Zusammenfassung
Das wissenschaftliche Interesse an den »Wanderungsbewegungen« steht zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Zusammenhang mit der sich intensivierenden Auseinandersetzung um Bevölkerungspolitik insgesamt. Neue Perspektiven, neues Wissen und neue Problematiken kennzeichnen diese Entwicklung. »Bevölkerungswissenschaft. Eine Einführung in die Bevölkerungsprobleme der Gegenwart« lautet 1913 der Titel einer der zahlreichen Veröffentlichungen. Die auf dem Titelblatt genannten Funktionen des Autors, Dr. Otto Most, unterstreichen die Praxisrelevanz: Beigeordneter der Stadt Düsseldorf, Vorstand des städtischen Statistischen Amts und Dozent an der Akademie für kommunale Verwaltung. Most unterscheidet als Objekte der Bevölkerungswissenschaft drei Wanderungsphänomene: die Ein- bzw. Auswanderung, die Wanderung als Dauerzustand, genauer das »Vagieren ohne festen Wohnsitz (z.B. der Straßenwanderer, Zigeuner)« und die Binnenwanderung, etwa die Land-Stadtwanderung, wobei die weiter zunehmende »Entwurzelung des Menschen aus heimischem Boden« zu beobachten sei.1 Genauer problematisiert wird dann allerdings nur die Einbzw. Auswanderung. Im Abschnitt zur »Bevölkerungslehre« werden neben Nachteilen einer starken Auswanderung kritische Aspekte der Einwanderung erwähnt. Nordamerika mit seinem »Zustrom chinesischer Kulis« biete ein Beispiel dafür, daß die »Überschwemmung mit kulturell oder wirtschaftlich minderwertigen Elementen […] auf Volkstum wie Volkswirtschaft gleich ungünstig« einwirke (80).
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Literatur
Otto Most: Bevölkerungswissenschaft. Eine Einführung in die Bevölkerungsprobleme der Gegenwart. Berlin, Leipzig 1913, S. 77 u. 129.
Josef Graßl: Der Geburtenrückgang in Deutschland, seine Ursachen und seine Bedeutung. Kempten 1914, S. 31.
Archiv, 12. Bd. Jg. 1916/18, 3.U.4. H., S. 348.
Max Haushofer: Bevölkerungslehre. Leipzig 1904, S. 124f.
Graßl, S. 158f.
Vgl. etwa Treitschke: Die ersten Versuche deutscher Kolonialpolitik. In: Preußische Jahrbücher 54 (1884) H. 6, S. 555–566.
Frhr. von der Brüggen: Auswanderung, Kolonisation und Zweikindersystem. In: Preußische Jahrbücher 49 (1882) H. 2, S. 290–319.
Vgl. etwa Friedrich Burgdörfer: Der Geburtenrückgang und seine Bekämpfung. Die Lebensfrage der deutschen Volkes. Berlin 1929.
Vgl. Vorwort zur 2. Aufl., in: Friedrich Burgdörfer: Volk ohne Jugend. Geburtenschwund und Überalterung des Deutschen Volkskörpers. Ein Problem der Volkswirtschaft — der Sozialpolitik — der nationalen Zukunft. 2. Aufl. Berlin-Grunewald 1934 (EA 1932), S. XIIf.
Fritz Burgdörfer: Das Bevölkerungsproblem, seine Erfassung durch Familienstatistik und Familienpolitik mit besonderer Bedeutung der deutschen Reformpläne und der französischen Leistungen. München (Buchholz) 1917, S. 5.
Burgdörfer: Geburtenrückgang, S. 61.
Burgdörfer: Volk ohne Jugend, S. 38.
Zu Vakuum vgl. auch Burgdörfer: Die bevölkerungspolitische Lage und das Gebot der Stunde. In: Archiv f. Rassen- und Gesellschafts-Biologie, einschließlich Rassen- und Gesellschafts-Hygiene 23 (1930–31), H. 2 u. 3, S. 166–221, hier S. 186.
Burgdörfer: Volk ohne Jugend, S. 435.
Burgdörfer: Geburtenrückgang, S. 98.
Burgdörfer: Geburtenrückgang, S. 174; zit. wird Karl C. v. Loesch: Die politische Bedeutung der Bevölkerungsverschiebung. In: »Volk und Reich«, Dezemberheft 1926, S. 538.
Peter Friedrich: Die Bilanzierung des Massensterbens. Elias Canettis Kritik an der Geschichtsschreibung. In: kultuRRevolution 23 (juni 1990), S. 10–15. Vgl. hier auch die von Canetti beschriebene »Wollust der springenden Zahl«.
