Zusammenfassung
Kant unterscheidet, wie gezeigt, zwischen inneren und äußeren Rechten. Die inneren Rechte besagen einen Anspruch auf einen gleichen maximalen Spielraum der Ausübung äußerer Handlungsfreiheit, dessen Wahrung sich alle Handlungsfähigen wechselseitig persönlich schulden und erforderlichenfalls zu erzwingen befugt sind. Diese Rechte stehen im Prinzip fest und sind insofern statisch. Dies schließt freilich nicht schon aus, dass sich unter bestimmten Umständen eine besondere Dringlichkeit einzelner Rechte ergeben kann und dass Lernfortschritte möglich sind, wenn es die Frage zu beantworten gilt, in welchen Einzelrechten das innere Recht besteht. Das rechtliche Postulat zeigt aber auch, dass das angeborene innere Recht Rechte enthält, unter bestimmten Voraussetzungen Ansprüche auf äußere Gegenstände zu erwerben, und folglich die Befugnis einschließt, das innere Recht um äußere Rechtsansprüche dynamisch zu erweitern. Kant verfolgt die verschiedenen Arten von äußeren Rechtsansprüchen sowie die Möglichkeiten oder (im Falle des dinglich-persönlichen Rechts) Notwendigkeiten ihres Zustandekommens zunächst im »Naturzustand«, d. h. unabhängig von jeder staatlichen Ordnung. »Naturzustand« meint dabei nicht eine geschichtlich-faktische Situation, sondern eine normativ relevante Idee. Diese Idee erlaubt es einerseits, die grundsätzlichen rechtlichen Möglichkeiten und Befugnisse der Personen zu erkennen.
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Notizen
Dies wird von vielen Interpreten übersehen, so etwa von Hans-Georg Deggau, der behauptet: »Kants Argument beruht auf der Annahme der natürlichen Schlechtigkeit der Menschen, die die dauernde Möglichkeit der Gewalttätigkeit gegeneinander einschließt.« Hans-Georg Deggau, Die Aporien der Rechtslehre Kants, Stuttgart: Frommann-Holzboog 1983, 240.
Deggau sieht Kant dann genötigt, dem Argument »den Schein des Empirischen zu nehmen« (p. 241), ein Versuch, dem offensichtlich kein Erfolg beschieden sein kann. Deggau macht deutlich, in welche Probleme das Ausgehen von einer solchen Annahme führt. Erstaunlich ist aber, dass er wie selbstverständlich davon ausgeht, Kant hätte diese offenkundigen Probleme nicht bemerkt. — Das Ungenügen eines letztlich nur empirisch begründbaren Ausgangspunktes wird von Terry Pinkard klar gesehen. Allerdings führt ihn dies zu einer Interpretation, die meines Erachtens die Ebene des Rechts gleich überspringt und deshalb nicht mehr verständlich machen kann, warum sich die Notwendigkeit des »rechtlichen Zustands« aus dem äußeren Recht ergibt: »One can be an autonomous agent acting according to self-imposed maxims only to the extent, therefore, that one is a member of such a collectivity.« Terry Pinkard, Kant, Citizenship, and Freedom, in: Otfried Höffe (Hg.), Immanuel Kant. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, Berlin: Akademie-Verlag 1999, 155–172, 156–164 (das Zitat p. 162).
Zur Zensur in Preußen unter Friedrich Wilhelm II. und seinem Minister Johann Christoph von Wöllner siehe Frederick C. Beiser, Enlightenment, Revolution, and Romanticism. The Genesis of Modern German Political Thought 1790–1800, Cambridge, MA: Harvard University Press 1992, 48–53
siehe auch Peter Unruh, Die Herrschaft der Vernunft. Zur Staatsphilosophie Immanuel Kants, Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 1993, 34–39
für Kants eigenen Zensurkonflikt im Zusammenhang der Religionsschrift siehe Streit 11, 267–274 = VII, 5–11; siehe dazu auch Christoph Schulte, radikal böse. Die Karriere des Bösen von Kant bis Nietzsche, München: Fink 1988 2. Aufl. 1991, 13–18.
