Zusammenfassung
Das Interesse an der klassischen Modernisierungstheorie verblaßte Ende der sechziger Jahre: „Sometime in the later 1960s, between the assassination of President Kennedy and the San Francisco ‚love‘ summer of 1967, modernization theory died“ (Alexander 1994: 175). Der wirtschaftliche Aufstieg Japans und der ‚vier kleinen Tiger‘ (Hong Kong, Singapur, Südkorea, Taiwan) ließ das Interesse an der Theorie gesellschaftlicher Modernisierung jedoch wieder erwachen. Die Mittel der Dependenztheorie waren nicht geeignet, um diese Entwicklung zu erklären. Doch auch die klassische Modernisierungstheorie konnte nicht ohne Korrekturen wieder aufgenommen werden. Sie hatte einen engen Zusammenhang zwischen wirtschaftlichen und bestimmten soziokulturellen Entwicklungen begründet: ‚Modernisierung‘ war zugleich Vorbedingung und Ausdruck einer erfolgreichen ‚Industrialisierung‘. Einem geläufigen Schema folgend, lassen sich Industrialisierung und Modernisierung als zwei Seiten desselben geschichtlichen Prozesses begreifen.50 Industrialisierung bezeichnet die technisch-wirtschaftliche, Modernisierung hingegen die soziokulturelle (und auch politische) Dimension dieses Wandels. Eine Nachahmung des westlichen Industrialisierungsprozesses müßte aus Sicht der Modernisierungstheorie auf ähnliche soziokulturelle Voraussetzungen und ‚Nebenwirkungen‘ verweisen. Trotz erfolgreicher Industrialisierung lassen viele Länder der Region jedoch einige ‚moderne‘ Elemente vermissen: Demokratie oder Individualismus sind nach wie vor eher die Ausnahme. Aufgrund dieser Unterschiede versteht Peter L. Berger die Modernisierung in Ostasien als ein experimentelles Setting: Ein ähnlicher Prozeß, die Industrialisierung, habe verschiedene Reaktionen hervorgerufen. Ostasien könne deshalb als eine „non-individualistic version of modernity“, als ein ‚Kontrollexperiment‘ der westlichen Entwicklung gesehen werden (Berger 1988: 6).
An art collector will naturally be drawn to Florence, a mountain climber to the Himalayas. In very much the same way a social scientist interested in modernization will have his attention fixed on East Asia.
Peter L. Berger (1988: 3)
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Literatur
Vgl. etwa, speziell im Hinblick auf Asien, Chen (1980).
In konkreten Zahlen bedeutete der Aufschwung in den vier Tigerstaaten ein Wachstum des Bruttoinlandsprodukts von durchschnittlich über 8% im Zeitraum 1965–80 und 5,3 bis 8,2% 1980–86 (Wu/Tai 1989: 40). Im Jahr 1994 wuchs die gesamte ostasiatische Region wiederum um 9,6% (Weltbank 1995a: 71).
Webers Studie zu Konfuzianismus und Taoismus ( 1988: 276–536) bezog sich fast ausschließlich auf China. Aufgrund ähnlicher religiöser Orientierungen in anderen Ländern der Region (Korea, Vietnam, Taiwan, zum Teil Japan) wurde seine These dann verallgemeinert. Näheres dazu weiter unten.
Die Bezeichnung Post-Konfuzianismus, die im weiteren verwendet wird, soll verdeutlichen, daß es sich beim hier interessierenden Phänomen bereits um eine Transformation traditioneller Wertsysteme handelt, die durch die Berührung mit industriegesellschaftlichen Phänomenen induziert wurde. Andere Benennungen wie ‚Neo-Konfuzianismus‘ oder ‚Meta-Konfuzianismus‘ (Weggel 1990; 1993; 1994: 57ff) sind m.E. wenig glücklich, da sie entweder mit einer philosophiegeschichtlichen Terminologie kollidieren (so im Falle des Neo-Konfuzianismus) oder sprachlich mißverständlich sind: der ‚Meta‘-Konfuzianismus soll ja gerade kein ‚Über‘-Konfuzianismus sein, sondern das durch die Alltagsprobleme modifizierte „Regelwerk des Kleinen Mannes (also eine Art Bauern-, Händler- und Handwerker-Konfuzianismus)“ (Weggel 1993: 226 ).
