Zusammenfassung
Zivilgesellschaft — dieser Begriff klingt nach einem großen Versprechen sozialer Harmonie. Er scheint eine Gesellschaft mündiger und selbstbewusster Bürgerinnen und Bürger zu verheißen, die in gegenseitiger Achtung und Anerkennung miteinander verkehren, gewissermaßen „von Gleich zu Gleich“; nach einer Gesellschaft, in der Konflikte — wenn sie überhaupt entstehen — fair und diskursiv ausgetragen werden. Die normative Idee der Zivilgesellschaft bezieht aus solchen Visionen ihre Attraktivität. Sie scheint eine Alternative zu den Funktionsmechanismen derjenigen gesellschaftlichen Teilsyssteme zu bieten, die — wie der Staat und die Marktökonomie — durch Herrschaftsbeziehungen und Kapitalmacht reguliert werden und in denen deshalb mehr oder weniger krass ausgeprägte Machtgefälle, Hierarchien und Ungleichheiten an der Tagesordnung sind. Ohne einen egalitären Grundimpuls, ohne die Vorstellung von prinzipiell gleichberechtigten Akteuren in der öffentlichen Arena ist das Konzept der Zivilgesellschaft kaum denkbar.
Eine erste Fassung dieses Textes entstand im Zusammenhang einer von Jürgen Kocka geleiteten Arbeitsgruppe des WZB über „Zivilgesellschaft: Historische und sozialwissenschaftliche Perspektiven“. Den damaligen Mitgliedern der Arbeitsgruppe danke ich ebenso wie den Teilnehmern der Tagung „Demokratie und Sozialkapital“im WZB im Juni 2002, auf der diese Überlegungen erneut diskutiert wurden. — Ein Teil des Textes wurde bereits publiziert in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen 16(2003)2, S. 38–45.
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