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Zusammenfassung

Im Vergleich zum vorhergehenden Beitrag geht Momigliano in diesem, zuerst 1978 veröffentlichten Aufsatz weniger von der zeitgenössischen wissenschaftstheoretischen Situation aus, sondern widmet sich zunächst vielmehr einer eingehenden Analyse von Max Webers Untersuchungen zu den antiken Agrarverhältnissen. Er demonstriert eingangs die fruchtbare Wirkung, die Webers Arbeit zu den zeitgenössischen Agrarproblemen in den ostelbischen Gebieten Preußens und zur Diskussion um das Börsenwesen auf seine Ansichten über den antiken Agrarbereich ausübten, wobei der von Weber scharf beobachtete und unterschiedlich bewertete Konflikt zwischen wirtschaftlichen Rationalisierungstendenzen einerseits und traditionellen Kulturwerten andererseits eine gemeinsame Grundlage für sowohl antike als auch moderne Entwicklungen lieferte. Weber führte ja den Untergang der antiken Zivilisation letzten Endes auf die Sklaverei zurück, die das übermäßige Wachstum der Latifundien und damit den Niedergang der für die antike Welt grundlegenden Stadtkultur förderte.

Den Schwerpunkt des vorliegenden Beitrags bildet aber, wie im vorhergehenden, das wissenschaftliche Wechselverhältnis zwischen Eduard Meyer und Max Weber, das Momigliano wiederholt als musterhaft bezeichnet. Trotz der Intensität und der Fruchtbarkeit der wechselseitigen Bezugnahmen zwischen den beiden Gelehrten übte Weber wiederholt grundsätzliche Kritik an Meyers Positionen, wobei er auch historische Einzelphänomene, zum Beispiel das Judentum, abweichend beurteilte, aber vor allem sich polemisch zu grundsätzlichen Prämissen von Meyers historischer Methodologie äußerte. Weber lehnte Meyers Reduktion der Geschichte auf vom Historiker bewertete Einzelereignisse ab und setzte seinen eigenen Begriff von Idealtypen dem entgegen; er befürwortete die Analyse nicht realisierter Alternativen als bedeutend für das Verständnis historischer Entwicklungen; er wollte schließlich alle Wertvorstellungen mit Ausnahme derjenigen, die die historischen Akteure selbst als Intentionen verfolgten, und daher auch und vor allem die politische Bewertung des modernen Historikers, aus der Geschichtsanalyse streng ausschließen.

Das Verhältnis Meyer — Weber stellt für Momigliano ein wichtiges Kapitel in der Neuformulierung der Methodik des Studiums der alten Welt um die Jahrhundertwende dar, als die Alte Geschichte in produktiver Wechselwirkung mit den Sozialwissenschaften — vor allem Jura und Soziologie — eine beiderseits befruchtende und transformierende Diskussion führte, und zwar in Italien, England und Frankreich nicht weniger als in Deutschland. Wie das Paradigma Meyer — Weber Zeigt, war es nicht der Fall, daß die Historiker lediglich die Fakten, die Soziologen dagegen die Ideen lieferten — ganz im Gegenteil, beide Seiten bemühten sich mit vergleichbarer Leidenschaft um beide Arten von wissenschaftlicher Forschung.

Erst ab etwa 1910 ging diese bemerkenswerte Zusammenarbeit verloren, teils wohl als Reaktion auf den Ersten Weltkrieg, teils wegen der politischen Umwälzungen in den Jahrzehnten danach, aber auch — und hier greift Momigliano eine wichtige und originelle wissenschaftsinterne Erklärung auf — wegen des Aufstiegs der Prosopographie, deren Beschränkung auf die gesellschaftlichen Eliten und die oft simple Tendenz dieser Disziplin, alle politischen Ideen auf das Streben nach Reichtum und Macht reduzieren und dadurch entlarven zu wollen, mit jedweder nuancierten soziologischen Analyse der antiken Welt kaum verträglich war. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg lebte die Soziologie der Antike wieder auf — und zwar merkwürdigerweise vornehmlich durch mehrere Wissenschaftler, die während der Nazi- und Faschismuszeit sich selbst politisch kompromittiert hatten und die jetzt wohl eher eine objektive, nicht mit politischen Bewertungen belastete Wissenschaft ausüben wollten.

