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Gedächtnis und Medialität: Die Herausforderung der Alterität

Eine medienphilosophische und medienhistorische Perspektivierung des Gedächtnis-Begriffs

  • Chapter
Medialität und Gedächtnis

Zusammenfassung

Beinahe zu allen Kulturtheorien der letzten zwanzig Jahre wird auf den argentinischen Schriftsteller Jorge Luis Borges als Quelle von Inspirationen, als Reservoir von Impulsen für spätere Theorieentwürfe hingewiesen. Dies ist auch hinsichtlich meiner Frage nach dem Verhältnis von Gedächtnis und Medialität nicht anders: Eine vielzitierte Kurzerzählung von Borges aus der 1944 erschienenen Sammlung Artificios stellt sich mir als kostbare Quelle von Einsichten dar. Es handelt sich, wie unschwer angenommen werden kann, um die Erzählung Funes el memorioso (zu dt.: Das unerbittliche Gedächtnis).1 Es geht um die Geschichte eines Dorfjungen mit der angeborenen Begabung, Namen und insbesondere die Zeit so zu memorieren, daß er ohne die technische Hilfe der Zeitmessung durch Uhrwerke auf die Sekunde genau die Zeit kennt, dann aber durch einen ihn zur Immobilität verdammenden Unfall die Gnade eines unendlichen Gedächtnisses erhält, wodurch er jede einzelne sinnliche Wahrnehmung und jeden einzelnen Augenblick im Zeitfluß erinnern kann, so daß er seine Querschnittslähmung nicht bedauert, erlebt er doch durch seine Erinnerung die Intensität des Lebens in der Fülle seiner Sinne.2 Das Schicksal von Funes stellt die Binnengeschichte des »cuento« dar, während der Rahmen die Erzählung der Erinnerung an Funes behandelt. Letztere beginnt mit der zufälligen Begegnung zwischen Großgrundbesitzern, Verwandten des Erzählers Borges, und dem einfachen Dorfjungen Ireneo Funes, so daß zunächst zwei Erinnerungsmodelle verglichen zu werden scheinen: die Naturbegabung ursprünglicher Menschen des lateinamerikanischen Kontinents und die Technikabhängigkeit der europäisierten Großgrundbesitzer.

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Notizen

  1. Jorge Luis Borges: Funes el memorioso (Artificios, 1944). In: Ders.: Prosa completa. Vol. 1. Barcelona 1980, S. 477–484. Im folgenden wird auf diese Ausgabe durch die Sigle ›FM‹ und die entsprechende Seitenzahl verwiesen.

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  2. »Repito que el menos importante de sus recuerdos era más minucioso y más vivo que nuestra percepción de un goce físico o de un tormento físico«, so der Erzähler über den letzten Zustand von Ireneo Funes (FM 483). (»Ich wiederhole, daß die unbedeutendste seiner Erinnerungen genauer oder lebendiger war als für uns die Wahrnehmung einer physischen Lust oder einer physischen Qual.«) Diese und alle weiteren Übersetzungen nach: Jorge Luis Borges: Das unerbittliche Gedächtnis. In: Ders.: Blaue Tiger und andere Geschichten. Ausgew. und hg. von Gisbert Haefs. München, Wien 1988, S. 93–102, hier S. 101. Im folgenden wird diese Ausgabe durch ›UG‹ sigliert.

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  3. Dieser Unterschied geht auf den frühen Ansatz von Fritz Heider zurück. Vgl. Fritz Heider: Ding und Medium. In: Symposion. Philosophische Zeitschrift für Forschung und Aussprache 1 (1926), S. 109–157. Das Medium ist in Luhmanns systemtheoretischer Perspektive ein Repertoire lockerer Elemente, die sich erst als Formen zusammenfügen und Strukturen bilden. Der Unterschied wird durch das Verhältnis von Fußspur (Form) und unverbundenen Sandkörnern (Medium) veranschaulicht. Vgl. Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt/M. 1997, S. 190. Wichtig ist, daß was Medium und was Form ist vom Beobachter abhängig ist. Damit läßt Luhmanns Définition von Medium und Form den essentialistischen Unterschied von Materie und Form hinter sich. Mit der These, Medien seien neutral und gerade nicht die Form der Botschaft, überwindet Luhmann aber auch die noch anthropomorphe Definition des Mediums durch McLuhan. Vgl. Sybille Krämer: Das Medium als Spur und Apparat. In: Dies. (Hg.): Medien Computer Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien. Frankfurt/M. 1998, S. 73–94, hier S. 76 f.

