Autonomietheorien und Abhängigkeitstheorien

Zusammenfassung

Das zentrale sprachwissenschaftliche Problem, vor das sich jede Theorie der geschriebenen Sprachform gestellt sieht, ist die Frage nach dem Verhältnis zwischen gesprochenen und geschriebenen Sprachformen. Das Verhältnis zwischen ›Sprache und Schrift‹ ist in der Forschungsliteratur zwar Gegenstand permanenter Auseinandersetzungen, aber es ist weder theoretisch noch begrifflich geklärt. Dies ist nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, daß die fragliche Beziehung sich einer einfachen Definition schon deshalb entzieht, weil sie von den jeweils vorausgesetzten sprachtheoretischen Ansätzen bestimmt wird. Immerhin lassen sich die relevanten Vorschläge für eine Theorie der geschriebenen Sprachform an genau diesem Punkt in Gruppen einteilen. Sie teilen sich in zwei Hauptgruppen auf, nämlich solche Ansätze, die von einer systematischen Abhängigkeit der Schriftebene von der Ebene der gesprochenen Sprache ausgehen (z. B. De Saussure oder der klassische amerikanische Strukturalismus), und solche Konzepte, die mehr oder weniger dezidiert die Selbständigkeit der Schriftebene postulieren (z. B. die Prager Strukturalisten, viele neuere sowjetische Arbeiten, z. B. Amirova 1977 oder, nolens volens, Sinologen): einer stärker an Strukturgesichtspunkten orientierten Abhängigkeitshypothese (nach der die geschriebene Sprachform wesentlich von der gesprochenen Sprachform determiniert ist) steht also eine eher an funktionalen Gesichtspunkten interessierte Autonomiehypothese gegenüber (die ein solches Determinationsverhältnis bestreitet).