Diese Umpolung geriet schnell in die Kritik: „If Confucianism explains high growth today, it must equally explain the lack of it yesterday, the years of savagery and civil war in China, Japanese imperialism and all the rest“ (N. Harris 1989: 411). Ähnliche Mängel monieren Clegg/Redding (1990).
Vgl. zu den Punkten des ‚kulturellen Modells‘ auch Redding (1988: 101).
Die Konzepte von ‚Äquivalent‘ und ‚Analogie‘ im kulturellen Bereich wurden durch Studien der japanischen Entwicklung angeregt, wie sie beispielsweise Robert N. Bellah (1957) vorlegte. Später äußerte er jedoch starke Bedenken gegen Versuche, die wirtschaftliche Entwicklung auf das Vorhandensein bestimmter ökonomischer Motivationen zu reduzieren: „Die Konsequenzen für die Wirtschaftsentwicklung hängen von der institutionellen Kanalisierung von Motiven sicherlich ebenso sehr ab, wie vom Vorhandensein oder Nicht-Vorhandensein bestimmter Motive“ (Bellah 1973: 181).
Die Verbindung zwischen kulturellen Werten und wirtschaftlichem Handeln wird hier teilweise als rein tabellarische Korrelation zwischen ‚häufig‘ genannten Gründen für den Wirtschaftserfolg und postulierten ‚Werten‘ des Konfuzianismus hergestellt, etwa nach dem Schema: ‚Innovation ist auch dem Konfuzianismus nicht fremd ...‘. Eine solche, wichtige Kausalitätsfragen nicht ausreichend berücksichtigende Vorgehensweise findet sich etwa bei Cornelssen (1991).
Im Anschluß an die Darstellung Mertons faßt Elster (1981: 193) diese folgendermaßen zusammen: „Wir sagen, daß das Phänomen X durch seine Funktion Y für die Gruppe Z dann und nur dann erklärt wird,wenn: (1) Y eine Wirkung von X ist; (2) Y für Z einen Nutzen bringt; (3) Y von den Handelnden, die X hervorbringen, unbeabsichtigt ist; (4) Y von den Handelnden in Z nicht erkannt wird; (5) Y durch ein kausales feedback X aufrechterhält, indem es die Gruppe Z durchdringt.“ Insbesondere der letztgenannte Kausalmechanismus ist selten Gegenstand der Diskussion.
Diese Aspekte betonen Bürklin (1993), Dürr/Hanisch (1990: 10), Nakajima (1994: 116f.), Redding (1990: 44ff), Staiger (1991) sowie Weggel (1990).
In diesem Sinne: Tai Hung-chao (1989: 22f.) und Weggel (1990: 227ff.); bezogen auf unternehmerisches Handeln Wong (1988; 1989); zum letzten Punkt ausführlich Schmiege-low (1991).
Obwohl Weber seine Argumentation auch als Kritik materialistischer Modelle verstand, „so kann es dennoch natürlich nicht die Absicht sein, an Stelle einer einseitig ‚materialistischen‘ eine ebenso einseitig spiritualistische kausale Kultur-und Geschichtsdeutung zu setzen“ (Weber 1988: 205).
Die funktionale Analogie beruht deshalb auf einer fragwürdigen Abstraktion von Webers historischer Erklärung (Tu 1989: 85). Zwischen Entstehung und Übernahme des kapitalistischen Wirtschaftssystems unterscheidet auch Wallerstein (1979b: 141f.), der Webers Religionsstudien hier richtig einordnet. Berücksichtigung in der Modernisierungstheorie erfährt dieser Aspekt beispielsweise bei Tai Hung-chao (1989: 26) sowie bei Levy (1992), der die Funktion des Konfuzianismus für die Entstehung („first-comers“) und Aneignung („latecomers“) der Modernisierung verschieden beurteilt: „As such Confucianism may under some circumstances be more of a stimulus or more relevant to the development of modernization for latecomers than it ever was for the first-corners or any alternative possible first-corners“ (Levy 1992: 17).