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  4. Sybille Krämer wendet das Zwei-Welten-Modell auf den Begriff der Form an und zeigt den Paradigmenwechsel, den Luhmann einführt. Die Eigenschaften der Form sind im sog. Zwei-Welten-Modell »Zeitlosigkeit« (Plato), und Universalität (Aristoteles); Formen sind ein aktiv erzeugendes Prinzip (Leibniz), ein transzendenter, aprioristischer Reflexionsbegriff (Kant). Vgl. Sybille Krämer: Sprache, Sprechakt, Kommunikation. Sprachtheoretische Positionen des 20. Jahrhunderts. Frankfurt/M. 2001, S. 158.

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  5. Ludwig Wittgenstein, John L. Austin, Donald Davidson, Jacques Lacan, Jacques Derrida, Judith Butler. Zum ersten (essentialistischen, auf Prämissen basierend, die vom sog. »linguistic turn« nicht berührt werden) Paradigma der kompetenzlinguistischen Ansätze zählen Ferdinand de Saussure, Noam Chomsky, John R. Searle, Jürgen Habermas.

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  6. Krämer, Sprache, Sprechakt, Kommunikation, S. 158.

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  7. Ebd., S. 156f.

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  8. Bei der Rahmenerzählung handelt es sich um einen fiktiven Aufsatz, den der Erzähler Borges für eine Sammlung in Erinnerung an Ireneo Funes schreiben muß. Der Text beginnt folgendermaßen: »Lo recuerdo (yo no tengo derecho a pronunciar ese verbo sagrado, sólo un hombre en la tierra tuvo derecho y ese hombre ha muerto) […] Recuerdo (creo) sus manos afiladas de trenzador. Recuerdo cerca de esas manos un mate, con las armas de la Banda Oriental […] Recuerdo claramente su voz; la voz pausada, recentida y nasal del orillero antiguo, sin los silbidos italianos de ahora.« (FM 477). (»Ich erinnere mich daran (ich habe kein Recht, dieses heilige Wort auszusprechen, nur ein Mensch auf der Welt hatte dieses Recht, und dieser Mann ist tot) […] Ich erinnere mich (glaube ich) an seine spitzen Lederflechterhände. Ich erinnere mich an ein Mategefäß mit dem Wappen von Uruguay nahe bei diesen Händen […] Deutlich erinnere ich mich an seine Stimme; die langsame, verdrossene, nasale Stimme des alten Stadtrandbewohners, ohne die heutigen italienischen Zischlaute.«) (UG 93)

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  9. »Ein Kreis auf einer Schiefertafel, ein rechtwinkliges Dreieck, ein Rhombus sind Formen, die wir vollkommen wahrnehmen können; ebenso erging es Funes mit der zerzausten Mähne eines Fohlens, mit einer Viehherde auf einem Hügel, mit dem wandelbaren Feuer und der unzählbaren Asche, mit den vielen Gesichtern eines Verstorbenen während einer langen Totenwache. Ich weiß nicht, wieviel Sterne er am Himmel sah.« (UG 99)

