Zusammenfassung
Die Disparates gelten allgemein als Höhepunkt des Geheimnisvollen, Numinosen, Abseitigen in Goyas Ouevre. Wie vielleicht nur noch die Pinturas Negras, die’ schwärzen Gemälde’, und einige Zeichnungen Goyas, verschließt sich diese Radierungsserie dem Verständnis des Betrachters. Wie weit man sich ihnen auch interpretatorisch nähert, die Radierungen der Disparates bleiben fremd und bezaubernd. Diskursiv nicht auflösbar, bleibt jener Rest, den Adorno als Rätselcharakter von Kunst bezeichnete.1) So sind die Disparates, obwohl, wie zu zeigen bleibt, Resultat einer künstlerischen Auseinandersetzung mit sehr genau bestimmbaren, gesellschaftlichen Konflikten, doch mehr als deren Abbild. In einer Fremdheit, die sie dem unmittelbaren Verständnis entzieht, sind sie Kunst.
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Literatur
Camön Aznar, José: Los Disparates de Goya y sus dibujos preparatories. Barcelona 1951.
Benjamin, Walter: “Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik”. In: Gesammelte Schriften Bd. 1.1. Frankfurt/Main 1980.
Brecht, Bertolt: “Episches Theater, Entfremdung”. In: Über Politik auf dem Theater. Frankfurt/M. 1980.
Dittberner, Susanne: Majos und Majas. Über die stilbildende Kraft der spanischen Unterschichten. In: Ästhetik und Kommunikation, 18 Jg., 1989, H. 70/71, 87ff.
Fraenger, Wilhelm: Goyas Träume. In: Von Bosch bis Beckmann. Köln 1985 Gantner, Josef: Goya. Berlin 1974.
Gassier, Pierre und Wilson, Juliet: Francisco Goya. Leben und Werk. Fribourg/Schweiz 1971.
Gassier, Pierre: Francisco Goya. Die Skizzenbücher. Fribourg 1973.
Gassier, Pierre: Francisco Goya. Die Zeichnungen. Fribourg 1975.
Gassier, Pierre: Francisco de Goya. Fribourg 1983.
Harris, Tomas: Goya. Engravings and Lithographs. Oxford 1964.
Held, Jutta: Die Genrebilder der Madrider Teppichmanufaktur und die Anfänge Goyas. Berlin 1971.
Herr, Richard: The Eighteenth-Century Revolution in Spain. Princeton 1958.
Hofmann, Werner: Goya. Das Zeitalter der Revolutionen 1789-1830. Hamburg 1980.
Hofmann, Werner, Helman, Edith; Warnke, Martin: Goya. Alle werden fallen. Frankfurt 1981.
Holländer, Hans: Goya. Los Disparates. Tübingen 1968.
Klingender, Francis D.: Goya in der demokratischen Tradition Spaniens. Berlin 1978.
Lafüente Ferrari, Enrique: Goya. Sämtliche Radierungen und Lithographien. Wien und München 1961.
Marx, Karl: “Das revolutionäre Spanien”. Artikelserie in New York Daily Tribune 1854 (abgedruckt in: Marx-Engels-Werke, Bd.10. Berlin 1961, 431ff)
Novalis: Werke. Bd. II. Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. München und Wien 1978.
Ortega y Gasset, José: Velázquez und Goya. Stuttgart 1955.
Ortega y Gasset, José: Miseria y Esplendor de la Traducion. Glanz und Elend der Übersetzung treten, eine entsprechende Mimik, Gestik und die Vorliebe für pittoreske Kleidung (die Capa, den breitkrempigen Hut, die Mantilla) ebenso gehörte wie die Schöpfung der berühmten spanischen Tänze — Seguedilla, Bolero, Fandango — und des modernen Stierkampfes. Ich habe an anderer Stelle (Dittberner 1989) zu zeigen versucht, daß der Majismo einen Protest gegen die diziplinarischen Maßnahmen der zeitgenössischen Obrigkeit und Bürokratie darstellt und sich dabei auf die Reaktivierung eines feudalaristokratischen Souveränitätsanspruchs stützt. Goya ist z.Z. seiner frühen Teppichentwürfe offensichtlich von dieser Lebensform fasziniert. Mit den drei erwähnten späten Kartons distanziert er sich vom Majismo; ich werde weiter unten darauf zurückkommen.
vgl. dazu Ortega y Gasset 1950, der mit der Interpretation der Goya-Biographie auf der Folie des Gegensatzes von Unschuld und Erkenntnis Ortega das Schema der biblischen Genesis säkularisiert.
vgl. Herr 1958.
Als solche kann man sie auch auffassen und haben sie die Autoren der nicht durch Goya au-thentisierten Kommentare (Kommentar A, Majuskel des Namens seiner ehemaligen Besitzer, der Familie Ayala und BN, Kommentarmanuskript der Biblioteca Nacional) aufgefaßt. Hier finden sich zahlreiche Anspielungen auf die zeitgenössischen Mißstände und deren vermeintliche und wirkliche “Drahtzieher”. Allerdings verkürzt der unmittelbare Gegenstandbezug der Kommentare die Kunstwerke zu Dokumenten.