Hier, Webers Terminologie folgend, verstanden im Sinne des rationalen Kapitalismus. Dieser ist von anderen Formen abzugrenzen, die sich nicht durch das Streben „nach immer erneutem Gewinn“ (Weber 1988: 4), sondern durch die kurzfristige Nutzung von Vorteilen auszeichnen. Der historisch einzigartige rationale Kapitalismus dagegen zeichnet sich durch die Kombination einer rationellen Betriebsführung und Kapitalrechnung mit der Organisation von Arbeit als freier Lohnarbeit und der formalen Rechtssetzung aus.
Dies vor allem deshalb, da die (meist englischsprachigen) Autorinnen eher mit der Argumentation der Protestantischen Ethik vertraut sind — denn über dieses Werk gibt es eine umfangreiche Sekundärliteratur (siehe beispielsweise Marshall 1982 und Poggi 1983).
Der Aspekt des Vergleichs tritt in Konfuzianismus und Taoismus an vielen Stellten hervor, wenn Weber die chinesische Entwicklung mit der abendländischen kontrastiert; siehe zu diesem Punkt Chon (1992) und Richter/Waligora (1989).
Genauer: „die Standesethik einer literarisch gebildeten weltlich-rationalistischen Pfründnerschaft“ (Weber 1988: 239) und — im Gegensatz zu transzendenten Konzeptionen — eine „Lehre weltlicher Sozialgesinnung“ (Needham 1988: 105). Die Anwendung religionssoziologischer Konzepte auf asiatische Glaubenssysteme ist somit generell nur beschränkt möglich. Den asiatischen ‚Religionen‘ (Buddhismus, Hinduismus, Konfuzianismus, Taoismus) fehlt zum Beispiel der transzendetal begründete Universalitätsanspruch der christlichen Religion, „weil mangels eines Religionsbegriffs keine den Versuch unternehmen konnte, ihren Wahrheitsanspruch in einen Ausschließlichkeitsanspruch umzuwandeln“ (Tenbruck 1993: 58). Vgl. dazu auch Cohn (1969), Matthes (1993) und Von der Mehden (1986).
In seiner Interpretation der fehlenden ‚Spannung‘ im Konfuzianismus übersieht Weber allerdings, daß sich diese Spannung nicht nur zwischen Hinterwelt und Welt entwickeln kann, sondern auch im Mißverhältnis zwischen möglicher Ordnung der Welt und dazu einsetzbaren Mitteln bestehen kann. Genau eine solche Konstellation sieht Metzger (1983) im klassischen Konfuzianismus.
Es sei an dieser Stelle angemerkt, daß Weber auf eine wichtige Modifikation konfuzianischen Gedankengutes nicht ausfiihrlich eingegangen ist: die Erscheinung des ‚Neo-Konfuzianismus‘. Dieser kann als Reaktion der Intellektuellenschichten auf die Begegnung mit dem aus Indien stammenden Buddhismus und mit dem ‚volksnäheren‘ Taoismus verstanden werden (vgl. Tu 1983). Einige Elemente des Buddhismus wurden als kompatibel mit den Ansichten des Konfuzianismus ausgewiesen und integriert — eine synkretistischer Prozeß im Sinne von Margaret Archer (1988: 158f.).
