Zusammenfassung
Die Prototypen der amerikanischen und der französischen Verfassungen des 18. Jahrhunderts lassen zwei grundverschiedene Ziele erkennen, die der Historiker Emile Boutmy beschreibt:
„Alle Deklarationen der Vereinigten Staaten sind in der Weise verfaßt, daß man sich vor Gericht auf sie berufen kann. Die Amerikaner dachten immer daran, daß sie in mehr als einem Verfahren vor dem obersten Gericht ihres Staates als Grundlage dienen würden, und sie haben sich ausschließlich damit beschäftigt, juristische Argumente vorzubereiten, Rechtsmittel, auf die man sich bei einem Verfahren würde berufen können, und der ganze Text trägt die Spuren dieser Absicht. Für die Franzosen ist die Deklaration nur ein oratorisches Meisterstück, die Artikel stehen da in abstrakter Reinheit, allein im Glanz ihrer Majestät und der Herrschaft der Wahrheit über die Menschen. Kein Gericht kann sie als Rechtsmittel verwenden oder sie zur Urteilsbegründung heranziehen. Zur Belehrung der ganzen Welt schreiben die Franzosen; die amerikanischen Verfassunggeber haben die Artikel ihrer Deklarationen zum Nutzen und zur Annehmlichkeit ihrer Mitbürger verfaßt.“109
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Literatur
Emile Boutmy, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte und Georg Jellinek (1902), abgedruckt in: Roman Schnur (Hg.), Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte, Darmstadt 1964, S. 78 (88 f.). Die idealtypisierende Betrachtung Boutmys vereinfacht die historische Realität. Auch in der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung stecken zivilreligiöse und volkspädagogische Komponenten. Aufschlußreich: Ralph Henry Gabriel, Die Entwicklung des demokratischen Gedankens in den Vereinigten Staaten von Amerika (dt. Ausgabe), Berlin 1951, S. 3 ff., 151 ff., passim.
Präambel der Déclaration von 1789, die in die Verfassung von 1791 inkorporiert ist.
So Charles Pierre Ducancel, La constitution non écrite du roayaume de France, Paris 1814, S. 1. Zitiert nach Wolf gang Schmale, Entchristianisierung, Revolution und Verfassung. Zur Mentalitätsgeschichte der Verfassung in Frankreich, 1715–1794, Berlin 1988, S. 12.
Zitiert nach Schmale (N 111), S. 13; zu vergleichbaren Strebungen „demokratischen Glaubens“ in der Verfassungsgeschichte der USA: Gabriel (N 109), S. 12 ff., 117 ff., 151 ff., 389 ff.
Präambel der Déclaration von 1789. Ähnlich die Präambel der Déclaration der Verfassung von 1793: „ces droits sacrés et inaliénables“.
Verfassung vom 24. Juni 1793: Präambel der Déclaration und Art. 123, 124.
Zitiert nach Gabriel (N 109), S.419.
Ludwig Uhland, Kurze politische Aussprüche, in: ders., Gesammelte politische Werke, 8. Bd., Leipzig o. J., S. 57.
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), § 272, S. 233 f. (Meiner-Ausgabe, hg. von Johannes Hoffmeister, 4. Aufl. Hamburg 1955, S. 239).
Text in: Ernst Rudolf Hüber (Hg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1, Stuttgart u. a. 31978, S. 515 f. (Nr. 195). Zum Verfassungsverständnis des Königs: Walter Bußmann, Zwischen Preußen und Deutschland — Friedrich Wilhelm IV, Berlin 1990, S. 234 ff. (243 ff.).
Nach Karl Loewenstein war Bismarcks Verfassung von 1871 „nichts weiter als die Aufstellung von Statuten, wie etwa bei einem Verein, wie die Regierungsgeschäfte von den obersten Staatsorganen betrieben werden sollen. Ihr ideologischer Gehalt entspricht dem eines Telefonbuchs ... “ (N73, S. 146).