Günther Bien, Revolution, Bürgerbegriff und Freiheit. Über die neuzeitliche Transformation der alteuropäischen Verfassungstheorie in politische Geschichtsphilosophie, in: Philosophisches Jahrbuch 79 (1972), 1–18, 7–9
auch in: Zwi Batscha (Hg.), Materialien zu Kants Rechtsphilosophie, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1976, 77–101, 82–84.
»Die Formen Republik und Despotie erscheinen nicht mehr in der Reihe der Verfassungstypen oder Staatsformen, sie sind herausgenommen und stehen quer zu ihnen; sie repräsentieren den Geist von Verfassungen und den Bezug auf eine ›Idee‹. Kant spricht präzise von Republikanismus und Despotismus und begründet damit den Unterschied zwischen der klassischen Theorie der ›Staatsformen‹ (die für Kant dann nur mehr ›Herrschaftsformen‹ sind) und dem spezifisch neuzeitlichen Prinzip der in einem qualitativ neuen Sinne politischen, nämlich letztlich allein moralisch definierbaren ›Regierungsart‹. […] Entscheidend ist schließlich die damit in das ältere statische System eindringende geschichtsphilosophische Bewegungstendenz (R. Koselleck).« (p. 8 f. n. 27 bzw. [Batscha] 97). Siehe auch Günther Bien, Art. »Herrschaftsform(en)«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, 1096–1099.
Dies betont zu Recht Günther Maluschke, Philosophische Grundlagen des demokratischen Verfassungsstaates, Freiburg/München: Alber 1982, 125.
Siehe zu diesem Themenkomplex, insbesondere auch zur Rolle von Universität und Philosophie, den Aufsatz von Günther Bien, Räsonierfreiheit und Gehorsamspflicht. Die Universität und der Prozeß der Aufklärung in Kants staatsrechtlichen Schriften, in: Gerhard Funke (Hg.), Akten des 4. Internationalen Kant-Kongresses Mainz 1974 II.2, Berlin: de Gruyter 1974, 617–632.
Einen Überblick über die Diskussion vermitteln Peter Unruh, Die Herrschaft der Vernunft. Zur Staatsphilosophie Immanuel Kants, Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 1993, 183–193
Allen D. Rosen, Kant’s Theory of Justice, Ithaca, NY: Cornell University Press, 1993, 173–178
Franco Zotta, Kant und der Besitzindividualismus, in: Richard Saage, Eigentum, Staat und Gesellschaft bei Immanuel Kant, 2. aktual. Aufl. Baden-Baden: Nomos-Verlagsgesellschaft 1994, 9–42, 35–42
Mark LeBar, Kant on Welfare, in: Canadian Journal of Philosophy 29 (1999), 225–250
Franco Zotta, Immanuel Kant. Legitimität und Recht — Eine Kritik seiner Eigentumslehre, Staatslehre und seiner Geschichtsphilosophie, Freiburg/München: Alber 2000, 105–117.
Siehe Alexander Kaufman, Welfare in the Kantian State, Oxford: Clarendon Press 1999, 26 f.
Dieser Auffassung scheint Otfried Höffe zuzuneigen, wenn er schreibt: »Die Übertretungen des sogenannten bürgerlichen oder Polizeirechts werden dagegen von der ›Civilgerechtigkeit‹ behandelt, fallen also nicht unter die Reichweite von Kants Vergeltungstheorie.« Otfried Höffe, Kants Begründung des Rechtszwangs und der Kriminalstrafe, in: Reinhard Brandt (Hg.), Rechtsphilosophie der Aufklärung, Berlin: de Gruyter 1982, 335–375, 363.
Vgl. jetzt aber auch O. Höffe, Vom Straf- und Begnadigungsrecht, in: ders. (Hg.), Immanuel Kant. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre = Klassiker Auslegen 19, Berlin: Akademie Verlag 1999, 213–233, 219 f., wo Höffe die hier vertretene Interpretation nicht für ausgeschlossen zu halten scheint.
