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Gemeinsam Interpretieren als Kommunikationsprozess oder: Über den Alltag der Auslegung

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Gemeinsam interpretieren

Part of the book series: Qualitative Sozialforschung ((QUALSOZFO))

Zusammenfassung

Das Verstehen des Sinns von Interaktionen, Kommunikationen und Dingen ist für jede Art von (Sozial-)Forschung sowohl konstitutiv als auch problematisch. Dies gilt insbesondere für die qualitative Sozialforschung und hier noch einmal mehr für all die Praktiken des Verstehens von Sinn, welche sich explizit auf eine wie auch immer geartete ‚Hermeneutik‘ berufen. Dies nicht nur, weil oft unklar ist, ob es um das Verstehen des subjektiv gemeinten Sinns oder der sozialen Bedeutung einer kommunikativen Handlung geht, sondern weil jeder Verstehensarbeit die jeweils eigene historische wie soziale Bedingtheit vorgehalten und somit deren Validität in Frage gestellt werden kann. Das Validitätsproblem ist deshalb für jede Verstehenspraxis konstitutiv und deshalb ist in den letzten Jahrzehnten auf verschiedene Weise versucht worden, diesem Problem mit einer Reihe, teils recht unterschiedlichen Maßnahmen zur Qualitätsverbesserung und Qualitätssicherung zu begegnen.

Diese Überlegungen sind entstanden im Rahmen der Vorbereitung eines DFG-Antrages zum Thema ‚Interpretationsgruppen‘. An dieser Vorbereitung waren beteiligt Rolf Haubl, Angela Kühner, Katharina Liebsch und Jan Lohl. Die in den Kapiteln 2 bis 4 vorgelegten Gedanken verdanken der Kritik und den Anregungen aller Beteiligten sehr viel, ohne dass dies im Einzelnen ausgewiesen werden konnte. Danken möchte ich zudem Richard Bettmann für seine Kritik und seine Hinweise.

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Notes

  1. 1.

    Dass sich die Soziologie (wie andere Wissenschaften) immer wieder heftig gegen eine Einsichtnahme in eigene Geschäfte gewehrt hat, ist weitgehend bekannt (z. B. Kohli 1981) und wird (von den Soziologen) akzeptiert. Wie heikel das Thema ist, ließ sich auch an der aufgeregten Debatte ablesen, die einem wissenschaftssoziologischen Artikel von Gerhards (Gerhards 2002) in der Zeitschrift Soziologie folgte (vgl. Soziologie H. 3/2002 und beispielhaft Burkhart 2002). Was denen passiert, die ,Gruppengeheimnisse ausplaudern‘, hat bereits Bourdieu in seiner Betrachtung des akademischen (französischen) Menschen in ein schönes Bild gefasst: „Der Zauberlehrling, der das Risiko auf sich nimmt und sich für die Zauberei des eigenen Stammes und dessen Fetische interessiert, statt in fernen Tropen den beruhigenden Reizen einer exotischen Magie nachzugehen, muß darauf gefaßt sein, daß die Gewalt, die er entfesselt, sich gegen in selbst kehrt“ (Bourdieu 1988: 36).

  2. 2.

    3 In den letzten Jahren gibt es auch vor allem von Katja Mruck, Günter Mey und Franz Breuer initiierte und betreute netzbasierte Interpretationswerkstätten für Promovierende (zum Konzept der Werkstätten siehe: Mruck & Mey 1998, Bargfrede & Mey & Mruck 2009, Breuer & Mruck & Mey 2011, Mey & Ottmar & Mruck 2006). Einen aktuellen Überblick über laufende Forschungswerkstätten findet sich hier: www.qualitative-forschung.de/information/akteure/forschungswerkstaetten/index.html; siehe hierzu den Erfahrungsbericht von Christine Moritz 2008).

  3. 3.

    Zur Geschichte des Gruppendiskussionsverfahrens siehe Loos & Schäffer 2001: 15 – 28. Zu einem allgemeinen Überblick über die Geschichte und die Einordnung von Gruppendiskussionsverfahren siehe Flick 2007: 248 ff.

  4. 4.

    Aus heutiger Sicht und in Kenntnis der Kommunikationswirklichkeit in sozialen Netzwerken weiß man aber auch, dass in einem solchen Kommunikationsraum auch die Phantasie bunte Blüten treibt.

