Zusammenfassung
Es liegt ein großes Wagnis in dem Versuch, die Europäische Union gleichzeitig zu erweitern und ihr politisches System durch die Verabschiedung einer Verfassung zu reformieren: Zur selben Zeit und zumindest teilweise unabhängig voneinander verändern sich sowohl die politischen Institutionen der Union als auch die sozialen Rahmenbedingungen, in deren Kontext diese operieren und zu deren Regulierung sie geschaffen worden sind. Dies wirft mit besonderem Nachdruck die Frage nach dem Verhältnis zwischen politischen Institutionen und ihrer gesellschaftlichen Umwelt auf, die ohnehin als Kernfrage bei der Gestaltung und Bewertung politischer Systeme zu gelten hat:1 Kann man in der auf 25 Mitgliedsstaaten erweiterten Union davon ausgehen, dass „die sozialen Vorbedingungen für eine politische Integration“ vorliegen und nur an den „harten politischen Bretter[n] weiterzubohren ist“, wie es Hartmut Kaelble in den 1980er Jahren für die damalige Gemeinschaft behauptete?2 Oder muss man unter den Vorzeichen der jüngsten Erweiterung zu dem Schluss kommen, dass die gesellschaftlichen Bedingungen für weitere Integrationsschritte in der EU nicht mehr gegeben sind, wie etwa Ernst-Wolfgang Böckenförde argumentiert?3 Dies ist aus politikwissenschaftlicher Sicht die spezifische Problematik, vor deren Hintergrund die Frage nach der Existenz einer „europäischen Gesellschaft“ an Brisanz gewinnt. Dieser Beitrag will einige Thesen zu dieser Problematik entwickeln.
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Literatur
Heidrun Abromeit: Die Messbarkeit von Demokratie: Zur Relevanz des Kontexts, in: Politische Vierteljahresschrift 45 (2004), S. 73–93.
Hartmut Kaelble: Auf dem Weg zu einer europäischen Gesellschaft. Eine Sozialgeschichte Westeuropas 1880–1980, München 1987, S. 159.
Ernst-Wolfgang Böckenforde: Staat — Nation — Europa. Studien zur Staatslehre, Verfassungstheorie und Rechtsphilosophie, Frankfurt a. M. 1999, S. 68–102.
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, Frankfurt a. M. 1986 [ 1821 ].
Karl Marx: Zur Judenfrage, in: MEW, Band 1, Berlin 1956 [1844], S. 347–375.
Ernst-Wolfgang Böckenförde: Recht — Staat — Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt a. M. 1991, S. 217ff.
Claus Offe: Is there, or can there be, a,European Society’?, in: Ines Katenhusen/Wolfram Lamping (Hrsg.): Demokratien in Europa. Der Einfluss der europäischen Integration auf Institutionenwandel und neue Konturen des demokratischen Verfassungsstaates, Opladen 2003, S. 71–89 (hier S. 71ff.).
Rodney Barker: Legitimacy, Legitimation, and the European Union: What Crisis?, in: Paul Craig/Richard Rawlings (Hrsg.): Law and Administration in Europe: Essays in Honour of Carol Harlow, Oxford 2003, S. 157–174.
Allenfalls lässt sich in der Bevölkerung ein verbreitetes Desinteresse gegenüber der EU feststellen. Dies kann aber auch darauf zurückgeführt werden, dass die EU überwiegend in Politikbereichen Kompetenzen besitzt, die auch auf anderen politischen Ebenen wenig Interesse hervorrufen. Vgl. Andrew Moravcsik: In Defence of the Democratic Deficit’: Reassessing Legitimacy in the European Union, in: Journal of Common Market Studies 40 (2002), S. 603–624 (hier: S. 615ff.).
Dies übersieht Offe, wenn er aus dem Fehlen von EU-Kompetenzen über Krieg, Erziehung und Steuern — und damit aus seiner Sicht der Unmöglichkeit eines europäischen „nation building“ — die Unmöglichkeit einer europäischen Gesellschaft folgert: „Europe is not a state and hence not a society” (ebd., S. 77). Diese Behauptung ergibt allenfalls dann Sinn, wenn man,Nation und Gesellschaft gleichsetzt.
