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Odysseus am Rhein Heines »Ich weiß nicht, was soll es bedeuten« als poetologische Selbstverortung

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Heine-Jahrbuch 2013
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Zusammenfassung

Heines Lore-Ley wird seit jeher als eine Art Sirene wahrgenommen.1 Über pauschale Befunde geht man aber in den seltensten Fällen hinaus, sind die einen doch bestrebt, die Figur als Sammelwesen darzustellen — sie sei nicht nur Sirene, sondern auch Undine, Melusine, Echo/Narziss2, femme fatale3 usw. Andere wiederum versuchen, sie von ihren Vorgängerinnen bei Brentano, Eichendorff und in Aloys Schreibers »Handbuch für Reisende am Rhein« (in dem Heine wohl auf die — kontrafaktische — Sage vom Lurelei-Felsen gestoßen ist)4 abzusetzen. Bei diesen Bemühungen geht das tertium comparationis zwischen der antiken Konstellation und derjenigen bei Heine — ›Schiff fahrer erleidet Schiff bruch angesichts des verführerischen Gesangs einer oder mehrerer sagenumwobener weiblicher Figuren‹ — ein wenig unter (um im Bilde des Schiff bruchs zu bleiben), bzw. man scheint ieses tertium comparationis schlichtweg für selbsterklärend zu halten. Schon gar keinen Gedanken verschwendet man an die Frage, ob vielleicht auch einer Figur aus dem Gedicht der Part des erfi ndungsreichen Odysseus zufällt.5 Zu Unrecht.

[I]ch [bin] überzeugt […], daß die Menschen erst gesungen haben, ehe sie sprechen lernten, so wie die metrische Sprache der Prosa voranging. […] Wie die Kanarienvögel zwitscherten unsre Ureltern in den Th älern Kaschimirs. Wie haben wir uns ausgebildet! Ob die Vögel einst ebenfalls zum Sprechen gelangen werden?

Heinrich Heine: »Briefe aus Berlin«, 1822 (DHA VI, 27)

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Referenzen

  1. Die in der Forschung mehrfach registrierten Novalis-Bezüge des Gedichts sind am differenziertesten herausgearbeitet bei Paola Mayer: Refl ections on Mythology. Eichendorff’s Response to Schiller and Novalis. — In: Euphorion 101 (2007), S. 197–225.

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  2. So liest man z. B. bereits in einer 1840 entstandenen Novelle: »Kennen sie wohl […] das alte Märchen von Lorelei, der Sirene des Rheins?« Carl Matzerath: Irrungen der Liebe, zit. nach DHA I, 878. Und die aktuelle einführende Biographie Joseph A. Kruses bezeichnet das Lied der Lore-Ley als »Sirenengesang«. Joseph A. Kruse: Heinrich Heine. Frankfurt a. M. 2005, S. 77.

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  3. Vgl. dazu v. a. die Ausführungen bei Bernhard Greiner: Mythische Rede als Echo-Rede: die Lorelei (Ovid — Brentano — Heine). — In: Mythenkorrekturen. Zu einer paradoxalen Form der Mythenrezeption. Hrsg. von Bernd Seidensticker und Martin Vöhler. Berlin u. a. 2005, S. 243–261, insbes. S. 255–261.

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  4. Dieser Aspekt steht im Vordergrund bei Johann Jokl: Von der Unmöglichkeit romantischer Liebe. Heinrich Heines »Buch der Lieder«. Opladen 1991, S. 165–174.

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  5. Zit. nach Homer: Ilias. — In: ders.: Ilias. Odyssee. In der Übertragung von Johann Heinrich Voß. München 32004, S. 439–776. Angaben jeweils im laufenden Text: Die römische Ziffer verweist auf den Gesang, die arabische auf den Vers.

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  6. Zum Begriffder Sprechhandlung allgemein vgl. Heinz Schlaffer: Geistersprache. Zweck und Mittel der Lyrik. München 2012, S. 19 f.

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  7. E. T. A. Hoffmann: Lebens-Ansichten des Katers Murr. — In: ders.: Sämtliche Werke. Hrsg. v. Hartmut Steinecke und Wulf Segebrecht unter Mitarbeit v. Gerhard Allroggen u. a. Bd. 5: Lebens-Ansichten des Katers Murr. Werke 1820–1821. Hrsg. v. Hartmut Steinecke. Frankfurt a. M. 1992, S. 9–458, hier S. 135.

