Zusammenfassung
Die interdisziplinäre Risikoforschung ist ein vergleichsweise junges und inhomogenes Forschungsfeld, da jede neu hinzukommende Teildisziplin einen ganz eigenen Fundus an Theorien, Methoden und Erklärungsansätzen mit sich bringt. Bei allen Schwierigkeiten, die der ständige Import disziplinspezifischer Wissensbestände mit sich bringt, lassen sich gleichwohl drei grundlegende Denkrichtungen identifizieren, die teilweise die Risikoforschung bis auf den heutigen Tag bestimmen. Orientiert man sich an den jeweils vorherrschenden Disziplinen und Methoden, kann man in Anlehnung an Bechmann (1993b) von formal-normativen, empirisch-psychologischen und kultur-soziologischen Ansätzen sprechen.2
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Literatur
Turner und Wynne (1992b: 109 ff.) schlagen dagegen vor, zwischen kognitiven, kulturellen und soziologischen Risikotheorien zu unterscheiden. Sie ignorieren damit die Frühphase der Risikoforschung. Da diese jedoch fûr die Behandlung der risikoobjektivistischen Kommunikationsforschung wesentlich ist, darf sie hier nicht unterschlagen werden. Einen Überblick über andere Klassifizierungsvorschläge gibt Ortwin Renn (1992: 55 ff.), er selbst folgt weitgehend dem Vorschlag von Turner und Wynne (1992), ergänzt deren Auflistung allerdings um ökonomische Risikokonzepte (vgl. Renn 1992: 59 ff.).
Der Ursprung und historische Entstehungskontext des Begriffs Risiko wird für gewöhnlich in der frühen Seefahrt gesehen, die alsbald versicherungstechnische Fragestellungen aufkommen ließ (vgl. Knight 1921; Kuske 1949; Oppenheim 1954; Kunreuther 1976 und Nehlsen von Stryk 1989).
Verantwortlich hierfür sind konfligierende Einschätzungen, die sich nicht zu einem alle Seiten befriedigenden Konsens verrechnen lassen: „Für das Individuum könnte ein verzögerter Tod besser als ein früher sein — aber auch schlechter. Stellen Sie sich vor, eine Person stirbt mit siebzig an einem Krebs, der durch Strahlung hervorgerufen wurde, nachdem ein nuklearer Unfall passierte. als sie dreißig war. Aus der einen Perspektive ist dies günstig, verglichen mit einer dreißigjährigen Person, die direkt beim Unfall starb. Diese letzte Person hat schließlich viel mehr verloren. Aus einer anderen Perspektive sind vielleicht vierzig .Jahre in der Erwartung, Krebs zu bekommen, kein besonders gutes Leben; außerdem sind manche Todesarten schlimmer als andere. Für die Gesellschaft sind eine Chance von einer Million Todesfällen pro Million und eine Chance von tausend Todesfällen pro Tausend nicht unbedingt gleichwertig.“ (Elster 1993: 68; vgl. Juas/Mattson 1987; Peters 1994a: 342)
Einen Überblick über die nur semantisch gängigere Unterscheidung von tatsächlichen und wahrgenommenen Risiken geben Covello/Flamm/Rodricks/Tardiff (1983) und speziell bezogen auf die Kernkraftproblematik die Studie von Fischhoff/Lichtenstein (1982) (vgl. ferner Jungermann/Slovic 1993a; Kemp 1993).
Eine anspruchvolle Aufarbeitung dieses Forschungszweiges leisten Renn (1984) und Femers/Jungermann (1991).
Im einzelnen unterscheidet Perrow (1988: 368 ff.) zwischen ‘absoluter Rationalität’, ‘beschränkter Rationalität’ und ‘kulturell-sozialer Rationalität’. Diese Differenzierung korrespondiert in etwa mit den Phasen der Risikoforschung: Von ‘absoluter Rationalität’ gehen die Vertreter formal-normativer Risikoanalysen aus. Mit neuen Methoden distanzierte sich die folgende kognitiv-psychologische Risikoforschung auch vom Konzept absoluter Rationalität. Dies hat über die Entdeckung erfahrungsgestützter Heuristiken, die Risikowahrnehmungen steuern können, zur Adaption des Begriffs ‘beschränkte Rationalität’ geführt. Die ‘soziale Rationalität’, so Perrow (1988: 375 f.), sieht die Grenzen rationalen Entscheidens nicht nur als unanfechtbar an, sondern wertet eben diesen Beschränkungen sogar als vorteilhaft (vgl. Coleman 1995: 65 ff.).