Allerdings schreibt er auch dort (p. 221): »In der Rechtslehre geht es jedenfalls nur um die Kriminalstrafe.« Für die These, dass das Kantische Strafrecht auf die Kriminalstrafe beschränkt ist, siehe auch schon Wolfgang Naucke, Die Reichweite des Vergeltungsstrafrechts bei Kant, in: Schleswig-Holsteinische Anzeigen 1964, 204–211, 208.
Siehe dazu z. B. Barry Nicholas, An Introduction to Roman Law, Oxford: Clarendon Press 1962, 207–209.
In die gleiche Richtung weist, mit Abstrichen, H.L.A. Harts Unterscheidung zwischen »Retribution as a General Justifying Aim« und »retribution in distribution«, H.L.A. Hart, Prolegomenon to the Principles of Punishment (1959), in: ders., Punishment and Responsibility, Oxford: Clarendon Press 1968, 1–27, 9, siehe dort auch das »Postscript: Responsibility and Retribution«, p. 210–237, 230–237.
Wolfgang Schild hat aber zurecht auf Missverständnisse hingewiesen, die sich mit der Rede von Retribution als »Ziel« einstellen können. Wolfgang Schild, Ende und Zukunft des Strafrechts, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 70 (1984), 71–112, 75 n9.
Wenn man nur von Höffes früher Arbeit »Kants Begründung des Rechtszwangs und der Kriminalstrafe« ausgeht, könnte man meinen, dass seine Unterscheidung zwischen allgemeiner und spezieller Vergeltung in etwa der von mir angeführten Unterscheidung entspricht. Doch ist spätestens seit Höffe, Kategorische Rechtsprinzipien. Ein Kontrapunkt der Moderne, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1990, Kap. 8 (»Das Strafgesetz als kategorischer Imperativ«, p. 215–248) deutlich, dass Höffe unter allgemeiner Vergeltung nur die Begründung des Verbots, Unschuldige zu bestrafen, versteht, nicht aber die Legitimation von Strafe überhaupt. Darauf werde ich am Ende meiner Behandlung des Kantischen Strafrechts noch kurz näher eingehen.
Dies ist freilich eine Behauptung, der längst nicht alle Interpreten zustimmen. So haben in jüngerer Zeit beispielsweise Don E. Scheid und B. Sharon Byrd zu zeigen versucht, dass (auch) für Kant die Rechtfertigung des Strafrechts in der Abschreckung besteht und der Retributivismus bei ihm erst auf der Ebene der Bestimmung von Subjekt und Maß der Strafen ins Spiel kommt. Siehe: Don E. Scheid, Kant’s Retributivism, in: Ethics 93 (1982/83), 262–282;
B. Sharon Byrd, Kant’s Theory of Punishment: Deterrence in its Threat, Retribution in its Execution, in: Law and Philosophy 8 (1989), 151–200. Darauf wird noch zurückzukommen sein.
Für unzutreffend halte ich Maximilian Forschners Einschätzung, dass Kant sich bei seiner Unterscheidung zwischen öffentlichen Verbrechen und Privatverbrechen »eines utilitaristischen Gesichtspunktes« bedient. M. Forschner, Kant versus Bentham. Vom vermeintlich kategorischen Imperativ des Strafgesetzes, in: R. Brandt (Hg.), Rechtsphilosophie der Aufklärung, a. a. O. 376–398, 395 n. 12. Denn Kants Überlegungen bewegen sich ganz im Rahmen des distributiven Gesichtspunktes der Auswirkungen auf (Folgen für) Rechte und richten sich nicht nach den Folgen für einen kumulativ verstandenen »Nutzen« bzw. »Schaden«. Siehe zu dieser Unterscheidung auch Alan Gewirth, Can Utilitarianism Justify Any Moral Rights?, in: ders., Human Rights. Essays on Justification and Applications, Chicago: University of Chicago Press 1982, 143–162
siehe auch John Rawls, A Theory of Justice, Cambridge, MA: Harvard University Press 1971, rev. ed. 1999, 21–27.