Paul Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, 2. Bd., Tübingen 51911, S. 39.
Laband (N 119), 1. Bd., Tübingen 51911, S. 34 Anm. 1. 120a Laband, Wandlungen (N 85), S. 574 (575).
Quelle: Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Bd. 336, Anlagen zu den Stenographischen Berichten, Nr. 391, Bericht des Verfassungsausschusses, S. 171 ff. Dazu Ernst Rudolf Hüber, Friedrich Naumanns Weimarer Grundrechts-Entwurf, in: FS für Franz Wieacker, Göttingen, 1978, S. 384 ff.; Huba (N 40), S. 192 ff.
Hans Kelsen, Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, in: VVDStRL 5 (1929), S. 30 (70).
Dazu Huba (N 40), S. 129 ff., 190 ff., 200 ff. — Fundamentalkritik an schwarmgeisterhaftem Verfassungsverständnis, das mit der deutschen Kulturrevolution ausbrach: Wilhelm Hennis, Verfassung und Verfassungswirklichkeit. Ein deutsches Problem, Tübingen 1968, S. 22, passim.
Vgl. die Dokumentation der Beratungen der Gemeinsamen Verfassungskommission (N 57). Zu den Anderungsinitiativen Peter Häberle, Die Kontroverse um die Reform des deutschen Grundgesetzes (1991/92), in: ZfP 39 (1992), S. 233 (239 ff.). Zum Stilwandel Hans Hugo Klein, Ein verbindliche oder eine wohlklingende Verfassung?, in: FAZ v. 14.4.1992, Nr. 89, S. 9 f.; Hans Heinrich Rupp, Tierschutz ins Grundgesetz?, in: WissR 32 (1999), S. 177 ff..
Überblick und Resümee: Christian Starck, Die Verfassungen der neuen Länder, in: HStR Bd. IX, Heidelberg 1997, § 208 Rn. 22 ff. Zum „Sinnstiftungs“-Charakter der Brandenburger Verfassung, außerhalb ihrer Funktion als „instrument of Government“: Eckart Klein, Das Bekenntnis der Brandenburgischen Verfassung zu international garantierten Grundrechten, in: Peter Macke (Hg.), Verfassung und Verfassungsgerechtigkeit auf Landesebene, Baden-Baden 1998, S. 33 (45).
Smend (N 32), S. 187 ff.; Herbert Krüger, Die Verfassung als Programm der nationalen Integration, in: Festschrift für Friedrich Berber, München 1973, S. 247 ff. — Übersicht über die disparaten „Funktionen“, die dem Grundgesetz von der Verfassungstheorie zugesprochen werden: Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, München 21984, S. 78 ff.; Hofmann (N 85), S. 266 ff., 290 ff.; Kurt Eichenberger, Sinn und Bedeutung einer Verfassung, in: Referate zum 125. Schweizerischen Juristentag, Basel 1991, S. 143 (172 ff., 178 ff.). Zur entsprechenden Vielfalt der Verfassungstexte: Peter Häberle, Artenreichtum und Vielschichtigkeit von Verfassungstexten, eine vergleichende Typologie, in: Festschrift für Ulrich Häfelin, Zürich 1989, S. 225 ff.
Näher Josef Isensee, Die Verfassung als Vaterland, in: Armin Mohler (Hg.), Wirklichkeit als Tabu, München 1986, S. 11 ff. Der Begriff Verfassungspatriotismus geht zurück auf Dolf Sternberger (Schriften Bd. 10, Verfassungspatriotismus, Frankfurt a. M. 1990). Den heute gängigen Gebrauch repräsentiert etwa Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, Frankfurt a. M. 41994, S. 642 f.; Brun-Otto Bryde, Die bundesrepublikanische Volksdemokratie als Irrweg der Demokratie, in: Staatswissenschaften und Staatspraxis 1994, S. 305 ff. Kritisch: Otto Depenheuer, Integration durch Verfassung? — Zum Identitätskonzept des Verfassungspatriotismus -, in: DÖV 1995, S. 854 ff. (bes. S. 856 ff.).