  5. 5.

    Die Aufgabe der Gruppendiskussionen und deren Verhältnis zur Interpretation durch die Wissenschaftler/innen beschreibt Nohl so: „Gruppendiskussionen dienen üblicher Weise der Erhebung von kollektiv geteilten Erfahrungen und Orientierungen. Wenn die Gruppendiskussion dann dokumentarisch interpretiert werden, indem man die performative Relation der einzelnen Diskursbewegungen zueinander rekonstruiert, geht es hier nicht zuvorderst um die (möglichen) Gegensätze und Widersprüche zwischen einzelnen Redebeiträgen, sondern um die den Redebeiträgen unterliegende, sie verbindende (konjunktive) Regelmäßigkeit“ (Nohl 2010: 262).

  6. 6.

    Damit greife ich eine Unterscheidung auf, die auf Oevermann 1981 zurückgeht.

  7. 7.

    Einzig Gerd Riemann fordert (vorsichtig selbstkritisch), dass durch die Aktivität des Gruppenleiters „nicht die Eigenaktivität der Werkstattgruppe entmutigt und ihre Kreativität ab gewürgt wird. (…) Wenn sich die Balance zu Gunsten des permanenten ‚Vorturnens‘ durch den Werkstattleiter verschiebt, wird die Eigendynamik der interaktiven Erkenntnisbildung in der Gruppe abgewürgt – es entsteht dabei auch eine Versorgungshaltung – und man riskiert, die einzelnen Forscherinnen und Forscher gewissermaßen zu enteignen“ (Riemann 2005: 7).

  8. 8.

    Siehe hierzu auch die Kritk von Adele Clarke, die der Forschungspraxis der Grounded Theory einen systematischen Mangel an Reflexivität attestiert und einen Hang, Forschungsproblem eher zu vereinfachen als dessen Komplexität gerecht zu werden (vgl. Clarke 2012: 50).

  9. 9.

    Interessanterweise waren überwiegend weibliche Personen in der Netzwerkstatt – was möglichweise mit dem Setting zu tun hat. Auf jeden Fall weist dieser Sachverhalt darauf hin, dass auch Gender bei diesen Gruppen eine Rolle spielt.

  10. 10.

    Es gibt Hinweise darauf, dass bereits Simmel Anfang der 1930er Jahre in Deutschland Forschungswerkstätten anbot, die überwiegend von Frauen besucht wurden (vgl. Honegger 1990 und Bohnsack 2001). In Amerika finden sich schon Formen des gemeinsamen forschenden Lernens in den frühen Tagen der Chicago-School.

  11. 11.

    Zur Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen, die ganz maßgeblich an dem Reimport der qualitativen Sozialforschung aus den USA, also auch am Aufblühen der Interpretationsgruppen, mitgewirkt haben, gehörten noch Joachim Matthes, Werner Meinefeld, Werner Springer, Ansgar Weymann und später auch Ralf Bohnsack.

  12. 12.

    Interpretationsgruppen sind sehr stark in der Soziologie und den Erziehungswissenschaften anzutreffen. In der durchweg quantitativ ausgerichteten Psychologie fristen sie ein beachtliches Nischendasein, während sie in den Kommunikationswissenschaften sehr selten anzutreffen sind.

  13. 13.

    Die Interpretationsgruppe als eine Art Forschungswerkstatt findet sich auch schon bei der Chicago-School der 1930er Jahre. Robert Park und Everett Hughes boten damals solche Veranstaltungen im Rahmen des ‚forschenden Lernens‘ an (vgl. Riemann 2005: 10, Reim & Riemann 1997, auch Dausien 2007: [18] und Schäffer 2010). Anselm Strauss ist nach eigenen Angaben von dieser Arbeitsweise beeinflusst worden (ebd.). Eine sehr frühe Beschreibung solcher Interpretationsgruppen findet sich bei Viven Palmer 1928 in ihrem Buch ‚Field Studies in Sociology‘ (vgl. Reim & Riemann 1997: 225).

  14. 14.

