Zusammenfassung
Die spezifisch kulturwissenschaftliche Kompetenz und Zuständigkeit liegt darin, Texte zu deuten, zu entschlüsseln, zu re- und dekonstruieren. Es ist erstaunlich, wie wenig diese Kompetenz in einem in anderen Arbeitsgebieten selbstverständlichen Niveau in der Antisemitismusforschung realisiert wurde. Wir verfügen über keine einzige Lektüre von Hitlers „Mein Kampf“, die dem hermeneutischen Niveau einer gängigen Abhandlung über Goethes „Faust“ entspräche. Dementsprechend sind nach wie vor Grundfragen der Antisemitismusforschung offen, die durch systematische Lektüren beantwortet werden könnten. Dies gilt für das spezielle Feld des Literarischen Antisemitismus, aber auch generell für eine literaturwissenschaftlich informierTe Lektüre nicht-literarischer Texte.1 Sich dem Literarischen Antisemitismus konzentriert zuzuwenden, könnte deshalb mehr erreichen, als ‚nur‘ dieses spezifische Feld zu bearbeiten. Es könnte dazu beitragen, die kulturwissenschaftlichen Kompetenzen in der Antisemitismusforschung zu stärken und insbesondere zu einer präziseren Lektüre antisemitischer Texte anzuregen.
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Anmerkung
Unter ‚Text“ verstehe ich allgemein jede dauerhafte Fixierung von Sinn, also z.B. ein Schriftstück, ein Gemälde oder ein Video, so dass eine Analyse des Sinns methodisch kontrolliert möglich ist. Zum (methodologisch angelegten) Textbegriff siehe Klaus Holz, Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung, Hamburg 2001, 116–164.
Vgl. Jan Weyand, Zum Stand kritischer Antisemitismusforschung, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 15 (2006), hg. v. Wolfgang Benz, Berlin 2006, 233–258.
Reinhard Rürup, Emanzipation und Antisemitismus. Studien zur ‚Judenfrage‘ der bürgerlichen Gesellschaft, Göttingen 1975, 91.
Heinrich von Treitschke, Unsere Aussichten, zit. n.: Der Berliner Antisemitismusstreit, hg. v. Walter Boehlich, Frankfurt am Main 1988, 7–14, hier: 11.
Vgl. zu dieser Formulierung auch Nicoline Hortzitz, ‚Früh-Antisemitismus‘ in Deutschland (1789–1871/72). Strukturelle Untersuchungen zu Wortschatz, Text und Argumentation, Tübingen 1988, 168–172.
Diese Konstruktion findet sich in einem weiten Spektrum an Semantiken, auf die ich hier nur pauschal verweisen kann. Man denke etwa an Max Webers Analyse der protestantischen Ethik, in der Arbeit als Selbstzweck — statt für Konsum/Geld oder als Herbeiführung göttlicher Gnade — verpflichtend wird. Die Kritische Theorie begreift „Produktion als Selbstzweck“ als eines der zentralen Ideologeme der kapitalistischen Gesellschaft (Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, in: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1970–1986, Bd. 6, 302).
Tatsächlich ist — Marx zufolge — die „Zirkulation des Geldes als Kapital“ der „Selbstzweck, denn die Verwertung des Werts existiert nur innerhalb“ der Zirkulation (Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Band I, zit. n. der 4. veränd. Aufl., in: Marx Engels Werke, Berlin (Ost), Bd. 23, 167). Siehe dazu Jan Weyand, Adornos Kritische Theorie des Subjekts, Lüneburg 2000.
George L. Mosse, Die Nationalisierung der Massen. Politische Symbolik und Massenbewegungen von den Befreiungskriegen bis zum Dritten Reich, Neuausgabe, Frankfurt am Main und New York 1993 (zuerst 1975), 246.
Ich konzentriere meine überlegung in diesem Beitrag auf die nationale Semantik. Zu Integration des nationalen Antisemitismus mit dem Rassismus und der christlichen Religionen siehe Holz, Nationaler Antisemitismus, a.a.O. (Anm. 1); bzgl. des islamistischen Antisemitismus siehe Klaus Holz, Die Gegenwart des Antisemitismus. Islamistische, demokratische und antizionistische Judenfeindschaft, Hamburg 2005;
Klaus Holz und Michael Kiefer, Islamistischer Antisemitismus. Phänomen und Forschungsstand, in: Antisemitismus. Analytische und empirische Beiträge, hg. v. Wilhelm Heitmeyer und Andreas Zick, Frankfurt 2007 (im Druck).