Ich beziehe mich dabei auf Benjamins Begriff des Ausdrucks, den er der Widerspiegelungstheorie entgegenhält.
In den Caprichos und den ihnen vorangehenden Zeichenalben und Kabinettbildern manifestiert sich zum erstem Mal jene neue Expressivität der Gestik, Mimik etc., die gewiß nicht zuletzt durch Goyas Taubheit — Folge seines persönlichen Zusammenbruchs im Jahre 1791 — begründet ist. Der Verlust des Gehörssinns erzwingt geradezu eine gesteigerte visuelle Sensibilität, die Goya künstlerisch umzusetzen versteht.
Der Begriff pueblo ist sowenig mit dem Begriff Volk zu übersetzen, wie der deutsche Begriff Wald mit dem spanischen bosque (vgl. Ortega y Gasset 1977, 16/17).
Ein pejorativ gefärbter Begriff, in etwa “Französlinge”.
sowie dem Verrat der 91 Würdenträger, die die Josefinische Verfassung in Bayonne unterzeichnet hatten.
Unterstützt durch die englischen Truppen unter dem Befehl Wellingtons.
Realität und Begriff der Guerilla sind ebenso Schöpfung dieses Krieges wie Realität und Begriff der Liberales.
Der Communero-Aufstand 1520-1521 richtete sich gegen die Folgen der Günstlingwirtschaft unter Carlos I. alias Kaiser Karl V. vgl. Klingender 1948, 28/29.
Privilegien und Körperschaften der lokalen Selbstverwaltung im mittelalterlichen Spanien.
vgl. Marx 1854 (1961), 464.
Auch hier in Namen und Selbstverständnis wieder ein bewußter Rückgriff auf demokratische Institutionen der Vergangenheit, vgl. Marx, ebd. 469ff.
Der Katholizismus blieb Staatsreligion.
sinngem. zit. nach Marx, ebd. 458.
Auf dem 19. Blatt des Zeichenalbums E, heute im Berliner Kupferstichkabinett; vgl. Gassier, 1973, 178.
Der Titel stammt von Goya.
Die ausgebreiteten Arme sind, ähnlich wie das Sturzmotiv ein von Goya häufig verwendetes und mit unterschiedlicher Bedeutung versehenes Bildmotiv.
Hofmann kann nachweisen, daß der Sturz — exemplarisch verdichtet in Titel und Motiv des Capricho 19 “Alle werden fallen” — schon zur Zeit der Caprichos zu den bevorzugten formalen To-poi Goyas gehört, mit denen er seine pessimistische Geschichtsphilosophie verbildlicht. Auf einem in Boston befindlichen frühen Probedruck findet sich an der Stelle, die in der späteren Fassung des Disparate Claro der Soldat einnimmt, ein loderndes Feuer (ein Höllenfeuer?).
Fraenger 1977, 260.
oder auch Bobalcion.
In der Vorzeichnung noch als Priester kenntlich gemacht. Goya entscheidet sich beim Radieren offensichtlich, die Klassenzugehörigkeit der Figur unbestimmt zu lassen. Auf jeden Fall gehört er zu denen, die Kapital aus dem Götzendienst schlagen.
Der Vergleich des alttestamentarischen mit dem Goyaschen Ikonoklasmus ist nicht so willkürlich wie es auf den ersten Blick scheint, ist doch das Judentum Hermann Cohen zufolge eine der Quellen des Geistes der Vernunft und begreift sich Goya noch in dieser schwärzesten seiner Schaffensperioden der Vernunft verpflichtet — wie auch immer er sein Anliegen künstlerisch umsetzt. Zu Goyas späten Attacken gegen die hölzerne Madonna gehört ferner Désastre 67.
Holländer interpretiert den Bobo als Verkörperung des Kriegsgottes Mars, nach Homer der Dümmste der Götter, flankiert von Phoibos und Daimon, Angst und Schrecken. Eine Interpretation, die nicht nur die fehlenden Marsattribute des Bobo ignoriert, sondern auch die Marienstatue und die sich hinter ihr verbergende Männergestalt außer Acht läßt. Vgl. Holländer 1968, 9f.
Novalis 1978, 334.
vgl. Benjamin 1920, 67ff.
Brecht 1980, 39.
Brecht 1980, 39.
Abgebildet bei Gassier 1975, 442f.
vgl. dagegen Tizians “Papst Paul III. mit Kardinal Alessandro Farnese und Herzog Ottavio Farnese” (1546). Auch hier das Thema der Günstlinge. Aber wieviel Menschenwürde läßt ihnen der Venezianer 240 Jahre vor der Französischen Revolution.
Kapitelüberschrift in Hofmann 1980, 95.
Der Titel stammt vermutlich von Goya.
Diesen Begriff, der Goyas Fähigkeit zur schöpferischen Synthese bezeichnet, übernehme ich von Werner Hofmann.
Im Hintergrund von Indecision sah man eine an den Baum gefesselte Gestalt, die an in den Banden der Ehe gefesselten des Capricho 75.