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  10. Walter Benjamin kritisiert Bergsons, weil er mit seinem Vitalismus den Tod durchgestrichen habe. Walter Benjamin: Über einige Motive bei Baudelaire. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Bd. I. 2: Abhandlungen. Frankfurt/M. 1991, S. 605–653, hier S. 643. (Auf die Gesammelten Schriften Benjamins wird im folgenden durch die Sigle ›GS‹ und die entsprechende Bandzahl verwiesen.) Während die Intuition und die »durée« eine Synthese von Geist (Gedächtnis) und Wahrnehmung (Materie) konstituieren, meint Benjamin, daß Proust Bergson widerspricht, und zwar durch den unüberwindbaren Unterschied zwischen »mémoire volontaire« und »mémoire involontaire« und mit Bezug auf die Unwillkürlichkeit letzterer Form der Erinnerung: »Man kann Prousts Werk A la recherche du temps perdu als den Versuch ansehen, die Erfahrung, wie Bergson sie sich denkt, unter den heutigen gesellschaftlichen Bedingungen auf synthetischem Wege herauszustellen. Denn mit ihrem Zustandekommen auf natürlichem Wege wird man weniger und weniger rechnen können. Proust […] bringt sogar ein neues Moment ins Spiel, das eine immanente Kritik an Bergson in sich schließt. […] Das reine Gedächtnis — die mémoire pure — der Bergsonschen Theorie wird bei ihm [Proust] zur mémoire involontaire — einem Gedächtnis, das unwillkürlich ist. Unverzüglich konfrontiert Proust dieses unwillkürliche Gedächtnis mit dem willkürlichen, das sich in der Botmäßigkeit der Intelligenz befindet«. Ebd., S. 609. Zu dieser Lektüre Prousts durch Walter Benjamin verweise ich auf die interessante Studie von Ursula Link-Heer: Prousts A la recherche du temps perdu und die Form der Autobiographie. Amsterdam 1988.

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  11. Vgl. Aleida Assmann/Jan Assmann: Das Gestern im Heute. Medien und soziales Gedächtnis. In: Medien und Kommunikation. Konstruktion von Wirklichkeit. Tübingen 1990, Studienbrief 5, S. 41–82, hier S. 52.

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  12. So ist Barthes zu verstehen, wenn er bei der Bezeichnung der Komponenten der Photographie auf die Ambivalenz hinweist, die sich bei den Entlehnungen des Verbs »spectare« ergibt: zugleich »spectrum« und »spectacle«. Barthes weist im Zusammenhang mit dem Verhältnis von Blick und Objekt — ausgehend von Merleau-Ponty — auf die doppelte Bewegung hin: Das Subjekt setzt seine Ermächtigung in Szene (spectacle) und entmächtigt sich durch die »spectra«, d.h. durch die vom Objekt über die Kamera entsandten Bilder, insoweit diese Spuren des Abwesenden und des Todes in sich tragen und das Subjekt verletzen. Vgl. Roland Barthes: La chambre claire. Paris 1980, S. 22.

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  13. »Er sagte mir: Ich allein habe mehr Erinnerungen, als alle Menschen zusammen je gehabt haben, solange die Welt besteht. Und weiter: Meine Träume sind wie euer Wachen. Und schließlich, gegen Morgengrauen: Mein Gedächtnis, Herr, ist wie eine Abfalltonne.« (UG 99)

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  14. »Ich werde nicht versuchen, seine Worte wiederzugeben, die unwiederbringlich verloren sind.« (UG 97)

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  15. Damit finden wir auch die Problematik der Deutung der Traummanifestation vor, worauf ich später eingehen will.

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  16. Vgl. Julia Kristeva: Pouvoirs de l’horreur. Essai sur l’abjection. Paris 1980.

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  17. »Oi de pronto la alta y burlona voz de Ireneo. Esa voz hablaba en latín; esa voz (que venia de la tiniebla) articulaba con morose deleite un discurso o plegaria o incantación. Resonaron las sílabas romanas en el patio de tierra […].« (FM 480). (»Plötzlich hörte ich Ireneos laute spöttische Stimme. Diese Stimme sprach lateinisch; diese Stimme (die aus der Finsternis kam) sagte mit lässigem Genuß eine Rede, ein Gebet oder einen Gesang auf. Die römischen Laute hallten im Hof aus gestampftem Lehm wider […].«) (UG 97)

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  18. »Damals gab es weder Film noch Phonographen.« (UG 99)