Burgdörfer: Geburtenrückgang, S. 190.
Burgdörfer: Volk ohne Jugend, S. 291.
Im Großen Brockhaus von 1930 heißt es zum Stichwort >Gemengelage<: »der landw. Besitzzustand, bei dem die zu einem einheitl. Besitz oder Betrieb gehörenden Grundstücke in vielen Parzellen innerhalb der Feldmark zerstreut liegen« (Der Große Brockhaus. Handbuch des Wissens in zwanzig Bänden. 15. völlig neubearb. Aufl. von Brockhaus’ Konversations-Lexikon, Bd. 7. Leipzig 1930, S. 136).
Burgdörfer: Bevölkerungsproblem, S. 42.
Burgdörfer: Volk ohne Jugend, S. 124.
Burgdörfer: Bevölkerungspolitik. In: Erbkunde, Rassenpflege, Bevölkerungspolitik. Schicksalsfragen des deutschen Volkes. Von Alfred Kühn, Martin Staemmler, Friedrich Burdörfer. Hg. v. Heinz Woltereck. 3. verb. Aufl. Leipzig 1936 (EA 1934), S. 203–325, hier S. 320.
Burgdörfer: Volk ohne Jugend, S. 410, aber auch z.B. Geburtenrückgang, S. 170.
Friedrich Burgdörfer: Aufbau und Bewegung der Bevölkerung. Ein Führer durch die deutsche Bevölkerungsstatistik und Bevölkerungspolitik. Leipzig 1935, S. 31.
Burgdörfer: Geburtenrückgang, S. 171.
Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit 1: Der Wille zum Wissen. Aus d. Franz. übers, v. Ulrich Raulf u. Walter Seitter. Frankfurt/M. 1977 (EA: Histoire de la sexualité, I: La volonté de savoir. Paris 1976), S. 170, außerdem Foucault: Geburt des Rassismus.
»Bevölkerungspolitik. Von Privatdozent Dr. Christian, Berlin.« In: Soziale Praxis und Archiv für Volkswohlfahrt 31. Hg. v. Ludwig Heyde (als Nachfolger von Ernst Francke), Nr. 1 (Jena 1922), Sp. 6–10, Sp. 6.
Foucault: Geburt des Rassismus.
Vgl. dazu Jürgen Link: Warum Foucault aufhörte, Symbole zu analysieren: Mutmaßungen über ›Ideo-logie‹ und ›Interdiskurs‹. In: Anschlüsse. Versuche nach Michel Foucault. Hg. v. Gesa Dane u.a. Tübingen 1985, S. 105–114.
Die Tendenz zu intentionalistischen historischen Modellen ist sicherlich eine der Schwächen der Studie Goldhagens (vgl. Goldhagen: Vollstrecker).
Burgdörfer: Geburtenrückgang, S. 192.
Vgl. hierzu Friedrich Balke: Der Staat nach seinem Ende. Die Versuchung Carl Schmitts. München 1996.
Friedrich Burgdörfer: Aufbau und Bewegung der Bevölkerung. Ein Führer durch die deutsche Bevölkerungsstatistik und Bevölkerungspolitik. Mit 81 Abb. im Text. Leipzig 1935 (Staatsmedizinische Abhandlungen, 8), S. 3.
Hans Harmsen: Die Bevölkerungspolitik Deutschlands, Frankreichs und des italienischen Faschismus. In: Die deutsche Bevölkerungsfrage im europäischen Raum. Berlin 1929 (Zeitschrift für Geopolitik, Beiheft 5), S. 31–56, hier S. 44f.
Corrado Gini: Das Bevölkerungsproblem Italiens und die fascistische Bevölkerungspolitik. In: Archiv für Rassen- und Gesellschafts-Biologie, einschließlich Rassen- und Gesellschafts-Hygiene 25 (1931), H. 1, S. 1–19.
Harmsen: Bevölkerungspolitik, S. 36f.
Gini: Bevölkerungsproblem, S. 8.
Da es der vorliegenden Arbeit um die Proliferation der diskursiven Position in Deutschland geht, wird hier genau wie bei Gini darauf verzichtet, die italienischsprachigen Originaltexte einzubeziehen. Vielmehr interessieren gerade ihre deutschen Übersetzungen und Zitate. Zumal sich im folgenden ja auch zeigen läßt, daß es sich bei der Kollektivsymbolik insbesondere um ein kulturelles und nicht um ein im engeren Sinne sprachliches, d.h. auch nationalsprachliches Phänomen handelt.