Hintergrund von Momiglianos Erörterungen in diesem Aufsatz der unaufhaltsame Aufstieg der Sozialgeschichte zum allgemeinen Paradigma der historischen Forschung in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg für diese wichtigste Entwicklung in der historischen Forschung der letzten Jahrzehnte liefert Momigliano hiermit zum einen eine Genealogie und eine Vorgeschichte. Indem er aber zum anderen seine Kollegen in der Alten Geschichte mit diesem Aufsatz an die fruchtbare wissenschaftliche und persönliche Zusammenarbeit zwischen einem der größten deutschen Althistoriker und dem größten deutschen Soziologen erinnert, liefert er ein verstecktes, aber nichtsdestoweniger unverkennbares Plädoyer für eine wissenschaftliche Interdisziplinarität, die auch heute, mehr als zwei Jahrzehnte nach der Erstveröffentlichung des Aufsatzes, mancherorts, und vor allem in Deutschland, ein dringendes Desiderat bleibt.

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Anmerkungen

  1. Vgl. A. Heuss, Max Webers Bedeutung für die Geschichte der griechisch-römischen Welt, Historische Zeitschrift 201, 1965, 529–556. Vgl. auch meinen Artikel in Times Literary Supplement vom 8. April 1977 und den Aufsatz von M. I. Finley, The Ancient City: from Fustel de Coulanges to Max Weber and beyond, Comparative Studies in Society and History 19, 1977, 305–327, [jetzt in: ders., Economy and Society in Ancient Greece, hg. v. B.D. Shaw/R.P. Saller, London/New York 1981, Kap. 1; ders., Max Weber und der griechische Stadtstaat, in: ders., Quellen und Modelle in der Alten Geschichte, Frankfurt 1987, Kap. 6].

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  2. [M. Weber, Die Römische Agrargeschichte in ihrer Bedeutung für das Staats- und Privatrecht, Stuttgart 1891 (Nd. Amsterdam 1962). Der Verf. weist in dieser Anmerkung auf die italienische Übersetzung des Werks unter dem Titel La storia agraria romana in der von Vilfredo Pareto herausgegebenen und für die italienische Forschung wichtigen Reihe Biblioteca di Storia Economica, Bd. 2, 2, Mailand 1907, 509–705 und eine neuere Übersetzung und Einleitung durch Emilio Sereni (1967) hin. — Anm. d. Übers.].

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  3. Vgl. meinen Artikel Beloch, K.J., in: Dizionario Biografico degli Italiani, Bd. 8, 1966, 32–45, jetzt in: Terzo Contributo, Rom 1966, 239–265.

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  4. Die Texte sind zusammengestellt in Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1922 [4. Aufl. Tübingen 1973] und sind, sofern sie Eduard Meyer betreffen, [ins Italienische] übersetzt und eingeleitet von P. Rossi, Il metodo delle scienze storico-sociali, Turin 1958 (Nd. Mailand 1974). Man vgl. außerdem Il lavoro intelletuale come professione (Wissenschaft als Beruf, 1919) in der Übersetzung von A. Giolitti und mit einer Einleitung von D. Cantimori, Turin 1948 (Nd. 1966).

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  5. Vgl. meinen Aufsatz über Wilamowitz, Premessa a una discussione su Wilamowitz, Rivista Storica Italiana 84, 1972, 746–755, jetzt in: Annali della Scuola Normale Superiore di Pisa serie III, 1, 1973, 103–117.

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  6. J. Wellhausen, Rez. Ed. Meyer, Geschichte des Judentums, Göttingische Gelehrte Anzeigen 1897, 89–98 und die Antwort Eduard Meyers, jetzt wiederabgedruckt als Anhang zum Neudruck von Die Entstehung des Judentums, Hildesheim 1965. Ein großer Teil der Arbeit Webers über das Judentum erschien bereits zu seinen Lebzeiten in den Jahren 1917–1919. Vgl. H. Liebeschütz, Das Judentum im deutschen Geschichtsbild von Hegel bis Max Weber, Tübingen 1967.

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  7. Kleine Schriften, Bd. 1, 1, Halle 1910, 1–168.

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  8. Zu Fustel de Coulanges vgl. meinen Aufsatz La città antica di Fustel de Coulanges, Rivista Storica Italiana 82, 1970, 81–98, jetzt in: Quinto Contributo, Rom 1975, 159–178 [s. in diesem Band S. 233ff.]. Die Aufsätze von S.C. Humphreys sind gesammelt in: dies., Anthropology and the Greeks, London 1978.