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  19. Ich beziehe mich auf Gilles Deleuze: L’image-temps. Cinéma 2. Paris 1985. Zur Arretierung der narrativen Montage durch Sichtbarmachung der Zeit anhand von Vor-Bildern aus der Malerei vgl. auch Vittoria Borsò: Pasolinis Decamerone oder eine kinematographische ›Divina Mimesis‹ — Mediale Schwellen zwischen Malerei und Film. In: Jochen Mecke/Volker Roloff (Hg.): Kino(Ro)Mania. Intertextualität der Romania. Tübingen 1999, S. 355–374. Zur Ästhetik der Vor-Bilder in der Nouvelle Vague vgl. Joachim Paech: Die Ein›bild‹ungen des Jean-Luc Godard. Frankfurt/M. 1989 sowie auch Ders.: Die Spur der Schrift und der Gestus des Schreibens im Film. In: Volker Roloff/Scarlett Winter (Hg.): Godard intermedial. Tübingen 1997, S. 41–56.

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  20. Es ist deswegen notwendig, den Begriff »Speicher« zu problematisieren. Ich werde u.a. mit Bezug auf Giorgio Agambens Interpretation von Michel Foucault den Begriff des gedächtnisexternen Speichers durch den des Archivs ersetzen. Vgl. Giorgio Agamben: Quel che resta di Auschwitz. L’archivio e il testimone. Torino 1998.

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  21. »Funes unterschied ständig die ruhigen Fortschritte der Verwesung, der Fäulnis, des Leidens. Er bemerkte das Fortschreiten des Todes, der Feuchtigkeit. Er war der einsame und geistesklare Beobachter einer vielgestaltigen, augenblicklichen und fast unerträglich deutlichen Welt. Babylon, London und New York haben mit ihrer wilden Pracht die Einbildungskraft der Menschen überladen; niemand in ihren übervölkerten Türmen oder im Getriebe ihrer Straßen hat die Hitze und den Druck einer derart nimmermüden Wirklichkeit gefühlt, wie sie Tag und Nacht auf dem unseligen Ireneo in seinem armen südamerikanischen Vorort lastete.« (UG 101)

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  22. Vgl. Krämer, Sprache, Sprechakt, Kommunikation, S. 169.

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  23. Nicolas Pethes übernimmt ebenfalls die Luhmannsche Unterscheidung von Medium und Form und bezeichnet das Medium des Gedächtnisses als undifferenzierten Möglichkeitsraum, der nur durch die Aktualisierung mittels einer Form zur Erinnerung kommt. Die Poetik des Erinnerungsdiskurses steht im Zentrum seiner Studie. Vgl. Nicolas Pethes: Mnemographie. Poetiken der Erinnerung und Dekonstruktion nach Walter Benjamin. Tübingen 1999.

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  24. »Denken heißt, Unterschiede vergessen, heißt verallgemeinern, abstrahieren.« (UG 101)

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  25. Die Assmannsche Definition des kulturellen Gedächtnisses gründet auf Identität, denn es bewahrt Fixpunkte der Vergangenheit, die »die Identität der Gruppe oder der Gesellschaft über Generationen hinweg durch die Kontinuität garantieren«. Assmann/Assmann, Das Gestern im Heute, S. 51.

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  26. »Hier komme ich zum heikelsten Punkt meines Berichts. Dieser hat (zum Glück weiß der Leser es schon) nichts anderes zum Inhalt als jenes Zwiegespräch, das schon ein halbes Jahrhundert zurückliegt. Ich werde nicht versuchen, seine Worte wiederzugeben, die unwiederbringlich verloren sind. Ich ziehe es vor, wahrheitsgetreu all das, was Ireneo mir sagte, zusammenzufassen. Die indirekte Schreibweise wirkt fern und blaß; ich weiß, daß ich die Durchschlagkraft meines Berichts opfere; mögen meine Leser in ihrer Phantasie die abgebrochenen Satzperioden, die mich in jener Nacht betäubten, wiedererschaffen.« (UG 97)

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  27. Auf die Phänomenologie der Leiblichkeit (Merleau-Ponty) und die Bedeutung dieses Moments in Roland Barthes’ Le grain de la voix wird weiter unten eingegangen.

