Zusammenfassung
Von Rechtssoziologie kann man erst sprechen, seitdem es eine Soziologie gibt, also erst seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Das ist nicht nur eine äußerliche Feststellung, eine gleichsam terminologische Selbstverständlichkeit. Vielmehr gibt die Soziologie dem wissenschaftlichen Interesse für Recht eine eigentümliche Prägung, die sich deutlich von allem unterscheidet, was in der alteuropäischen Tradition über das Verhältnis von Gesellschaft und Recht gedacht worden ist.
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Literatur
Einen guten Überblick vermittelt Manfred Riedel, Zur Topologie des klassisch-politischen und des modern-naturrechtlichen Gesellschaftsbegriffs. Archiv für Rechts-und Sozialphilosophie 51 (1965), S. 291–318. Ferner namentlich Joachim Ritter, Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel. Frankfurt 1969.
«Und demnach ist», schreibt noch Christian Wolff, Grundsätze des Natur-und Völkerrechts. Halle 1754, S. 3, «die Gesellschaft nichts anderes als ein Vertrag einiger Personen, mit vereinigten Kräften ihr Bestes worinnen zu befördern.»
Diese nicht zu überbietende und durch keine Revolution einzuholende Radikalität des bürgerlichen Subjekts’ ist ein Thema, das Bernard Willms beschäftigt. Siehe: Revolution und Protest oder Glanz und Elend des bürgerlichen Subjekts. Hobbes, Fichte, Hegel, Marx, Marcuse. Stuttgart 1969, und Ders., Funktion — Rolle — Institution. Zur politiktheoretischen Kritik soziologischer Kategorien. Düsseldorf 1971.
Eine andere Frage ist, ob sie einen engeren Rechtsbegriff bildet, von dem aus sie dann gewisse archaische Gesellschaften als vorrechtliche Gesellschaften zu charakterisieren hätte, die nur Gewohnheit und Brauchtum, nicht aber Rechtsnormen im engeren Sinne kennen. Dazu und dagegen unten S. 27 f.
Emile Durkheim, De la division du travail social. 2. Aufl., Paris 1902, S. 7.
Nur in dieser Abstraktionslage ist eine Geschichte der Rechtssoziologie heute noch instruktiv. Stärker ins einzelne gehende Darstellungen findet man bei Julius Kraft, Vorfragen der Rechtssoziologie. Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft 45 (1930), S. 1–78; Nicholas S. Timasheff, An Introduction to the Sociology of Law. Cambridge/Mass. 1939, S. 44 ff; oder Dems., Growth and Scope of Sociology of Law. In: Howard S. Becker/Alvin Boskoff (Hrsg.), Modern Sociological Theory in Continuity and Change. New York 1957, S. 424–449.
Die uniiberprüfte Prämisse, daß Widersprüche instabil seien und dadurch zur Ursache von Veränderungen würden, bestimmt noch heute die marxistische Lehre und geht selbst in systemtheoretische Formulierungen ein. Siehe z. B. OSKAR LANGE, Wholes and Parts. A General Theory of System Behaviour. Oxford—Warschau 1965, S. 1 f, 72 ff.
Zu MAINES Stellung im denkgeschichtlichen Kontext von Evolution und Gesellschaft vgl. J. W. Burrow, Evolution and Society. A Study in Victorian Social Theory. Cambridge/Engl. 1966, S. 137 ff.
In: Ancient Law. Its Connections With the Early History of Society and Its Relation to Modern Ideas. 1861. Zit. nach der Ausgabe The World’s Classics, London—New York—Toronto 1954, S. 141. Als neuere Würdigung der daran sich anschließenden Diskussion vgl. Manfred Rehbinder, Status — Rolle — Kontrakt. Wandlungen der Rechtsstruktur auf dem Wege zur offenen Gesellschaft. In: Festschrift für Ernst E. Hirsch, Berlin 1967, S. 141–169; gekürzt und überarbeitet auch in Hirsch/Rehbinder, a. a. O., 5. 197–222.
Es gibt natürlich Ausnahmen. Die für die liberale Staats-und Gesellschaftslehre wichtigste Ausnahme liegt in der Institution der Grundrechte. Deren unmittelbarer Bezug zur funktionalen Differenzierung der Gesellschaft tritt freilich nicht in der klassischen Dogmatik, sondern erst in der rechtssoziologischen Analyse ans Licht. Vgl. Niklas Luhmann, Grundrechte als Institution. Ein Beitrag zur politischen Soziologie. Berlin 1965.
In der neueren Forschung hat diese These sich erhebliche Kritik und weitreichende Modifikationen gefallen lassen müssen. Siehe vor allem Richard D. Schwartz/James C. Miller, Legal Evolution and Societal Complexity. The American Journal of Sociology 70 (1964), S. 159–169.