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  9. Vgl. den Artikel über Bodio von F. Bonelli in: Dizionario Biografico degli Italiani, Bd. 11, 1969, 103–107. Zu der ganzen Bewegung am Ende des 19. Jahrhunderts s. E. Lepore, Economia antica e storiografia moderna, in: Ricerche storiche ed economiche in memoria di C. Barbagallo, Bd. 1, Neapel 1970, 1–33.

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  10. Vgl. den anonymen, aber gut informierten Artikel in: Dizionario Biografico degli Italiani, Bd. 12, 1970, 7–10; G. Tibiletti, Sull’opera di P. Bonfante, Rendiconti dell’Istituto Lombardo 103, 1969, 287–314; P. Grossi, Un altro modo di possedere, Mailand 1977, 218–231.

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  11. Zu diesem Thema vgl. jetzt W. Backhaus, John Elliott Cairns und die Erforschung der antiken Sklaverei, Historische Zeitschrift 220, 1975, 543–567. Aber es ist auch nützlich zu beachten, was C. Barbagallo, der an dieser Bewegung teilgenommen hat, seinerzeit dazu geschrieben hat, sowohl in seinem Aufsatz »Che cosa é il materialismo storico«, von dem sich eine Version in seinem Attraverso i secoli, Mailand 1939, 9–101 findet, als auch in dem Band L’opera storica di Guglielmo Ferrero e i suoi critici, Mailand 1911. Vgl. M. Mazza, Marxismo e storia antica, Studi Storici 17, 1976, 100–124 und dessen Einleiting zur Neuausgabe von E. Ciccotti, Il tramonto della schiavitù nel mondo antico, Bari 1977.

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  12. Vgl. L. Einaudi, Greatness and Decline of Planned Economy in the Hellenistic World, Bern 1950. Allgmein zu Rostovtzeff vgl. meine Aufsätze jetzt in Contributo, Rom 1955, 327–354, [s. in diesem Band S. 327ff.].

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  13. Für neuere Diskussionen über die prosopographische Methode s. Cl. Nicolet/A. Chastagnol/J. Sublet, Prosopographie et histoire sociale, Annales 25, 1970, 1209–1239 und Aufstieg und Niedergang der römischen Welt, Bd. 2, 1, 1974 sowie vor allem L. Stone, Prosopography, Daedalus 100, 1971, 46–79.

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  14. Dazu s. meinen Aufsatz über Syme, der als Vorwort in der italienischen Übersetzung R. Syme, Ea rivoluzione romana, Turin 1962 steht, jetzt in: Terzo Contribuo, Rom 1966, 729–737.

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  15. Der englische Sammelband Anäent Mesopotamia: Socio-Economic History, hg. v. I. M. Diakonov, Moskau 1969 und Wallauf bei Wiesbaden 1973, gibt eine völlig ungenügende Vorstellungen von der Arbeit dieses Historikers.

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  16. Vgl. dazu die drei Bände von J. Le Goff/P. Nora, Faire de l’histoire, Paris 1974; G. Iggers, New Directions in European Historiography, Middletown 1975 [dt. Neue Geschichtswissenschaft. Vom Historismus zur Historischen Sozialwissenschaft, München 1978].

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  17. P. Veyne, Comment on écrit l’histoire, Paris 1971. Vgl. meine Rezension in Rivista Storica Italiana 85, 1973, 850–852 und meinen Abschnitt Regole del Giuoco nello studio della storia antica in: Introduzione bibliografica alla storia greca fino a Socrate, Florenz 1975, 1–12, sowie den Aufsatz Historicism Revisited, Med. Kon. Nederlandse Akademie, N.R. 37, 3, jetzt in: Essays in Ancient and Modern Historiography, Oxford 1977, 365–373 [s. auch Sesto Contributo, Bd. 1, Rom 1980, 13 und 23]. Dazu s. jetzt auch Linee per una valutazione della storiografia del quindicennio 1961–1976, Rivista Storica Italiana 89, 1977, 596–609 [s. Sesto Contributo, Bd. 1, Rom 1980, 377].

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Momigliano, A. (2000). Und nach Max Weber?. In: Most, G.W. (eds) Ausgewählte Schriften zur Geschichte und Geschichtsschreibung. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03684-1_16

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