Ebenso entschieden abgelehnt wird die (normierende) Aufstellung einer Rangfolge der Risiken, weil dies eine privilegierte Weltsicht voraussetzen müßte, die realistischerweise niemand (außer Gott vielleicht) haben kann. Gleichfalls wehren sich Douglas und Wildavsky dagegen, daß eine dem Prozeß der kulturellen Bedeutungszuweisung und Wertschöpfung inhäherente Moralisierung kritisiert wird (vgl. Luhmann 1993a). Beide Einwände gegen eine Theorie der kulturellen Risikowahrnehmung werden als ‘vormodern’ zurückgewiesen (vgl. Douglas/Wildavsky 1982: 3; vgl. Douglas 1990).
Aus diesem Grund beschreibt Beck (1986: 105) die Risikogesellschaft auch als „Katastrophengesellschaft: In ihr droht der Ausnahme- zum Normalzustand zu werden.“ (Beck 1986: 105; vgl. Sloterdijk 1989)
Vordergründig Perrow (1988) nicht unähnlich, kritisiert Beck das der wissenschaftlichtechnischen Zivilisation zugrundeliegende Rationalitätskonzept und damit nolens volens ältere Risikokonzepte. Scheitert absolute Rationalität bei Perrow jedoch letztlich an ihrer Nichtbeobachtbarkeit, wird sie bei Beck zur Mitverursacherin der Katastrophengesellschaft: „Der Ursprung der Wissenschafts- und Technikkritik und -skepsis liegt nicht in der ‘Irrationalität’ der Kritiker, sondern in dem Versagen der wissenschaftlich-technischen Rationalität angesichts wachsender Risiken und Zivilisationsgefährdungen. [...] Die Wissenschaften sind so, wie sie verfaßt sind — in ihrer überspezialisierten Arbeitsteilig keit, in ihrem Methoden- und Theorieverständnis, in ihrer fremdbestimmten Praxisabstinenz , gar nicht in der Lage, auf die Zivilisationsrisiken angemessen zu reagieren, da sie an deren Entstehen und Wachstum hervorragend beteiligt sind.“ (Beck 1986: 78)
Als Paradox der Risikokommunikation gilt vielfach die Beobachtung, daß mit einem Verzicht auf riskante Entscheidungs- und Handlungsoptionen kein Zugewinn an Sicherheit verbunden ist, da Nichthandeln unter Umständen viel größere Risiken birgt (vgl. Luhmann 1991d; Otway/Wynne 1993). Dagegen hält Beck einen Verzicht auf riskante (Groß)Technologien zwar für unwahrscheinlich, aber nicht für undurchführbar.
Eine einträgliche Ausbeutung der sozialen Fiktion, gegen Gefahren/Risiken könne man sich versichern, leistet die Versicherungswirtschaft. Zumindest für den systemtheoretischen Betrachter zeigt sich indes: Der Abschluß von Versicherungen produziert nicht mehr Sicherheit, sondern neue Risiken (vgl. Luhmann 1996b). Ahnliche Züge weist die (politische) Debatte um „Innere Sicherheit“ auf, die wesentlich der sozialen Fiktion des Sicherheitsstaates, der Sicherheitsgesellschaft (vgl. Legnaro 1997: 271 11.), huldigt aus politischer Sicht eine durchaus erfolgversprechende (Wahlkampf-)Strategie.
Starr hat schon 1969 auf die fundamentale Bedeutung der Unterscheidung freiwillig/unfreiwillig hingewiesen. In der deutschen Übersetzung heißt es: „Gesellschaftliche Aktivitäten lassen sich zwei Kategorien zuordnen — jene, an denen ein Individuum ‘freiwillig’ teilnimmt, und jene, an denen die Teilnahme ‘unfreiwillig’ ist, da sie von der Gesellschaft, in der das Individuum lebt, auferlegt wird.“ (Starr 1993: 7) Im Unterschied zu Luhmann übersieht Starr jedoch die Beobachterabhängigkeit dieser Kategorien und damit auch deren Kontingenz.
Hierbei geht es um die Frage, ob die beobachterabhängige Unterscheidung zwischen Risiko und Gefahr mit der Codierung des Funktionssystems, die dessen Operationsweise prägt, vereinbar ist oder nicht. Luhmann (1991a) verlegt sich u. E. vorrangig darauf, das Risiko des Beobachtens auf die (unterschiedliche) Codierung der Funktionssysteme zurückzuführen. So entsteht einerseits der gewiß nicht unrichtige Eindruck, bereits die Art und Weise, wie in der Gesellschaft unterschiedliche Beobachtungen produziert werden, sei riskant (vel. Luhmann 1991a: 85 ff.).).
Das gilt (nur) mit inschränkung auch Für das I3ecksche Konzept der Risikogesellschaft, das zwar nicht von einer Meßbarkeit technologischer Risiken ausgeht, aber deren Existenz (als Umweltereignisse) für evident hält (vgl. auch Alexander/Smith 1996).
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Görke, A. (1999). Risikoforschung: Perspektiven und Probleme. In: Risikojournalismus und Risikogesellschaft. Studien zur Kommunikationswissenschaft, vol 36. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-95613-2_2
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