Eine ähnliche ‚Wahlverwandtschaft‘ zwischen sozialer Lage und Weltanschauung vermutet auch Max Scheler in seiner Wissenssoziologie. Er meint, daß „die Kategorialsysteme des Anschauens, Denkens, Wertens zwar nicht ihrer Geltung und ihrem möglichen Ursprung nach, wohl aber in ihrer Selektion und Auswahl nach auch klassenmäßig bestimmt sind“ (Scheler 1960: 171; Herv. im Original). Vgl. dazu auch Bourdieu (1971: 10): „Les demandes religieuses tendent à s‘organiser autour de deux grandes types qui correspondent aux deux grandes types des situations sociales, soit les demandes de légitimation de l‘ordre établi propres aux classes privilégiées, et les demandes de compensation propres aux classes défavorisées.“
Zur Unterscheidung dieser Interessensbegriffe bei Weber siehe Sprondel (1973).
Eisenstadt (1983) weist auf die Bedeutung dieses Punkts hin: Die enge Anbindung des Konfuzianismus an das politisch-kulturelle Zentrum Chinas führte zum „Fehlen eines religiösen Zentrums, das mit dem politischen bei der Situationsdefinition hätte ernsthaft konkurrieren können“ (1983: 388).
In dieser Argumentationslinie sind interessante Parallelen zwischen Webers Vorgehen und der Figurationssoziologie von Norbert Elias (1976a, b) zu erkennen.
Die Herabstufung magischer Praktiken in Webers Entwicklungstypologie ist kein Glanzpunkt der Analyse. Der Begriff ‚Magie‘ entstammt der christlichen Kulturgeschichte und ist etwa zeitgleich mit dem der ‚Religion‘ entstanden; für ihn gelten deshalb auch die gleichen Vorbehalte im interkulturellen Vergleich (siehe Fußnote 66 in diesem Teil). Joachim Matthes bemerkt dazu: „Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie und ist gerade darin erhellend, daß sich Matteo Ricci zu Beginn des 17. Jahrhunderts in China veranlaßt sah, die höchst ‚pragmatischen‘ Einwände seiner konfuzianischen Gesprächspartner gegen die Vorstellung von Jungfrauengeburt und von den Wundem, die Jesus Christus vollbracht habe, in der Weise zu übersetzen, die Konfuzianer nähmen die christliche Lehre als ‚Magie‘ wahr“ ( 1993: 25 ).
Vgl. hierzu insbesondere Metzger (1983), der herausstellt, daß aus der geringen Spannung zwischen Welt und Hinterwelt keineswegs auf eine rundum optimistische Welteinstellung geschlossen werden kann. Im Gegenteil herrschte in China ein Gefühl ‚metaphysischer‘ Bedrängnis vor, das aus einem Mißtrauen in die vorhandenen Heilsmittel resultierte.
Siehe dazu die umfangreichen Belege bei Needham (1988).
Neben den im folgenden angeführten (soziokulturellen) Faktoren sind natürlich auch geographische und andere ökologische Bedingungen für die unterschiedliche Entwicklung Asiens und Europas verantwortlich. Zu diesem hier nicht weiter behandelten Aspekt siehe Jones (1981).
Siehe zur Terminologie Kapitel 1.4.3.
Vgl. die Argumentation der soziokulturellen Evolutionstheorie von Burns/Dietz (1995).
Hierzu ausführlich Hernes (1989: 142f).
Vgl. für die Diskussion der Folgen dieser Tatsache für die Entwicklungspolitik: von der Ohe et al. (1982) sowie die Beiträge in Atteslander (1993) und Institut für Auslandsbeziehungen (1987).
Siehe Kapitel 1.4.2.
Dies wird auch von neoklassischen Wirtschaftswissenschaftlem anerkannt. Gemäß der „20%-Formel“ (Fukuyama 1995: 13ff.) würden sie jedoch entgegnen, wirtschaftliche Handlungen seien immer noch zu 80% durch rationale Wahlhandlungen erklärbar, die restlichen 20% eventuell durch soziale Regeln und Normen. Zum Wohle wissenschaftlicher Exaktheit halte man sich da lieber an die leicht erklärbaren 80%.
Vgl. hierzu Swidler (1986).
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Holzer, B. (1999). Die sozio-kulturelle Dimension der Industrialisierung. In: Die Fabrikation von Wundern. Forschung Soziologie, vol 48. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-99381-6_3
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