenraum bis 100