Strukturen und Mechanismen einer deformierten Wahrnehmung

Zusammenfassung

Daß die Erinnerung an die zwölf Jahre des „Dritten Reiches“ beständig „an kulturelle(r) und politische(r) Aufdringlichkeit . . . zugenommen habe“, hatte Hermann Lübbe (1983, S. 1) in einer Rede im Berliner Reichstag zum 50. Jahrestag des 30. Januar 1933 beklagt. Ernst Nolte griff dieses Motiv unlängst in seiner zwar nicht gehaltenen, doch mittlerweile hinlänglich bekannten Rede über die „Vergangenheit, die nicht vergehen will“ (1986) wieder auf und zog die programmatischen Konsequenzen. Er forderte eine umfassende Revision des NS-Geschichtsbildes und gab mit dem Stichwort von der „asiatischen Präventivtat“ die Richtung an. Zwischen Lübbes Klage und Noltes Geschichtsprogramm lag der 8. Mai 1985, der vierzigste Jahrestag des Kriegsendes, der Tag einer spektakulären Inszenierung und Auslöser für eine bemerkenswerte Debatte, die wie unter einem Vergrößerungsglas das komplizierte und mit vielen Affekten aufgeladene Verhältnis der Bundesrepublik zur NS-Vergangenheit sichtbar werden ließ. In der Entwicklung von Lübbe zu Nolte, vom bloßen Unbehagen über die Aufdringlichkeit des NS zu den neuen konservativen Vorstellungen von der angemessenen Geschichtsschreibung markiert der 8. Mai den Wendepunkt: Während Lübbe und die symbolischen Inszenierungen des 8. Mai noch nach den alten Regeln der Vergangenheitsbewältigung durch Abwehr verfuhren, nimmt die Debatte um Bitburg und Bergen-Belsen bereits vieles von der neuen Geschichtsdeutung vorweg, die Nolte und ein Teil seiner Fachkollegen später mit wissenschaftlicher Autorität auszustatten und in den Rang eines Faktums zu heben versuchen.