Vgl. zur Gewichtung der organischen bzw. medizinischen Symbolik bei Mussolini Francesca Rigotti: Der Chirurg des Staates. Zur politischen Metaphorik Mussolinis. In: Politische Vierteljahrsschrift 28 (1987) H. 3, S. 280–292. Dabei übersieht Rigotti jedoch nicht nur die wichtigen symbolischen Äquivalenzbildungen, sondern vernachlässigt den Aspekt der massendynamischen Symbole und ihrer Ambivalenzen völlig. Ihre Betonung der Popularität der Parole »Die Zahl ist Macht« und der demographischen Aussagen Ginis können insofern nur als weiterer Hinweis für die Relevanz der Thematik dienen, Rigot-tis Kommentierungen selbst beschränken sich auf die Betonung der »nicht gerade brillianten Logik« solcher Konzepte (288).
Walther Rathenau: Vier Nationen. In: Gesammelte Schriften. 5 Bde. Berlin 1918, Bd. 4, S. 121–140, S. 131.
Vgl. dazu auch Ute Gerhard: The Discoursive Formation of National Stereotypes, Racist Concepts and Collective Identity in Germany in the Pre-Worldwar I Period. In: Norbert Finzsch, Dietmar Schirmer (Ed.): Identity and Intolerance: Nationalism, Racism, and Xenophobia in Germany and the United States. New York: Cambridge Univ. Press (i.D. 1998).
Harmsen: Bevölkerungspolitik, S. 39.
Richard Korherr: Geburtenrückgang. In: Süddeutsche Monatshefte 25 (Dez. 1927), H. 3, S. 155–190. Korherr war Spenglerschüler und übernahm später eine Führungsposition innerhalb der SS.
Harmsen: Bevölkerungspolitik, S. 53.
Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlands. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. 9. Aufl. München 1988 (EA 1918–22), S. 676: »Nun saugt die Riesenstadt das Land aus, unersättlich, immer neue Ströme von Menschen fordernd und verschlingend, bis sie inmitten einer kaum noch bevölkerten Wüste untergeht.«
Ein bekanntes klassisches Beispiel sei hier exemplarisch für viele genannt: In »Dichtung und Wahrheit« beschreibt Goethe die Zeit zu Beginn seines Studiums in Leipzig als Phase der »vielfachen Zerstreuung, ja Zerstückelung« seines »Wesen« (Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Zweiter Teil. Sechstes Buch. In: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. IX. 4. Aufl. Hamburg 1964., S. 257). Zur Geschichte des Konzepts vgl. auch Manfred Schneider: Was zerstreut die Zerstreuung? In: Fernsehshows. Theorie einer neuen Spielwut. Hg. v. Wolfgang Tietze u. M.S. München 1991, S. 9–24.
Spengler: Untergang, S. 755.
Spengler: Untergang, S. 681.
Korherr, S. 157: die »Stadt verödet mit unheimlicher Schnelligkeit, zurück bleibt nur mehr das primitive Blut, der Typus des Fellachen«. Diese Beschreibung formuliert Korherr noch dahingehend aus, daß in den »ungeheuren Steinmassen eine kleine Fellachenbevölkerung nicht anders haust als die Menschen der Steinzeit in ihren Höhlen«. Die weitere Steigerung der Merkmale der Rückentwicklung zum ›Primi-tiven‹ ist hier durch die »Höhle«, für Spengler wiederum »Ursymbol« arabischer Kulturen, zugleich eine Komplettierung des Orientstereotyps.
Spenglers Perspektive und seine im engeren Sinne politischen Schriften sprechen jedoch dafür, daß es sich bei einer solchen Lektüre um ein wirkliches Mißverständnis handelt. Außerdem scheint die Tendenz der Prognosen des »Untergang« schon wegen der Länge der angenommenen Epochen und der Unausweichlichkeit doch eher dahin zu gehen, zumindest die deutsche expansive Politik erst einmal zu unterstützen.
Stefan Breuer: Anatomie der Konservativen Revolution. Darmstadt 1993.
Edgar J. Jung: Die Herrschaft der Minderwertigen — ihr Zerfall und ihre Ablösung durch ein Neues Reich. 2. Aufl. Berlin 1930 (EA 1927).
Arthur Moeller van den Bruck: Das dritte Reich. 3. Aufl. Hamburg 1931 (EA 1923), S. 59.
Auf Ratzeis Rezeption der Migrationstheorie Moritz Wagners sei hier nur kurz verwiesen. Für Wagner bilden, wie Ratzel betont, »Wanderung und Absonderung« die wichtigste »Triebkraft der organischen Entwicklung«. Das Migrationsgesetz sieht Wagner insofern als notwendige Korrektur Darwins. Friedrich Ratzel: Moritz Wagner. In: F.R., Kleine Schriften, Bd. 1. Ausgew. u. Hg. v. Hans Helmolt. München, Berlin 1905, S. 468.
