Zusammenfassung
Wenn ein Soziologe sein eigenes Fach zu den hauptverantwortlichen Faktoren für eine weitreichende geschichtliche Entwicklung zählt, ob dies nun im Guten oder wie hier im Bösen geschieht, so liegt der Einwand nahe, er verfalle einer professionellen, sich überschätzenden Selbsttäuschung. Daß die Soziologie aber in vielerlei Hinsicht die »Schlüsselwissenschaft« des 20. Jahrhunderts darstellt, läßt sich leider belegen. Dabei will ich ganz davon absehen, daß alle weltanschaulich-totalitären sozialistischen Staaten mit soziologischen Gedankensystemen beherrscht werden, sondern die These auf die westeuropäischen (und amerikanischen) Gesellschaften beziehen, die den Nährboden für die neue Priester- und Klassenherrschaft der Sinnvermittler bieten. Hier gibt es einen sehr leichten, wenn auch vordergründigen Beweis: Alle sinnanalytischen Wissenschaften (die sogenannten »Geisteswissenschaften« und »Kulturwissenschaften«) werden mehr und mehr von soziologischen Gesichtspunkten erobert, ja dieses »soziologische« Selbstverständnis dringt auch zunehmend in die angewandten Naturwissenschaften ein, sofern sie auf die Berechtigung ihrer Anwendung zurückblicken. Aber dieser Tatbestand bedarf natürlich selbst der Erklärung: Woran liegt es, daß der Trend der Historie von der politischen Geschichte zur Sozialgeschichte, der Pädagogik von der Individualerziehung zur Sozialpädagogik verläuft? Daß Literatur- und Kunstsoziologie in das Zentrum der Literatur- und Kunstwissenschaften rücken? Daß die Theologen und Philosophen mehr Soziologie und Politik treiben als Theologie und Philosophie? Daß die Rechtssoziologie ihren Gestaltungsanspruch für die gesamte Rechtswissenschaft anmeldet und durchsetzt, und daß in der Medizin und den technischen Wissenschaften ähnliche »Einbrüche« zu verzeichnen sind? Wenn heute Literaten besonders progressiv sein wollen, so schreiben oder reden sie wenigstens »soziologisch«; und wenn ein Politiker seine geistige »Progressivität« bezeugen will, so fördert er die Sozialwissenschaften. Zwar begegnet die Soziologie — und in ihren Umkreis gehören in diesem Zusammenhang natürlich noch Sozialpsychologie, ja, wahrscheinlich die Psychologie insgesamt und bestimmte Arten der Politikwissenschaft — wie alle Potentaten auch in der Republik der Wissenschaften dem Ressentiment der Zurückgedrängten, aber in der Sache selbst bringt man wenig Widerstandskraft auf.
Access this chapter
Tax calculation will be finalised at checkout
Purchases are for personal use only
Preview
Unable to display preview. Download preview PDF.
Rights and permissions
Copyright information
© 1975 Westdeutscher Verlag GmbH, Opladen
About this chapter
Cite this chapter
Schelsky, H. (1975). Die Soziologen. In: Die Arbeit tun die anderen. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-96986-6_7
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-322-96986-6_7
Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden
Print ISBN: 978-3-322-96987-3
Online ISBN: 978-3-322-96986-6
eBook Packages: Springer Book Archive