Wir werden im nächsten Kapitel sehen, daß in der Tat die Frage der Abwicklung von Enttäuschungen für die Rechtsbildung grundlegende Bedeutung hat. Vgl. S. 41 f, 53 ff. Bei Durkheim selbst rutscht die Begründung ab in eine rein physiologische Behandlu ig des Enttäuschungserlebnisses (a. a. 0., S. 64 f.)
Siehe: Rechtssoziologie. (Hrsg. Johannes Winckelmann) Neuwied 1960; und ferner die entsprechenden Passagen in: Wirtschaft und Gesellschaft. Studienausgabe, Köln—Berlin 1964.
Vgl. als volle Explikation des Parsoxsschen Argumentes Talcott Parsons, The Structure of Social Action. New York 1937. Ferner DERS., The Place of Ultimate Values in Sociological Theory. The International Journal of Ethics 45 (1935), S. 282–316, und mit besonderer Blickrichtung auf die Rechtssoziologie Ders., Unity and Diversity in the Modern Intellectual Disciplines. The Role of the Social Sciences. In: Ders., Sociological Theory and Modern Society. New York 1967, S. 166–191.
Vgl. die aus dem Nachlaß herausgegebene Schrift: Emile Durkheim, Leçons de sociologie, physique des moeurs et du droit. Paris 1950; René Hubert, Science du droit,sociologie juridique et philosophie du droit. Archives de philosophie du droit et de sociologie juridique, 1931, S. 43–71 (insbes. 55 ff); ferner kommentierende Bemerkungen zu dieser Tendenz von François Terr, La sociologia giuridica in Francia. In: Renato Treves (Hrsg.), La sociologia del diritto. Mailand 1966, S. 303–343 (310 ff).
Vgl. auch die Kritik der Weberschen Rechtssoziologie bei Georges Gurvitch, Grundzüge der Soziologie des Rechts. Neuwied 1960, S. 37 ff, als zu eng, zu sehr an die Rechtsdogmatik anschließend. Anders urteilt Talcott Parsons, Wertgebundenheit und Objektivität in den Sozialwissenschaften. Eine Interpretation der Beiträge Max Webers. In: Max Weber und die Soziologie heute. Verhandlungen des 15. Deutschen Soziologentages, Tübingen 1965, S. 39–67 (54 ff), der Webers Rechtssoziologie eine zentrale Stellung in seinem Gesamtwerk einräumt.
Was sich zum Beispiel daran ablesen läßt, daß er in seiner Rechtssoziologie, a. a. O. (1960), S. 53 ff, an der Trennung von soziologisch-empirischem und juristisch-normativem Rechtsbegriff festhält, die er mit seinem Handlungsbegriff selbst unterläuft.
Siehe vor allem die grundsätzlichen Formulierungen in: Talcotr Parsons/ Edward A. Shils (Hrsg.), Toward a General Theory of Action. Cambridge/Mass. 1951, S. 14 ff, 105 ff. Zu kritischen Verfeinerungen dieser These Näheres unten S. 33 ff.
Vgl. z. B. Parsons/Shils, a. a. O., S. 105: «… this common culture, or symbol system (das die Komplementarität des Erwartens gewährleiste), inevitably possesses in certain aspects (!) a normative significance for others» — eine für Parsons Stil bezeichnende, strategisch placierte Unschärfe, die die Aussage so weit abschwächt, daß offenbleibt, wie weit die normative Komponente in der Struktur sozialer Systeme reicht.
Siehe z. B. Talcott Parsons, Durkheim’s Contribution to the Theory of Integration of Social Systems. In: Kurt H. Wolff (Hrsg.), Emile Durkheim, 1858–1917. Columbus/Ohio 1960, S. 118–153 (121 f): «The structure of a society, or any human social system, consists in (is not simply influenced by) patterns of normative culture which are institutionalized in the social system and internalized (though not in identical ways) in the personalities of its individual members.» Der Grund dieser Gleichsetzung von Norm und Struktur wird von Kritikern oft verkannt, z. B. von Joachim E. Bergmann, Die Theorie des sozialen Systems von Talcott Parsons. Eine kritische Analyse. Frankfurt 1967.
Vgl. insbes. Talcorr Parsons, Evolutionary Universals in Society. American Sociological Review 29 (1964), S. 339–357, und Ders. Societies. Evolutionary and Comparative Perspectives. Englewood Cliffs/N. J. 1966; Ders., The System of Modern Societies. Englewood Cliffs/N. J. 1971.
Ostens — für Oliver W. Holmes, Roscoe Pound, Louis D. Brandeis oder Benjamin N. Cardozo.
Als Rüdcblidc auf die deutsche Diskussion vgl. Johann Edelmann, Die Entwidclung der Interessenjurisprudenz. Bad Homburg—Berlin—Zürich 1967.