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  28. Die Interpretation von Luhmanns »Sprachtheorie« durch Sybille Krämer führt zu ähnlichen Schlußfolgerungen. Vgl. auch Pethes, Mnemographie.

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  29. Wie im ersten Zitat ersichtlich, ist das Gedächtnisbild nicht der Sternenhimmel, sondern es ist die Pluralität der Sterne, die Funes memoriert. Auf die Multiplizität, die Calvino als phänomenologisches und ästhetisches Problem besonders in Palomar, Collezione di Sabbia und Lezioni Americane behandelt, bin ich eingegangen. Vgl. Vittoria Borsò: Proposte della letteratura del novecento per il nuovo millennio: Lezioni americane di Italo Calvino. In: Enrico Malato u.a. (Hg.): La civile Letteratura. Studi sull’ Ottocento e Novecento offerti ad Antonio Palermo. Napoli (im Druck).

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  30. Nach Krämer sind »symbolisch generalisierte Medien« eine Art Katalysator für die Ausdifferenzierung von Funktionssystemen der Gesellschaft. Vgl. Krämer, Sprache, Sprechakt, Kommunikation, S. 166.

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  31. Krämer nennt die Konzeptionen einer nicht medialisierten Sprachform im Sinne von »Struktur«, »System« oder »Regel« und insbesondere »Kompetenz« »Erben des überkommenen Formkonzeptes«. »Wir können dazu auch sagen: Die Kompetenz ist die sprachtheoretische Version der Idee einer Form-ohne-Medium.« Krämer, Sprache, Sprechakt, Kommunikation, S. 167.

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  32. Vgl ebd., S. 167.

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  33. Vgl. Ottmar Ette: Roland Barthes. Eine intellektuelle Biographie. Frankfurt/M. 1998.

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  34. Roland Barthes: De la parole à l’écriture. In: Ders. Le grain de la voix: entretiens 1962–1980. Paris 1981, S. 10–13.

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  35. Vgl. z. B. Peter Koch/Wulf Oesterreicher: Gesprochene Sprache in der Romania: Französisch, Italienisch, Spanisch. Tübingen 1990.

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  36. Vgl. Pierre Bourdieu: Les règles d’art. Genèse et structure du champ littéraire. Paris 1992.

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  37. Daß diesem privilegierten Medium das wichtigste symbolische Kapital der Phonè zugeschrieben worden ist, zeigt ebenso die auch von Derrida kritisierte Autorisierung der Schrift durch Jean-Jacques Rousseau als authentisches Zeugnis seiner inneren Wahrheit, wie auch die Authentifikationswirkung fingierter gesprochener Sprache im Naturalismus. Die Tatsache, daß sich allerdings in der Materialität des Textes Rousseaus die Inkohärenz und Brüchigkeit seines Wahrheitsdiskurses zeigen, welche die Einschreibungen seiner Körperlichkeit buchstabieren, bringt im Lektüreprozeß die andere Seite der Schrift — die écriture — hervor.

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  38. Mit einer ähnlichen Argumentation hat Roland Barthes den Realismus dekonstruiert und gezeigt, daß der realistische Diskurs eine Form ist, die sich als Diskurs unsichtbar machen muß.

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  39. Die Schrift wird zu einer der medialen Stützen des kulturellen Gedächtnisses. Vgl. Assmann/Assmann, Das Gestern im Heute, S. 66.

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  40. Eine solche Lektüre vollzieht Roland Barthes am Balzacschen Text Sarrazine. Vgl. Roland Barthes: Préface à Savignac. In: Ders.: Œuvres complètes. Ed. par Eric Monty. Vol. II. Paris 1994, S. 1247–1255. Dieses Prinzip wendet Barthes auch im Bereich der visuellen Kunst (Savignac) und ganz besonders im Zusammenhang mit der Photographie an.