Friedrich Ratzel: Über geographische Bedingungen und ethnographische Folgen der Völkerwanderung. In: F.R. Kleine Schriften, Bd. 2. Ausgew. u. Hg. v. Hans Helmolt. München, Berlin 1906, S. 35–65, hier S.38.
Friedrich Ratzel: Nationalitäten und Rassen. In: F.R., Kleine Schriften, Bd. 2, S. 462–487, hier S. 483.
Ratzel: Politische Geographic 3. Aufl. München, Berlin 1923. Dieser Text Ratzeis ist insofern noch besonders interessant, als er zur Haft- oder besser Festungslektüre Hitlers gehörte.
Vgl. Karl Lange: Der Terminus »Lebensraum« in Hitlers »Mein Kampf«. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte. 13. Jg. (1965), H. 4, S. 426–437.
Karl Haushofer: Grundlage, Wesen und Ziele der Geopolitik. In: K.H., Erich Obst, Hermann Lautensach, Otto Maul: Bausteine zur Geopolitik. Berlin-Grunewald 1928, S. 2–48, hier S. 42.
Die Position, von der aus Massendynamiken geregelt werden, ist etwa die des Ingenieurs, der als symbolische Figur bekanntlich in den sog. »völkischen Texten« eine besondere Rolle spielt. Vgl. dazu etwa Her-mand: Völkische Utopien. Zur in diesem Zusammenhang wichtigen Symbolik der Steuerung vgl. weiter unten.
Vgl. dazu Trude Maurer: Ostjuden in Deutschland. 1918–1933. Hamburg 1986, S. 568–571.
Vgl. Lethen: Verhaltenslehren, S. 48f.
Süddeutsche Monatshefte, 24. Jg., H. 3 (Dez. 1926), S. 245f.
Süddeutsche Monatshefte, 25. Jg., H. 3 (Dez. 1927), S. 222.
Süddeutsche Monatshefte, 25. Jg., H. 4 (Jan. 1928), S. 290.
Vgl. Hans-Ulrich Wagner: Volk ohne Raum. Zur Geschichte eines Schlagwortes. Mit zwei Abbildungen. In: Sprachwissenschaft 17, H. 1 (1992), S. 68–109.
Ketelsen: Drittes Reich, S. 199.
Erich Obst: Das Raumschicksal des russischen Volkes. In: Haushofer u.a.: Bausteine, S. 201–258, hier S. 207.
Burgdörfer: Geburtenrückgang.
Die bereits gegebene Proliferation dieser Position zeigen zwei Radiosendungen von Paul Kassner: Volk ohne Raum — Raum ohne Volk. Wohnungsnot — Wohnungsnöte. Zwei Rundfunk-Vorträge. Berlin 1928; zit. n. Wagner: Volk ohne Raum, S. 85.
Vgl. etwa Dr. R. Lotze: Volkstod? Stuttgart 1932 (Kosmos, Gesellschaft der Naturfreunde), S. 90.
Burgdörfer: Volk ohne Jugend, S. XV.
Moeller van den Brack: Das dritte Reich, S. 62. Das Quasi-Zitat des Titels drei Jahre bevor der Roman erschien, war in den dreißiger Jahren Grand zu der Erklärung Grimms, daß er bereits 1920 in einem Gespräch mit Moeller seinen Plan sowie den Titel erwähnt hätte. In den eher mythisierenden Darstellungen zur Zeit der 50er Jahre gibt er an, daß er nach einem Gespräch mit Moeller und einem englischen Parlamentarier im Jahre 1919 überhaupt erst auf diesen Titel gekommen sei. (Vgl. Wagner: Volk ohne Raum, S. 74f.).
Grimm: Volk ohne Raum, S. 1242f.
Friedrich von der Leyen: Dichtung. 2. Aufl. 1927, zit. n. Ketelsen: Drittes Reich, S. 58. In der in einer Serie mit »Vertiefung« etc. und als Gegensatz zur »Zerstreuung« genannten Sachlichkeit, die zu diesem Zeitpunkt unweigerlich auch die »Neue Sachlichkeit« konnotiert, zeigen sich bereits die Tendenzen von Verschiebung und neuen Äquivalenzbildung zwischen modernen und antimodernen Positionen.
Ketelsen: Drittes Reich, S. 204.