Èdouard Drumont, La France Juive. Essai d’histoire contemporaine, 2 Bde., Paris 1886, 58 (Übersetzung K.H.).
Leo Lowenthal und Norbert Gutterman, Prophets of Deceit. A Study of the Technique of the American Agitator, New York 1949, 78.
Martin Gubser, Literarischer Antisemitismus. Untersuchungen zu Gustav Freytag und anderen bürgerlichen Schriftstellern des 19. Jahrhunderts, Göttingen 1998, 110ff., 126.
Florian Krobb, Die schöne Jüdin. Jüdische Frauengestalten in der deutschsprachigen Erzählliteratur vom 17. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg, Tübingen 1993.
Gustav Freytag, Soll und Haben. Roman in sechs Bänden, Leipzig, 711909 (zuerst 1855).
Bernhard Schlink, Die Beschneidung, in: Liebesfuchten, Frankfurt 2000, 199–255. Siehe hier zu ausführlich den Beitrag von Matthias N. Lorenz in diesem Band.
Vgl. Werner Bergmann und Rainer Erb, Antisemitismus in der Bundesrepublik Deutschland. Ergebnisse der empirischen Forschung von 1946–1989, Opladen 1991, 57ff.; Gruppenexperiment. Ein Studienbericht, hg. v. Friedrich Pollock, Frankfurt am Main 1955, 219–223.
Werner Bergmann und Rainer Erb, Kommunikationslatenz, Moral und öffentliche Meinung. Theoretische Überlegungen zum Antisemitismus in der Bundesrepublik Deutschland, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 38 (1986), 223–246, hier: 227.
Nikals Luhmann, Gesellschaftliche Struktur und semantische Tradition, in: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 1, 9–71, Frankfurt am Main 1980, 9–71, hier: 68.
Vgl. zu der im folgenden dargelegten Täter-Opfer-Umkehr vor allem Adorno, Schuld und Abwehr a.a.O. (Anm. 29); Ruth Wodak, Peter Nowak, Johanna Pelikan, Helmut Gruber, Rudolf de Cillia und Richard Mitten, ‚Wir sind alle unschuldige Täter‘. Diskurshistorische Studien zum Nachkriegsantisemitismus, Frankfurt am Main 1990; Holz, Nationaler Antisemitismus, a.a.O. (Anm. 1) 483–539. Dort wird auch gezeigt, dass die Täter-Opfer-Umkehr nicht erst im deutschen Antisemitismus nach Auschwitz erfunden wird. Vielmehr findet sich diese Konstruktion schon in einer Vielzahl älterer antisemitischer Texte, z.B. bei Treitschke, Stoecker und Hitler. In diesen älteren Texten aber ist der Sinn dieser Konstruktion hauptsächlich, die antisemitische Kommunikation zu eröffnen, während sie im Nachkriegsantisemitismus ins Zentrum des Antisemitismus rückt.
Der Aussage „Was der Staat Israel heute mit den Palästinensern macht, ist im Prinzip auch nichts anderes als das, was die Nazis im Dritten Reich mit den Juden gemacht haben“ stimmten 2004 in einer repräsentativen Erhebung in Deutschland 51% zu. Nach Aribert Heyder, Julia Iser und Peter Schmidt, Israelkritik oder Antisemitismus? Meinungsbildung zwischen Öffentlichkeit, Medien und Tabus, S. 151, in: Wilhelm Heitmeyer, Deutsche Zustände, Folge 3, Frankfurt am Main 2005, 144–165, hier: 151.
Z.B. Édouard Drumont, Das verjudete Frankreich. Versuch einer Tagesgeschichte, 2 Theile in einem Bande, Berlin: 1890, 9.
Zur Bedeutung dieser Rede im Gesamtwerk Walsers siehe die umfassende Studie von Matthias N. Lorenz, „Auschwitz drängt uns auf einen Fleck“. Judendarstellung und Auschwitzdiskurs bei Martin Walser, Stuttgart, Weimar 2005.
Martin Walser, Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede, Frankfurt am Main 1998, 18.
Vgl. Teun van Dijk, Communicating Racism. Ethnic Prejudice in Thought and Talk, London 1987, 91.
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Holz, K. (2007). Die Paradoxie der Normalisierung Drei Gegensatzpaare des Antisemitismus vor und nach Auschwitz. In: Bogdal, KM., Holz, K., Lorenz, M.N. (eds) Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-05224-7_3
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