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  41. Dies ist anders zu verstehen, als die bloße »Delegitimationsfunktion« des Funktionsgedächtnisses im Sinne einer subversiven Gegenerinnerung, die immer noch als ein bestimmter Gebrauch von der Vergangenheit und als Variante des Funktionsgedächtnisses gilt. Vgl. Assmann/Assmann, Das Gestern im Heute, S. 67 f. Es handelt sich um jene Form des kulturellen Gedächtnisses, das ein »in symbolischen Formen […] objektiviertes und Institutionen stabilisierendes Vergangenheitswissen« ist. Ebd., S. 45.

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  42. Walter Benjamin benutzt im Zusammenhang mit der massenmedial begünstigten, ideologischen Überformung der Erinnerung den Begriff der »diskursiven Erinnerung«: »Die ständige Bereitschaft der willentlichen, diskursiven Erinnerung, die von der Reproduktionstechnik begünstigt wird, beschneidet den Spielraum der Phantasie«; weiter unten: »Die Krisis der künstlerischen Wiedergabe, die sich so abzeichnet, läßt sich als integrierender Teil einer Krise in der Wahrnehmung selbst darstellen.« Benjamin, Über einige Motive bei Baudelaire, S. 645. Die Unterscheidung zwischen der auf Wahrnehmung basierenden Erfahrung und einer erfahrungslosen Information geht mit ähnlichen medientheoretischen Implikationen in die von Luhmann reflektierte Unterscheidung von Kommunikation und Information ein. Vgl. Krämer, Sprache, Sprechakt, Kommunikation, S. 161 f.

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  43. Vgl. Assmann/Assmann, Das Gestern im Heute, S. 52.

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  44. Der Status des »grain de la voix« ist parallel zu dem des Punktum in der Photographie, bei dem das Subjekt sich zugleich durch Mortifizierung des Anderen als starkes Subjekt ermächtigen und entmächtigen kann, wenn es sich vom Anderen im Bild beeindrucken läßt. Vgl. Barthes, La chambre claire. Benjamin geht mehrfach auf die Mortifizierungsfunktion der Photographie ein: z.B.: »Was an der Daguerrotypie als das Unmenschliche, man könnte sagen Tödliche mußte empfunden werden, war das (übrigens anhaltende) Hereinblicken in den Apparat, da doch der Apparat das Bild des Menschen aufnimmt, ohne ihm dessen Blick zurückzugeben. Dem Blick wohnt aber die Erwartung inne, von dem erwidert zu werden, dem er sich schenkt. Wo diese Erwartung erwidert wird […] da fällt ihm die Erfahrung der Aura in ihrer Fülle zu«. Benjamin, Über einige Motive bei Baudelaire, S. 646.

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  45. Benjamin schließt an eine postklassische Denkfigur an, nach der Erinnerung — wie Kierkegaard und der italienische Dichter Giacomo Leopardi schon vor ihm bemerkten — nichts anderes als eine Botschaft des Unglücks der Vergänglichkeit ist; sie ist das Bewußtsein, daß man gewesen ist, die Antizipation der zukünftigen Katastrophe. Die Erinnerung kann nun, so Benjamins Interpretation von Marcel Prousts A la recherche du temps perdu, den Riß mit der Vergangenheit nicht mehr überwinden. Zu ähnlichen Ergebnisse bei Goethe vgl. Vittoria Borsò: Der Rück-Blick auf die Antike. Formen der Vermittlung zwischen Kunst und Natur. In: Bernd Witte/Mauro Ponzi (Hg.): Goethes Rückblick auf die Antike, Berlin 1999, S. 9–20.

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  46. Vgl. Vittoria Borsò: Körperbilder und Leiberfahrung in der Literatur der Moderne. In: Gabriele Genge (Hg.): Sprachformen des Körpers in Kunst und Wissenschaft. Tübingen, Basel 2000, S. 159–173.

