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Die Umkehrungen Hegels im Marxismus — Methodologie und politische Theorie

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Politisches Denken Jahrbuch 2002

Zusammenfassung

Am Anfang des Marxismus war Marx. »Marx stand höher, sah weiter, überblickte mehr und rascher als wir andern alle. Marx war ein Genie, wir andern höchstens Talente. Ohne ihn wäre die Theorie heute bei weitem nicht das, was sie ist. Sie trägt daher auch mit Recht seinen Namen«, urteilte (der späte) Engels. Marx betonte jedoch, er selbst sei kein Marxist. Doch Marxismus ohne Marx ist auch nicht zu denken. Was aber stand am Anfang von Marx’ wissenschaftlichem und philosophischem Denken? Hegel. Die Auseinandersetzung mit Hegel, genauer mit seiner Umkehrung, seiner Umstülpung, war eines der immer wiederkehrenden Motive der Selbstverständigung von Marx wie des Marxismus über sich selbst. Der Hegelianismus war nicht nur die »Muttersprache«, in der der frühe Marx sein theoretisches wie philosophisches Denken entwickelte, sondern zugleich derjenige Referenzpunkt, von dem sich Marx und der Marxismus absetzten, um eine eigene Position zu entwickeln — durch die »Umkehrung Hegels«.2

Dieser Text ist die wesentlich überarbeitete Fassung (in Teilen gekürzt, aber auch erweitert) meines Habilitationsvortrags an der Philosophischen Fakultät III der Humboldt-Universität »Die Umkehrung Hegels im Marxismus und ihre Folgen für die Politikwissenschaft« am 22.5.2000. Für Anregungen wie kritische Hinweise bin ich Herfried Münkler sowie Matthias Bohlender, beide Berlin, zu großem Dank verpflichtet.

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Literatur

  1. MEW 21, S. 291–298 und Anm., S. 292. Im Folgenden werden Zitate aus den Werken von Marx und Engels mit MEW plus Bandnummer abgekürzt, von Lenin im Text mit LW plus Bandnummer. Das Verhältnis von Marx zum »Marxismus« wäre ein gesondertes Thema, das hier nicht behandelt werden soll. Die Passage, in der Marx davon spricht, er selbst sei kein Marxist, lautet: »ce qu’il y a certain, c’est que mois, je ne suis pas Marxiste.« (MEW 37, S. 388) Diese Klarstellung hat Marx laut einer Mitteilung Engels in Abgrenzung gegenüber »Marxisten« und »Anti-Marxisten« getan, die auf den Kongressen von Saint-Etienne und Roanne einander bekämpften. Marxens Aussage muss also keineswegs bedeuten, dass er sich prinzipiell gegen jede Inanspruchnahme seines Namens für eine politische Strömung ausgesprochen hätte, sondern ist bezogen auf einen konkreten Konflikt zwischen zwei Strömungen, von denen eine als »Marxisten« bezeichnet wurde. In späterer Zeit begründete denn auch derselbe Engels, der als Gewährsmann für die Aussage Marx’ fungiert, die Verwendung von dessen Namen für die neu entstandene politische Strömung; siehe hierzu Engels, Friedrich, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, MEW 21, S. 291–293; Lazzeri, Christian, Rationalismus, in: Kritisches Wörterbuch des Marxismus, Bd. 6, Berlin 1987, S. 1105–1112 (im Folgenden zit. mit KWM plus Bandnummer).

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Herberg-Rothe, A. (2002). Die Umkehrungen Hegels im Marxismus — Methodologie und politische Theorie. In: Ballestrem, K.G., Gerhardt, V., Ottmann, H., Thompson, M.P. (eds) Politisches Denken Jahrbuch 2002. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-02766-5_8

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  • DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-476-02766-5_8

  • Publisher Name: J.B. Metzler, Stuttgart

  • Print ISBN: 978-3-476-01826-7

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