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  8. Vgl. etwa Heines »Briefe aus Berlin« von 1822: »Die Strenge und Bitterkeit, womit ich über diesen Roman [»Meister Floh« — GF] spreche, rührt eben daher, weil ich Hoffmanns frühere Werke so sehr schätze und liebe. Sie gehören zu den merkwürdigsten, die unsere Zeit hervorgebracht. Alle tragen sie das Gepräge des Außerordentlichen. […] Der Vorgrund von Hoffmanns Romanen ist gewöhnlich heiter, blühend, oft weichlich rührend, wunderlichgeheimnißvolle Wesen tänzeln vorüber, fromme Gestalten schreiten auf und ab, launige Männlein grüßen freundlich und unerwartet, aus all diesem ergötzlichen Treiben grinzt hervor eine häßlich-verzerrte Alteweiberfratze, die, mit unheimlicher Hastigkeit, ihre aller-fatalsten Gesichter schneidet und verschwindet, und wieder freyes Spiel läßt den verscheuchten muntern Figürchen, die wieder ihre drolligsten Sprünge machen, aber das in unsere Seele getretene katzenjammerhafte Gefühl nicht fortgaukeln können.« (DHA VI, 52)

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  9. Paul Valéry wird später schreiben: »La plupart des hommes ont de la poésie une idée si vague que ce vague même de leur idée est pour eux la définition de la poésie.« Tel quel. — In: ders.: OEuvres, II. Hrsg. von Jean Hytier. Paris 1960, S. 547.

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  10. Stellvertretend für die auf Einfühlung setzende ältere Heine-Forschung erblickt Ursula Jaspersen in diesem »syntaktische[n] Bruch« eine Verstärkung des »Gefühl[s] der Unsicherheit«. Heinrich Heine. »Ich weiß nicht, was soll es bedeuten…«. — In: Die deutsche Lyrik. Form und Geschichte. Hrsg. v. Benno von Wiese. Düsseldorf 1957, Bd. 2, S. 128–133, hier S. 131. Dadurch gerät in den Hintergrund, dass das stimmungshafte Schreiben Teil einer Schreibstrategie ist und nicht Seelenerguss.

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  11. Im Gedicht, mit dem die Vorrede zur dritten Aufl age des »Buchs der Lieder« (1839) einsetzt und das aufgrund dieses paratextuellen Status’ durchaus als Leseanweisung ex post betrachtet werden kann, wird die gleiche Frage sehr direkt und unmissverständlich gestellt: »O Liebe! was soll es bedeuten, / Daß du vermischest mit Todesqual / All’ deine Seligkeiten?« (DHA I, 13). Wie die Erwähnung einer »Sphinx« (ebd.) deutlich macht, steht hier allerdings nicht mehr die Begegnung des Odysseus mit den Sirenen im Vordergrund, sondern ein anderer antiker Intertext: die Abenteuer des Ödipus. Zum Verhältnis von Lore-Ley und Sphinx vgl. Siegbert Salomon Prawer: Heine: Buch der Lieder. London 1960, S. 23 ff.

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  12. Zu diesem Auftaktgedicht vgl. auch die minutiöse Lektüre von Bernd Kortländer: Die Sphinx im Märchenwald. — In: Interpretationen. Gedichte von Heinrich Heine. Hrsg. v. Bernd Kortländer. Stuttgart 1995, S. 15–31.

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  13. Ulrike Brunotte weist zu Recht darauf hin, das ›Es‹ in »es ergreift ihn« sei »semantisch wie syntaktisch nicht unbedingt an das Lied gebunden«, sondern könne auch, ohne Substantivbezug, »das gestaltlose Schicksal« meinen. Ulrike Brunotte: Schicksal und Ironie in der »Loreley« Heinrich Heines. — In: HJb 24 (1985), S. 236–245, hier S. 240. Ähnlich verfährt sie mit dem ›Das‹ aus »Das kommt mir nicht aus dem Sinn« und »Das hat eine wundersame / Gewaltige Melodei« (vgl. ebd.). Für sie kommt es dadurch zu einer Überblendung der Obsession des lyrischen Ich aus dem »Buch der Lieder« für abweisende sowie todbringende Geliebte und dem schicksalhaften Balladengeschehen; diese in Selbstzerstörung mündende Zwanghaftigkeit als Signatur moderner Entfremdungsprozesse werde erst mit dem ›Und‹ aus dem vorletzten Vers »Und das hat mit ihrem Singen« ironisch aufgebrochen (vgl. ebd., S. 243 f.). Indem Brunotte solcherart Adornos Heine-Verdikt auf den Text appliziert, übersieht sie, dass im Gedicht selbst eigentlich eine andere Analogie durchgeführt wird.