Maurizio Bach: Die europäische Integration und die unerfüllten Versprechen der Demokratie, in: Hans-Dieter Klingemann/Friedhelm Neidhardt (Hrsg.): Zur Zukunft der Demokratie, Herausforderungen im Zeitalter der Globalisierung (WZB-Jahrbuch 2000), Berlin 2000, S. 185–213.
Zum Folgenden ausführlich: Achim Hurrelmann: Verfassung und Integration in Europa. Wege zu einer supranationalen Demokratie, Frankfurt a. M. 2005, S. 102ff.
John Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 1975; Carole Pateman: The Sexual Contract, Stanford 1988; dies.: Contributing to Democracy, in: Review of Constitutional Studies 4 (1998), S. 191–212.
Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit, Neuauflage, Frankfurt a. M. 1990; Dieter Grimm: Braucht Europa eine Verfassung?, in: Juristenzeitung 50 (1995), S. 581–591; Klaus Eder/Cathleen Kantner: Interdiskursivitat in der europäischen Öffentlichkeit, in: Berliner Debatte Initial 13 (H. 5/6, 2002 ), S. 79–88.
Thomas Risse: Zur Debatte um die (Nicht-) Existenz einer europäischen Öffentlichkeit: Was wir wissen, und wie es zu interpretieren ist, in: Berliner Debatte Initial 13 (H. 5/6, 2002), S. 15–23.
Vgl. statt vieler Peter Graf Kielmansegg: Integration und Demokratie, in: Markus Jachtenfuchs/Beate Kohler-Koch (Hrsg.): Europäische Integration, Opladen 1996, S. 47–71; Claus Offe: Demokratie und Wohlfahrtsstaat: Eine europäische Regimeform unter dem Streß der europäischen Integration, in: Wolfgang Streeck (Hrsg.): Internationale Wirtschaft, nationale Demokratie. Herausforderungen fur die Demokratietheorie, Frankfurt a. M. 1998, S. 99–136; Fritz W. Scharpf: Demokratische Politik in der internationalisierten Ökonomie, in: Michael Th. Greven (Hrsg.): Demokratie — eine Kultur des Westens? 20. Wissenschaftlicher Kongreß der Deutschen Vereinigung fur Politische Wissenschaft, Opladen 1998, S. 81–103.
Vor dem Fehlschluss, aus Ähnlichkeiten zwischen den nationalen Gesellschaften in Europa die Existenz einer europäischen Gesellschaft zu folgern, warnt auch Claus Offe (European Society, S. 78). Diese Problematik wird insbesondere in den Arbeiten von Hartmut Kaelble zur europäischen Gesellschaft nicht immer deutlich genug gesehen (vgl. Kaelble, Europäische Gesellschaft; ders.: Europäische Vielfalt und der Weg zu einer europäischen Gesellschaft, in: Stefan Hradil/Stefan Immerfall (Hrsg.): Die westeuropäischen Gesellschaften im Vergleich, Opladen 1997, S. 27–68 ).
Die Armutsrate wird ausgedrückt durch den Anteil der Bevölkerung, der in Haushalten mit einem Einkommen von weniger als 60% des nationalen Median-Äquivalenzeinkommens lebt. Das Äquivalenzeinkommen eines Haushaltes ist eine Einkommensgröße, die Unterschiede in Haushaltsgröße und -zusammensetzung auszugleichen versucht.
Dies unterstreicht die These von Ulrich Beck, dass „mit dem Abbau der Grenzen das explosive Potential europäischer Ungleichheiten nicht etwa entschärft wird, sondern hervorzubrechen droht, weil die Barrieren der Wahrnehmung internationaler Unvergleichbarkeit abgebaut, also Ungleichheiten über Ländergrenzen hinweg gleich bewertet (…) werden“. Vgl. Ulrich Beck: So macht Gleichheit Ungleiche aus uns allen: Und kann es so etwas wie eine europäische Gesellschaft überhaupt geben?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.10.2004, S. 36.
Zum direktdemokratischen Veto: Heidrun Abromeit: Ein Vorschlag zur Demokratisierung des europäischen Entscheidungssystems, in: Politische Vierteljahresschrift 39 (1998), S. 80–90; dies.: Democracy in Europe. Legitimising Politics in a Non-State Polity, Oxford 1998.
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Hurrelmann, A. (2005). Gibt es eine demokratiefähige europäische Gesellschaft? Theoretische Überlegungen und empirische Befunde. In: Loth, W. (eds) Europäische Gesellschaft. Forschung Politik. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-80788-5_6
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