Zusammenfassung
Untergangsszenarien über den Fortbestand des Euros und der Europäischen Union sind seit dem Brexit zum Volkssport der Euroskeptiker und Eurogegner geworden. Natürlich können die endogenen und exogenen Herausforderungen für die Europäische Union und die Eurozone nicht geleugnet werden. Aber gerade diese Ungewissheit in Zeiten unübersichtlicher sozialer und ökonomischer Veränderungen in der EU kann auch als Impuls für neue Ideen fungieren. Angesichts der institutionellen Defizite in der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion (WWU), schlagen wir als nächsten Baustein eine Fiskalunion und Sozialunion für die Verbesserung der fiskal- und sozialpolitischen Koordinierung vor. Das vorliegende Papier ist ein Versuch, nach Richard Musgraves bahnbrechenden Arbeiten eines modernen fiskalischen Föderalismus, die institutionellen Voraussetzungen für den finanzpolitischen Kapazitätsaufbau und für die Einführung eines Euro-Finanzministeriums zu analysieren. Wichtig ist, dies als einen hybriden Prozess der Entscheidungsfindungen zwischen Nationalstaaten und der supranationalen EU in einem demokratischen Euro-Zone Parlament zu verstehen. Im zweiten Teil des Papiers werden die Umrisse einer Sozialunion diskutiert, die den dritten Pfeiler von Musgraves Einkommensungleichheit als Anregung aufnimmt. Mit der Sozialunion wird für die Einführung einer Europäischen Sozialen Marktwirtschaft plädiert, die als eine modernisierte Form der Ideen des deutschen Ökonomen Alfred Müller-Armack zu verstehen ist. Sie könnte als Anreiz für einen gerechteren Ausgleich zwischen abstrakten Marktprozessen und sozialer Kohäsion in der EU fungieren. Eine Fiskalunion mit einem Finanzministerium hat die Funktion fiskalische Kapazitäten für öffentliche Infrastrukturinvestitionen und für soziale Sicherheitssysteme durch Steuereinnahmen zu generieren.
Dieser Beitrag ist eine Überarbeitung und Übersetzung des Artikels der beiden Autoren, Re-booting Europe: What kind of Fiscal Union – What kind of Social Union? erschienen in The New School For Social Research, Working Paper 13/2017, Department of Economics, March 2017 (http://www.economicpolicyresearch.org/econ/2017/NSSR_WP_132017.pdf), sowie in Saving the Euro. Redesigning Euro Area economic governance. Hrsg. Hansjörg Herr, Jan Priewe, Andrew Watt, London: Social Europe, pp. 223–249. Die Überarbeitung zur Fiskalunion wurde von Brigitte Young unternommen, der weitere Teil zur Sozialunion wurde von Simon Guntrum übersetzt.
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Notes
- 1.
Der Europäische Wechselkursmechanismus II, eingeführt im Jahr 1999, unterscheidet sich von dem Wechselkursmechanismus I (eingeführt 1979 und kollabiert 1992) in zwei grundlegenden Aspekten. Die Europäische Zentralbank behält ihre Rolle als Zentralbank für das gesamte Eurosystem und der zentrale Wechselkurs einer Mitgliedsstaatswährung wird in Relation zum Euro definiert (Scharpf 2017, S. 164).
- 2.
Piketty schlägt ein Stufenmodell für ein demokratisches Eurozonen-Parlament vor. Nicht alle Staaten müssten gleichzeitig Mitglieder dieses Parlaments werden. Es könnte sich eine kleine Anzahl der wichtigsten Länder, wie z. B. Frankreich, Deutschland, Italien und Spanien, die zusammen 76 % der Eurozonen-Bevölkerung und gleichzeitig das höchste BIP der Eurozone repräsentieren, zusammenschließen. Andere Länder könnten dann jederzeit dazu stoßen. Andererseits bräuchte es nur 10 Länder der derzeitigen 19 Eurozonen-Mitgliedsstaaten die 70 % der Bevölkerung der Eurozone repräsentieren, um die Ratifizierung nach Art. 20 von T-Dem zu ermöglichen. Somit wäre dies ein Weg in eine partielle Ratifizierung, die dann Druck auf andere unschlüssige Staaten ausüben könnte, dem Eurozonen Parlament beizutreten.
- 3.
Nach mehreren Anhörungen in Karlsruhe haben die Verfassungsrichter die entsprechenden Fragen dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg zur Prüfung vorgelegt. Erst wenn in Luxemburg eine Entscheidung gefallen ist, wird das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht fortgesetzt. Mit einer endgültigen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wird erst 2018 gerechnet (Handelsblatt 2017).
- 4.
Die goldene Regel öffentlicher Finanzen bedeutet, dass öffentliche Investitionen durch strikte Regeln schuldenfinanziert sind. Diese Regel wurde in Deutschland 2009 durch die ‚Schuldenbremse‘, die einer ausgeglichenen Budget-Regel folgt, außer Kraft gesetzt.
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Young, B., Semmler, W. (2019). Eine solidarische EU: Wie können Fiskal- und Sozialunion konzipiert werden?. In: Bieling, HJ., Guntrum, S. (eds) Neue Segel, alter Kurs?. Globale Politische Ökonomie. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-25037-9_9
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