Haushofer: Bausteine, S. 41; Hans Harmsen: Der Geburtenrückgang und seine sozialen Auswirkungen. In: Soziale Praxis und Archiv für Volkswohlfahrt 29, 35. Jg., Juli 1926, Sp. 721–726, hier Sp. 722.
Vgl. Lethens Darstellung unter dem Stichwort »Einwandern der Zahl in den Text« in: H.L.: Der Habitus der Sachlichkeit in der Weimarer Republik. In: Literatur der Weimarer Republik. Hg. v. Bernhard Wey-ergraf. München, Wien 1995 (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bd. 8), S. 371–445.
Hermann Muckennann S.J.: Kind und Volk. Der biologische Wert der Treue zu den Lebensgesetzen beim Aufbau der Familie. 1. Teil: Vererbung und Auslese. 3. bed. verm. Aufl. Freiburg i. Br. 1920, S. If.
Die besondere Relevanz dieser Binnenwanderungsvorstellungen für den Roman läßt sich an dem Titelbild der einbändigen Ausgabe von 1926 erkennen. Dabei handelt es sich nämlich um die Zeichnung einer »wimmelnden« Masse vor einer Großstadt- bzw. Industriekulisse.
Vgl. Ute Gerhard: »Die Masse als Weib«. Kollektivsymbolische Verfahren als Strategien des politischen und literarischen Diskurses im 19. Jahrhundert. In: Frauen — Literatur — Politik. Hg. v. Annegret Pelz, Marianne Schuller u.a. Hamburg 1988 (Argument-Sonderband 172/173), S. 145–153.
So handelt es sich bei Friebotts »weißer« Frau um das uneheliche Kind seiner ersten großen Liebe, die aber als Kind reicherer Eltern für ihn nicht in Frage kam. Nach längeren »Verirrungen« trifft er sie bei seiner Rückkehr nach Deutschland als Krankenschwester und Betreuerin der Heimkehrer wieder.
In den zwanziger Jahren wird dabei etwa auf eine angeblich wissenschaftliche Studie verwiesen, die sogar die mehrheitliche »deutsche« Genealogie der Buren belegt hätte: H.T. Colenbrander: De Afkomst der Boeren. Dordrecht 1902.
Das entspricht allerdings den Regeln des Fraktursatzes: nur ›deutscher‹ Text soll in Fraktur, anderssprachige Passagen und Wörter in Antiqua gesetzt werden (entsprechend sollen, wenn in Antiqua gesetzt wird, zumindest nicht eingedeutschte Begriffe klein und kursiv gesetzt werden).
Die dadurch gegebenen Authentizitätseffekte sind sicherlich ein Grund für die bei der Rezeption wichtige Mythisierung und Ritualisierung des Autors und des Ortes »Lippoldsberg« an der Weser.
Angedeutet wird das übrigens auch im Text selbst, wenn von den »Wagemutige[n] und Sehnsüchti-ge[n]«, die »in München zusammengeschossen wurden«, die Rede ist (1290). Außerdem heißt es gleich darauf, daß die Zeitung, die über die Ermordung des Wanderredners berichtet, »knapp vor jenem neunten November 1923 in München« ins Haus gekommen sei (1291).
Das »Führerwissen« von »Volk ohne Raum« sah der Autor selbst durch solche Dissensen nie in Frage gestellt. Ja, wie Ketelsen zeigt, bewegt sich seine merkwürdige Distanzierung von den Verbrechen des NS noch völlig innerhalb der Logik, die den Roman bestimmt. Denn — so Grimm in den 50er Jahren -»verhemmte Leistungsfähige und Geltungsbedürftige liefen Amok« und hätten auf diese Weise den Nationalsozialismus »verdorben«. Vgl. Ketelsen: Drittes Reich, S. 203.
Die Spezifik der Grimmschen Texte (und nicht nur dieser) und damit auch ihre funktionalen Aspekte gründen aber gerade in ihrer diskursiven Materialität, zu der auch die Verarbeitung der »zeitbedingten Terminologie« gehört, die man nicht einfach ›abstreifen‹ kann, wie etwa von Delft fordert, um Grimm als möglichen Humanisten zu retten (vgl. Klaus von Delft: Kritische Apologie des Nationalsozialismus: Hans Grimms konservative Revolution? In: Leid der Worte. Panorama des literarischen Nationalsozialismus. Hg. v. Jörg Thunecke. Bonn 1987, S. 255–277, S. 272).
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Gerhard, U. (1998). Das Feld der Wissenschaften I: Statistische Erfassung und symbolische Gesetzmäßigkeiten. In: Nomadische Bewegungen und die Symbolik der Krise. Historische Diskursanalyse der Literatur. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-85122-2_5
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