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  14. In diesem Fall würde der Name der Lore-Ley als lorette Ley lesbar. So nannte man in Paris die ›leichten Mädchen‹, von denen ein Großteil in der Umgebung von Notre-Dame de Lorette wohnte. In den Schriften aus der Pariser Zeit greift Heine mehrmals auf diesen Ausdruck zurück (vgl. etwa DHA XIV, 88); für ein Gedicht von 1823/24 kommt das Wortspiel jedoch (leider) nicht in Frage, da der Terminus im Französischen erst ab 1836 nachgewiesen ist (vgl. Le nouveau Petit Robert, Paris 2007, Lemma »lorette«). Am anderen Pol der traditionellen (literarischen) Männerphantasien, im amour de loin, das die abwesende Geliebte zur Heiligen stilisiert, erweist sich die unnahbare Lore-Ley als biedermeierlich eingedeutschte Nachfahrin von Petrarcas Laura — als Lore Ley eben. Auf Heines Auseinandersetzung mit dem Petrarkismus hat zuerst Manfred Windfuhr hingewiesen — allerdings ohne auf die Namensspielerei aus »Ich weiß nicht, was soll es bedeuten« einzugehen.

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  15. Vgl. Manfred Windfuhr: Heine und der Petrarkismus. — In: Heinrich Heine. Hrsg. von Helmut Koopmann. Darmstadt 1975, S. 207–231, v. a. S. 220 u. 227.

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  16. Peter Christian Giese zufolge trägt diese Nicht-Festlegung in erster Linie zur Rätselhaftigkeit von Heines Lore-Ley bei. Vgl. Peter Christian Giese: Lektürehilfen Heinrich Heine »Buch der Lieder«. Stuttgart, Dresden 31994, S. 112 f.

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  17. Bei Heine wird dies mitunter auch explizit formuliert, so etwa im Gedicht »Poseidon« aus dem ersten »Nordsee«-Zyklus: »Seufzend sprach ich: Du böser Poseidon, / Dein Zorn ist furchtbar, / Und mir selber bangt / Ob der eignen Heimkehr.« (DHA I, 371) Die Heimkehr- Chiffre bildet sozusagen die Schnittstelle zwischen meiner Lektüre und denjenigen, die »Ich weiß nicht, was soll es bedeuten« im Rückgriffauf die Figur des Ahasverus als Auseinandersetzung Heines mit seinem Judentum und der — christlichen, in Teilen gar antisemitisch angehauchten — Romantik begreifen. Vgl. etwa Jost Hermand: Ahasvers Rheinfahrt. Heines »Loreley«. — In: ders.: Mehr als ein Liberaler. Über Heinrich Heine. Frankfurt a. M. u. a. 21993, S. 29–36, insbes. S. 34 f.

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  18. Beide Möglichkeiten erwähnt auch Nikolas Immer. Für ihn bildet diese Doppelperspektive eine der entscheidenden Voraussetzungen dafür, dass Heines Gedicht als Abwandlung des ästhetischen Refl exionsmodells gelesen werden kann, das wie kaum ein anderes die Funktionsweise von Schillers Pathetischerhabenem veranschaulicht: des Schiffbruchs mit Zuschauer. Vgl. Nikolas Immer: Schiffbruch mit Zuschauerin. Spielarten der Ironie in Heinrich Heines »Loreley«. — In: Zeitschrift für deutsche Philologie 129 [2010], S. 157–172, hier S. 193.