    Die Kritik Adornos setzte an seiner Einschätzung an, dass das Medium der Psychoanalyse die freie Assoziation sei. Dabei sah er es als ausgesprochen bedenklich an, dass man nicht nur die Patienten zur freien Assoziation ermutigte, sondern dass die analytische Theoriebildung der gleichen Spur folgt, „sei’s, daß sie von Verlauf und Stockung jener Assoziationen ihre Befunde sich vorzeichnen lässt, sei’s, daß die Analytiker, und gerade die begabtesten (…), der eigenen Assoziation sich anvertrauen. Entspannt wird auf dem Diwan vorgeführt, was einmal die äußerste Anspannung des Gedankens von Schelling und Hegel auf dem Katheder vollbrachte: die Dechiffrierung des Phänomens. Aber solches Nachlassen der Spannung affiziert die Qualität der Gedanken: der Unterschied ist kaum geringer als der zwischen der Philosophie der Offenbarung und dem Gequatsche der Schwiegermutter“ (Adorno 1951b: 83). Dieser grundsätzliche Vorbehalt, das mühelose und ungebildete Assoziieren von jedermann mit der kunstvollen Gedankenarbeit eines Wissenschaftlers in eins zu setzen und als Mittel zur Dechiffrierung von Bedeutung zu nutzen, findet sich auch heute noch (wenn auch verdeckt) in der Diskussion um die Interpretationsgruppe. Explizit findet man es, wenn Kunstwerke interpretiert werden sollen.f

  15. 15.

    Eine andere Form der Gruppendeutung von subjektiven Reaktionen auf Daten hat das Verfahren der dialogischen Introspektion entwickelt und ausgearbeitet (vgl. Burkart & Kleining & Witt 2010). Diesen Anastz beschreibt Gerhard Kleining so: „Dialogische Introspektion in der Gruppe ist ein an der Hamburger Universität von Psychologen und Soziologen in der „Forschungswerkstatt Introspektion“ entwickeltes Verfahren, das einige gravierende Probleme der traditionellen individuellen Introspektion überwindet. Dies geschieht durch die systematische Anwendung der entdekenden (heuristischen) Methodologie. Die Besonderheit ist die Verwendung der Gruppe zur Datengewinnung. Die Methode stellt die Intersubjektivität des Verfahrens her, fördert seine Verwissenschaftlichung und macht die klassische Introspektion in methodologisch korrigierter Form wieder als Forschungsverfahren verwendbar. Introspektion ist der einzige unmittelbare Zugang zum Erleben; es steht außer Zweifel, dass eine kontrolliert eingesetzte Introspektion wertvolle Erkenntnisse liefern kann“ (www.introspektion.net/html/dialogische_introspektion_in_der_gruppe.html, letzter Zugriff am 25.10. 2012).

  16. 16.

    Neben dieser Konstanzer Interpretationsgruppe gab es noch eine weitere um Richard Grathoff und Bruno Hildenbrand. Grathoff hatte im Jahr 1975 Anselm Strauss nach Konstanz eingeladen und Strauss führte die deutschen Forscher in seine Art des forschenden Lernens ein. Insofern hat die Strauss’sche Art der Forschungswerkstatt auch in der Konstanzer Tradition ihre Spuren hinterlassen.

  17. 17.

    Für die Operativen Fallanalytiker, also die deutschen Profiler, die bei schwerwiegenden Serientaten auf Wunsch hinzugezogen werden, ist die Gruppeninterpretation (= Teamarbeit) essentiell. In expliziter Aufnahme der Vorgaben einer auf die verdeckten Spuren ausgerichteten Hermeneutik findet die Fallanalyse prinzipiell nur als Teamarbeit statt. Die Vorteile der Gruppeninterpretation werden in der Broschüre zum Ausbildungsgang für polizeiliche Fallanalytiker so beschrieben: „Die Überlegenheit des Teamansatzes liegt: in der Funktion der Gruppe als Korrektiv, im Synergieeffekt, in der Bündelung des Wissens, in der Verbesserung der Informationsverarbeitungskapazität, in der Vielfalt der Hypothesenbildung sowie in der Objektivierung der Hypothesenprüfung“ (BKA 2004: 18).

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Reichertz, J. (2013). Gemeinsam Interpretieren als Kommunikationsprozess oder: Über den Alltag der Auslegung. In: Gemeinsam interpretieren. Qualitative Sozialforschung. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-02534-2_2

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