Neben der Fledermaus und der Katze das monstruo (Ungeheuer) der Caprichos.
Der anonymen Gesellschaft oder abstrakten Kollektivität im Durkheimschen Sinne, die das Erbe der Religion — bei Goya repräsentiert durch die Eule — antritt.
Werner Hofmann 1980, 202.
vgl. Gassier 1975, 444; siehe auch Gantner 1974, 213.
vgl. Hofmann 1980, 202.
Williams 1978, 91.
Der Titel stammt von Goya.
Die Spielenden sind teilweise in die von der Aristokratie bevorzugte französische Toilette, teilweise nach der Mode des Majismo gekleidet.
In ihrer puppenhaften Erstarrung erinnert sie an die Spielerin am linken Bildrand des Blindekuhspiels.
Nicht nur sind die spanischen Tänze, Bolero, Fandango, Segued illa, Flamenco stark erotisch besetzt, Michael Armstrong Roche weist auch auf die am Latz ausgebeulte Hose des linken Tänzers hin, während der Mann im Vordergrund, der uns seinen Rücken zuwendet, die Beine spreizt, als ob er reitet. Das spanische cabalgar, “reiten” aber hat die Nebenbedeutung von “kopulieren”.
El Pelele, auch mit “Trottel, Hampelmann” zu übersetzen.
Man hat die Figuren oft als Repräsentanten des spanischen Adels gedeutet. Mag sein, daß diese Klasse Goya zu Beginn seiner Arbeit vor Augen stand. Die hochmütig stolze Haltung der drei dem Betrachter nächsten Gestalten scheint dafür zu sprechen, ebenso die Tatsache, daß das Eingesacktsein zugleich die Dysfunktionalität der Hände symbolisiert — allerdings haben die Majos ebenfalls ddliese Rolle übernommen. Goya war nur konsequent, wenn er schließlich auf jedes weitere Attribut dieses Standes verzichtete. So sind die Repräsentanten einer Klasse zu den Repräsentanten der Menschheit geworden und ihre Torheiten haben sich verallgemeinert, sind zu Torheiten der ganzen Gesellschaft geworden.
Literatur
Camön Aznar, José: Los Disparates de Goya y sus dibujos preparatorios. Barcelona 1951.
Benjamin, Walter: “Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik”. In: Gesammelte Schriften Bd. 1.1. Frankfurt/Main 1980.
Brecht, Bertolt: “Episches Theater, Entfremdung”. In: Über Politik auf dem Theater. Frankfurt/M. 1980.
Dittberner, Susanne: Majos und Majas. Über die stilbildende Kraft der spanischen Unterschichten. In: Ästhetik und Kommunikation, 18. Jg., 1989, H. 70/71, 87ff.
Fraenger, Wilhelm: Goyas Träume. In: Von Bosch bis Beckmann. Köln 1985.
Gantner, Josef: Goya. Berlin 1974.
Gassier, Pierre und Wilson, Juliet: Francisco Goya. Leben und Werk. Fribourg/Schweiz 1971.
Gassier, Pierre: Francisco Goya. Die Skizzenbücher. Fribourg 1973.
Gassier, Pierre: Francisco Goya. Die Zeichnungen. Fribourg 1975.
Gassier, Pierre: Francisco de Goya. Fribourg 1983.
Harris, Tomas: Goya. Engravings and Lithographs. Oxford 1964.
Held, Jutta: Die Genrebilder der Madrider Teppichmanufaktur und die Anfänge Goyas. Berlin 1971.
Herr, Richard: The Eighteenth-Century Revolution in Spain. Princeton 1958.
Hofmann, Werner: Goya. Das Zeitalter der Revolutionen 1789–1830. Hamburg 1980.
Hofmann, Werner; Helman, Edith; Warnke, Martin: Goya. Alle werden fallen. Frankfurt 1981.
Holländer, Hans: Goya. Los Disparates. Tübingen 1968.
Klingender, Francis D.: Goya in der demokratischen Tradition Spaniens. Berlin 1978.
Lafuente Ferrari, Enrique: Goya. Sämtliche Radierungen und Lithographien. Wien und München 1961.
Marx, Karl: “Das revolutionäre Spanien”. Artikelserie in New York Daily Tribune 1854 (abgedruckt in: Marx-Engels-Werke, Bd.10. Berlin 1961, 431ff)
Novalis: Werke. Bd. II. Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. München und Wien 1978.
Ortega y Gasset, José: Velázquez und Goya. Stuttgart 1955.
Ortega y Gasset, José: Miseria y Esplendor de la Traducion. Glanz und Elend der Übersetzung. Spanisch und Deutsch. München 1977.
Sánchez/Sayre: Goya and the Spirit of Enlightenment. Hrsg. von Alfonso E. Pérez-Sánchez und Eleanor A. Sayre. Boston 1989.
Williams, Gwyn A.: Goya. Hamburg 1978.
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Dittberner, S. (1991). Erschrecken und Befremden. In: Schäffter, O. (eds) Das Fremde. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-99447-9_14
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