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  19. Bereits Norbert Altenhofer verweist auf die Relevanz dieses Eingangsgedichts für »Ich weiß nicht, was soll es bedeuten«, als er die »Ästhetik des Arrangements« im »Buch der Lieder« herausarbeitet. Vgl. Norbert Altenhofer: Ästhetik des Arrangements. Zu Heines »Buch der Lieder« [1982]. — In: ders.: Die verlorene Augensprache. Über Heinrich Heine. Hrsg. v. Volker Bohnen. Frankfurt a. M. 1993, S. 154–173; 286–288, hier S. 162. Allerdings ist mir nicht ersichtlich, wie man in der Konstellation des Lore-Ley-Gedichts selbst eine »Umwandlung von Angst in Trauer« (ebd.) erkennen kann; und es erscheint mir auch ein wenig ungenau, wenn Altenhofer schreibt, das »Mythische« werde in der Schlussstrophe dadurch depotenziert, dass es »als ›Text‹, als literarische Vorlage« (ebd.) aufgefasst werde.

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  20. In seiner bereits erwähnten Interpretation zeigt Dieter Arendt, dass der ›Märchen‹-Begriff in Heines gesamtem OEuvre jeweils als »ein goldener Rahmen für jedwedes Bild der Phantasie« (Arendt: »… Ein Märchen aus alten Zeiten …« [Anm. 5], S. 17) fungiert und als »Chiffre« für Heines »Verhältnis zur geschichtlichen und übergeschichtlichen Romantik« zu deuten ist; dieses Verhältnis sei »von Anfang an gekennzeichnet durch seine Fähigkeit, sich lyrisch-stimmungshaft zu assimilieren, sich aber gleichzeitig intellektuell-ironisch zu distanzieren« (ebd., S. 18). Abgesehen davon, dass Arendt die Distanzierungsstragien, die in »Ich weiß nicht, was soll es bedeuten« am Werk sind — und die sich m. E. nur sehr bedingt mit dem Ausdruck ›ironisch‹ belegen lassen –, allenfalls andeutet, schenkt er dem Begriff des Liedes keinerlei Beachtung — der wiederum den alleinigen Mittelpunkt anderer Interpretationen bildet (vgl. Ernst Beutler: »Der König in Thule« und die Dichtungen von der Lorelay. Zürich 1947, S. 67 u. 70 f.). Indem die Kritik an der generischen Differenz von Lied und Märchen vorbeisieht, begibt sie sich der Möglichkeit, die interne poetologische Dynamik des Gedichts adäquat nachzuvollziehen und den Bezug zwischen Stimmungshaftem und »intellektuell[er]« Distanzierung zu präzisieren.

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  21. Theodor W. Adorno / Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. — In: Adorno, Theodor W.: Gesammelte Schriften. Hrsg. von Rolf Tiedemann. Bd. 3. Frankfurt a. M. 1981, S. 98.

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  22. In diesem nicht mitgeteilten Inhalt des Lieds erblickt Heinz Politzer eine diskrete Vorwegnahme von Kafkas schweigenden Sirenen. Vgl. Heinz Politzer: Das Schweigen der Sirenen. — In: DVjs 41 (1967), S. 444–467, hier S. 461.

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  23. Explizit gemacht wird der Bezug zwischen Lore-Ley und Nibelungenhort in Brentanos »Märchen von dem Rhein und dem Müller Radlauf« (vgl. DHA I, 885 f.). Zu den Rheinmythen aus historiographischer Perspektive vgl. Herfried Münkler: Die Deutschen und ihre Mythen, Berlin 22009, S. 389–410.

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  24. Christian Wagenknecht führt gar die erste Strophe von »Ich weiß nicht, was soll es bedeuten« als Beispiel für dieses Metrum mittelalterlicher Herkunft an. Vgl. Christian Wagenknecht: Deutsche Metrik. Eine historische Einführung. 5., erw. Aufl . München 2007, S. 33.

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  25. Vgl. Giorgio Agamben: Idee der Prosa. Übers. von Dagmar Leupold u. Clemens-Carl Härle. Frankfurt a. M. 2005, S. 21–24.

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  26. Vgl. Giorgio Agamben: La Fin du poème. — In: ders.: La Fin du poème. Ins Frz. übers. v. Carole Walter. Paris 2002, S. 131–138, v. a. S. 134–138.

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Felten, G. (2013). Odysseus am Rhein Heines »Ich weiß nicht, was soll es bedeuten« als poetologische Selbstverortung. In: Brenner-Wilczek, S. (eds) Heine-Jahrbuch 2013. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-01198-5_2

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