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  47. Die Beschleunigung der Zeit im Kontext der Industrialisierung verändert auch die Beziehung zwischen Identität und Alterität, denn die Zeit regelt das Verhältnis des Subjektes zum Anderen. Vgl. Emmanuel Lévinas: Le temps et l’autre. Montpellier 1979.

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  48. Die Phänomenologie der Leiblichkeit und die Erfahrung der Fremdheit des Leibes lassen zu Beginn des Jahrhunderts die Identität als eine paradoxale Verbindung zur Alterität konzipieren. Waldenfels beschreibt die Stationen dieses Problemfelds und zeigt schon bei Husserl (V. Cartesianische Meditation) eine von der Materialität der Sprache — ähnlich wie bei Rimbaud — indizierte Paradoxic In den Buchstaben des Husserlschen Satzes »Derselbe Leib, der mir als Mittel aller Wahrnehmung dient, steht mir bei der Wahrnehmung seiner selbst im Wege« betont Waldenfels die merkwürdige Verschränkung zweier Reden und Sichtweisen: »Der Leib steht mir bei der Wahrnehmung seiner selbst im Wege». Diese Doppelsprache, bei der sich Husserl auf Machs berühmte Darstellung des Gesichtsfeldes bezieht, in der das Gesicht wie in einem schwarzen Loch verschwindet, läßt sich zu Beginn dieses Jahrhunderts bei Scheler (Leibseele/Leibkörper), bei Plessner (Leibsein und Körperhaben) und bei Sartre (corps subjet/corps objet) feststellen. Vgl. Bernhard Waldenfels: Nähe und Ferne des Leibes. In: Rudolf Behrens/Roland Galle (Hg.): Menschengestalten. Zur Kodierung des Natürlichen im modernen Roman. Würzburg 1995, S. 11–23.

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  49. Vgl. Maren Lorenz: Leibhaftige Vergangenheit. Einführung in die Körpergeschichte. Tübingen 2000.

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  50. Die Kritik an den humanistischen Grundlagen der Geistesgeschichte und an ihren symbolischen Sinngeneratoren, die Friedrich A. Kittler im Sinne eines technologischen Materialismus durchführte, eröffnete ein neues medienhistorisches Paradigma. Ebenfalls notwendig ist eine andere Ästhetik des Bildes, die auf einer materialistischtechnologischen Ästhetik gründet. Ein Bild, das nicht als symbolische Realisierungsmaschine zu denken ist, wurde anhand des Begriffs der Figur schon in Jean-François Lyotards Dissertation postuliert. Vgl. Jean-François Lyotard: Discours, Figure. Paris 1971. Zu neueren Ansätzen vgl. Volker Roloff: Intermediale Figuren in der spanischen (und lateinamerikanischen) Avantgarde und Post-Avantgarde. In: Vittoria Borsò/Björn Goldammer (Hg.): Moderne(n) der Jahrhundertwenden. Spuren der Moderne(n) in kunst, Literatur und Philosophie auf dem Weg ins 21. Jahrhundert. Baden-Baden 2000, S. 385–401. Im Zusammenhang mit der Traumtheorie von Jean Cocteau und Michel Foucault (anhand von Ludwig Binswanger) habe ich Parameter eine Theorie des Bildes skizziert, die etwa bei der Traumanalyse die Traummanifestation nicht dem Traumgedanken unterordnen. Vgl. Vittoria Borsò: Foucault und Binswanger — der Traum, der Tod und der Andere. In: Christoph Weissmüller (Hg.): 100 Jahre Traumdeutung (im Druck) und Dies.: Der Orpheus-Mythos neu geträumt. Anmerkungen zu Jean Cocteaus Theater und Film. In: Karl Hölz u.a. (Hg.): Antike Dramen — neu gelesen, neu gesehen. Beiträge zur Antikenrezeption in der Gegenwart. Frankfurt/M. 1998, S. 77–97.

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  51. Ich beziehe mich auf Paul de Man: Allegories of Reading. New Haven 1979.