Neudruck Berlin 1967. Als eine Einführung in die systematischen Grundgedanken vgl. auch Manfred Rehbinder, Die Begründung der Rechtssoziologie durch Eugen Ehrlich. Berlin 1967.
Am bemerkenswertesten dürfte noch der Versuch (Grundlegung, a. a. O., S. 131 ff) sein, das Spezifische des Rechts vom Enttäuschungserlebnis, das heißt von den psychischen und gesellschaftlichen Reaktionen auf Verstöße her zu bestimmen — ein von Juristen wegen seiner Unklarheit mit Hohn und Verachtung empfangener Gedanke. Man vergleiche damit den oben S. 16 referierten Ansatz DURKHEIMS sowie die unten S. 41 f, 53 ff gegebene Begründung.
Vgl. dazu vor allem das unabgeschlossene Spätwerk: Eugen Ehrlich, Die richterliche Rechtsfindung auf Grund des Rechtssatzes. Jherings Jahrbücher für die Dogmatik des bürgerlichen Rechts 67 (1917), S. 1–80, neu gedruckt in DERS., Recht und Leben. Gesammelte Schriften zur Rechtstatsadhenforschung und zur Freirechtslehre. Berlin 1967, S. 203 ff, sowie DERS., Die juristische Logik. Tübingen 1918.
Siehe namentlich Josef Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts. Tübingen 1956.
Siehe Ulrich Drobnig, Rechtsvergleichung und Rechtssoziologie. Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht 18 (1953), S. 295–309. Ausführlicher dazu Jerome Hall, Comparative Law and Social Theory. O. O. (Louisiana State UP) 1963; Andreas Heldrich, Sozialwissenschaftliche Aspekte der Reditsvergleidiung. Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht 34 (1970), S. 427–442, mit weiteren Hinweisen.
Anzumerken ist, daß bereits Hegel betont, daß für die bürgerliche Gesellschaft das Recht an sich zum positiven Gesetz wird — und dem wie selbstverständlich anfügt, daß «es nicht darum zu tun sein kann, ein System ihrem Inhalte nach neuer Gesetze zu machen, sondern den vorhandenen gesetzlichen Inhalt in seiner bestimmten Allgemeinheit zu erkennen, d. i. ihn denkend. zu fassen» (Grundlinien der Philosophie des Rechts § 211). Die Formulierung zielt konkret gegen SAVIGNYS Zweifel am «Berufe unserer Zeit zur Gesetzgebung», zeigt aber darüber hinaus, daß für Hegel die Positivität des Gesetzes nicht auch schon laufende Änderbarkeit implizierte.
Anzumerken ist, daß Lion Duguit (insbes. in: L’état, le droit objectif et la loi positive. Paris 1901) auf der Grundlage der Durkheimschen Soziologie zwar eine Theorie des positiven Rechts zu entwickeln sucht, das Phänomen der Positivität aber auf kennzeichnende Weise verfehlt: Positives Recht ist für ihn lediglich «constatation» einer vorpositiven «règle de droit», die als unmittelbarer Ausfluß der sozialen Solidarität gesehen wird. Ähnlich Jean Cruet, La vie du droit et l’impuissance des lois. Paris 1908.
Ehrlich, Grundlegung, a. a. O., S. 330, bemerkt zum Beispiel zum Vordringen des Gesetzesrechts auf Kosten des Richterrechts: «Womit dies zusammenhängt, ist schwer zu sagen, jedenfalls ist es keine erfreuliche Erscheinung.»
Sehr explizit verwendet zum Beispiel Rene Worms, Organisme et société. Paris 1895, diesen Begriff des Organismus als Basis der Analogie. zu können oder ihn doch zu reduzieren auf ein Geflecht sozialer Beziehungen. Das Abstraktionsinteresse zielte mehr auf Methoden und Begriffe, die auf alle sozialen Beziehungen anwendbar seien, und diese Abstraktionsrichtung führte nicht zu Aussagen über das umfassende Sozialsystem Gesellschaft. Auch aus methodischen Gründen arbeitete die fruchtbare Forschung jetzt mikrosoziologisch. Die einzige bedeutsame Neuerscheinung der Rechtssoziologie, Theodor Geigers Norstudien zu einer Soziologie des Rechts Se, hat denn auch ihre Stärke in dem Versuch, Rechtssoziologie als empirische Erforschung normvermittelter kausaler Beziehungen neu zu begründen. Neueste systemtheor
Aufl. Kopenhagen 1947; jetzt Neuwied—Berlin 1964.
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Luhmann, N. (1983). Klassische Ansätze zur Rechtssoziologie. In: Rechtssoziologie. WV studium, vol 1. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-95699-6_2
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