Beim Staatsakt zur deutschen Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 in Berlin stellte Bundespräsident Richard von Weizsäcker als die markanten Eigenschaften der Deutschen im Westen und im Osten, die sich nunmehr wieder vereinen sollten, gegenüber: den „gewachsenen Verfassungspatriotismus der einen“ und die „erlebte menschliche Solidarität der anderen Seite“ (Text der Ansprache in: Klaus Stern/Bruno Schmidt-Bleibtreu (Hg.), Einigungsvertrag, München 1990, S. 1008 [1017]).
In der Urfassung der Präambel des Grundgesetzes wird als eine Intention des Verfassunggebers genannt: die „nationale und staatliche Einheit“ des Deutschen Volkes zu wahren.
Die rechtliche Möglichkeit der Ablösung des Grundgesetzes bot sich aufgrund des Art. 146 GG a. F. mit der Wiedervereinigung. Die Chance, die Ablösung nachzuholen, besteht nach Auffassung der Linken aufgrund der Neufassung des Art. 146 GG weiterhin. Diese Rechtsmeinung hat sich aber weder rechtlich noch politisch durchgesetzt. Geschichte und Analyse der gescheiterten verfassungspolitischen Bemühungen um die Ablösung in der Zeit von 1990–1994: Hans Hugo Klein, Kontinuität des Grundgesetzes und seine Änderung im Zuge der Wiedervereinigung, in: HStR Bd. VIII, Heidelberg 1995, § 198 Rn. 14 ff., 23 ff., 56 ff.; Huba (N 40), S. 47 ff., 72 ff., 129 ff.
Vgl. Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten (N 6), S. 297 ff.; ders. Verfassungsinterpretation (N 6), S. 121 ff.).
Novalis, Fragmente, in: ders., Schriften, hg. von Jakob Minor, 3. Bd., Jena 21923, S. 228 (Nr. 38G).
Vgl. Dieter Grimm, Verfassung, in: Staatslexikon, hg. von der Görres-Gesellschaft, 5. Bd., Freiburg i.Br. 71989, Sp. 633 (635 ff.); ders., Das Risiko Demokratie, in: Bernd Guggenberger/ Tine Stein (Hg.), Die Verfassungsdiskussion im Jahr der deutschen Einheit, München 1991, S. 261 ff. Dazu Huba (N 40), S. 101 ff., 115 ff., 118 ff.
Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten (N 6), S. 297 ff.
Die Auslegung der Grundrechte, zumindest ihrer Schutzbereiche, nach dem Selbstverständnis der Grundrechtsträger (subjektivierende Betrachtungsweise) vertreten: Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten (N 6), S. 298; ders., Verfassungsinterpretation (N 6), S. 124 ff.; Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, Baden-Baden 1985, S. 278 ff.; Gertrude Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, Baden-Baden 1988, S. 87 ff.; Morlok (N 20), S. 386 f., 393 ff., passim. Kritik: Isensee (N 20), S. 29 ff.; Muckel (N 20), S. 27 ff. (Nachw.). Vgl. auch Martin Stock, „Selbstverständnisse“ im Verfassungsstaat — Altes und Neues, in: ARSP 84 (1998), S. 546 (555 ff.).
Alexy (N 135), S. 71 ff. Grundstürzende Kritik: Matthias Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, Habilitationsschrift, Bonn 1999, Typoskript, S. 254 ff. (Nachw.).
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Isensee, J. (1999). Verfassung im Dienst rechtlicher und außerrechtlicher Zwecke. In: Vom Stil der Verfassung. Eine typologische Studie zu Sprache, Thematik und Sinn des Verfassungsgesetzes. Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften, vol G 361. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-88223-3_5
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