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  52. Vgl. Jean-François Lyotard: Die Moderne redigieren. In: Wolfgang Welsch (Hg.): Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion. Weinheim 1988, S. 204–214.

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  53. Walter Benjamin: Denkbilder. Ausgraben und Erinnern. In: GS IV. 1: Kleine Prosa, Baudelaire-Übertragungen, S. 400–401, hier S. 400.

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  54. Vgl. Assmann/Assmann, Das Gestern im Heute, S. 52.

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  55. Ich beziehe mich u.a. auf Elisabeth Bronfen (Hg.): Trauma. Zwischen Analyse und kulturellem Deutungsmuster. Köln 1999.

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  56. Vgl. Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. In: GS I.2: Abhandlungen, S. 691–704, hier S. 697.

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  57. Vgl. Assmann/Assmann, Das Gestern im Heute, S. 66.

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  58. Vgl. ebd., S. 45. Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, daß für Jan und Aleida Assmann Speichergedächtnisse Reste enthalten, die die Sinnkonstitutionen der Gegenwart, also das diskursive System einer Epoche, übersteigen. Dies ist ein umgekehrtes Modell als das bisher hier entwickelte, in dem der Erinnerungsprozeß das Subjekt übersteigt, wie wir im Zusammenhang mit der Alterität gesehen haben. Es liegen jeweils unterschiedliche Subjekt- und Alteritätskonzepte zugrunde.

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  59. Vgl. Friedrich A. Kittler: Aufschreibesysteme 1800–1900. München 1995, S. 519. Kittler hebt auch die epistemologischen Veränderungen durch die Psychophysik, d.h. der experimentellen Zerlegung der Wahrnehmung hervor, durch die der Mensch zur Summe test- und meßbarer physiologischer Abläufe wird und durch Datensammlungen erfaßt werden kann.

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  60. Dagegen enthielt das kollektive Gedächtnis Halbwachs’, auf das die Assmannsche Theorie zurückgeht, noch eine kreative Ambiguität von Entlarvung der trughaltigen Funktion des anthropologischen Erinnerungszwecks einerseits und dessen theoretischer Stabilisierung durch eine Sozialvemunft andererseits, die das in den Individuen verborgen wirkende, ständig fiktionsgenerierende Vermögen regulieren sollte. Das Paradoxon der Abhängigkeit der menschlichen Existenz vom Sich-Erinnern-Können und der Abhängigkeit der Erinnerung von der Stabilität des gesellschaftlichen Bezugsrahmens war bei Halbwachs noch erkennbar Vgl. Maurice Halbwachs [1925]: Das Gedächtnis und seine sozialen Beziehungen. Frankfurt/M. 1985. Vgl. dazu auch Rudolf Heinz: Maurice Halbwachs’ Gedächtnisbegriff. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 23 (1969), S. 73–85.

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  61. Vgl. Pethes, Mnemographie, S. 7.

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  62. Ich beziehe mich auf die Konzeption von Normalismus im Sinne von Jürgen Link: »Normalismus ist eine ›Antwort‹ auf moderne exponentielle Trends, er stellt ein Dispositiv zur Regulierung von symbolischen Exponentialkurven bereit.« Jürgen Link: Versuch über den Normalismus. Opladen 1997, S. 26. Link betont die im wesentlichen kompensatorische Funktion des mit der Moderne entstehenden Normalismus.

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  63. Vgl. Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 1999; auch Dies. u.a. (Hg.): Medien des Gedächtnisses, Stuttgart, Weimar 1998 (=Deutsche Vierteljahrsschrift, Sonderheft 1998).

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  64. Vgl. Michel Foucault: L’Archéologie du savoir. Paris 1969.

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  65. Vgl. Agamben, Quel che resta di Auschwitz, S. 135–136.

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  66. Vgl. Giorgio Agamben: L’uomo senza contenuto. Macerata 1994.

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Borsò, V. (2001). Gedächtnis und Medialität: Die Herausforderung der Alterität. In: Borsò, V., Krumeich, G., Witte, B. (eds) Medialität und Gedächtnis. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-02832-7_2

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