Eine andere Interpretation bietet Wolfgang Enderlein, Die Begründung der Strafe bei Kant, in: Kant-Studien 76 (1985), 303–327.
Siehe Jeffrie G. Murphy, Kant: The Philosophy of Right, London/New York : Macmillan/St. Martin’s Press 1970, 140–144;
ders., Kant’s Theory of Criminal Punishment, in: Lewis White Beck (ed.), Proceedings of the Third International Kant Congress 1970, Dordrecht: D. Reidel 1972, 434–441
Das Hauptgewicht dieses Aufsatzes liegt auf der umsichtigen Diskussion von fünf Einwänden gegen Kants Straftheorie, die den Aufsatz über die Kantinterpretation hinaus zu einem lesenswerten Beitrag macht. — Eine Kritik an Murphys Interpretation von Kants Rechtfertigung des Strafrechts findet sich auch bei Samuel Fleischacker, Kants Theory of Punishment, in: Kant-Studien 79 (1988), 434–449, 441 f.
— Murphy hat seine Interpretation später revidiert, siehe Jeffrie G. Murphy, Does Kant have a Theory of Punishment?, in: Columbia Law Review 87 (1987), 509–532.
So verstehe ich Kant auch, wenn er in der Diskussion der Frage, ob nicht der Unterschied der Stände eine Wiedervergeltung unmöglich macht, sagt: »aber, wenn es [das Prinzip der Wiedervergeltung, K.S.] gleich nicht nach dem Buchstaben möglich sein kann, so kann es doch der Wirkung nach, respektive auf die Empfindungsart der Vornehmeren, immer geltend bleiben.« (MSR 8, 454 = VI, 33226–28) »Wirkung« muss hier keineswegs eine von Rechtsverletzung und Rechtsanmaßung unabhängige Schadensfolge meinen, wie Bruce Aune meint, der Kant deshalb die Auffassung unterstellt, dass »the effect of the punishment should be proportional to the harmful effect of the offence«, statt dass »the punishment should be proportional to the seriousness of the offense« und dann den Unterschied zwischen fahrlässiger Tötung und Mord gerade als Einwand gegen Kant anführt. Bruce Aune, Kant’s Theory of Morals, Princeton: Princeton University Press 1979, 161 f. (die Zitate p. 161, der Einwand p. 162). — Da Kant das »Bewusstsein« der Übertretung zum Kennzeichen des »Verbrechens« im Unterschied zur »Verschuldung« gemacht hat, scheinen ihm zufolge fahrlässige Handlungen nicht ohne weiteres in den Bereich des Strafrechts zu gehören. Doch sei dieser Frage hier nicht weiter nachgegangen.
Julius Ebbinghaus, Die Strafen für Tötung eines Menschen nach Prinzipien einer Rechtsphilosophie der Freiheit = Kantstudien Ergänzungshefte 94, Bonn: Bouvier 1968, 27.
Eine gegenüber dieser These komplexere Version einer »gemischten Theorie« versucht Thomas Hill zu bieten. Siehe Thomas E. Hill Jr., Kant on Punishment: A Coherent Mix of Deterrence and Retribution?, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 5 (1997), 291–314. So vermutet Hill, dass für Kant auch die Ausdrucksfunktion des Strafrechts (das Strafrecht als Ausdruck der Missbilligung) wichtig gewesen ist. Eine Stärke von Hills differenziertem Beitrag ist meines Erachtens, dass er im Unterschied zu der hier betrachteten Position klar zwischen Funktion und Begründung des Strafrechts unterscheidet; siehe p. 311 f.
Vgl. dazu auch Igor Primoratz, On »Partial Retributivism«, in: Archiv für Rechtsund Sozialphilosophie 71 (1985), 373–377, der (p. 376 f.) geltend macht, dass deshalb durch einen »partial retributivism« gegenüber einem »thoroughgoing retributivism« nichts gewonnen wäre.
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Steigleder, K. (2002). Zum öffentlichen Recht. Die staatliche Ordnung. In: Kants Moralphilosophie. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-02850-1_6
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