Zusammenfassung
Es hat sich ziemlich allgemein unter uns die Behauptung verlauten lassen, daß man in Walter Scott den Stifter einer neuen Gattung des Romans zu sehen habe, die, dem beschränkten Kreise des Familienlebens enthoben, in der historisch und politisch offenbar gewordenen Entfaltung eines Moments in der Völkergeschichte ihre Basis sucht. Abgesehen von der Irrthümlichkeit dieser Meinung, in W. Scott den ersten Bebauer eines Feldes der Dichtkunst finden zu müssen, das vielmehr lange vor ihm in Deutschland selbst fleißig cultivirt wurde, scheint der englische neuere Roman sich nur um deswillen der Sphäre des Familiendaseins entzogen und zu einer allgemeinern, eine reichere Wirklichkeit umfassenden Region sich verstiegen zu haben, um sodann hinter den vorgeschobenen, historisch bedeutsamen Gestaltungen desto sicherer der Kleinmalerei der häuslichen Alltäglichkeit sich hinzugeben und hier Alles zu entfalten, was treue Auffassung der nächsten Wirklichkeit und emsige Nachbildung der blanken, baaren Natürlichkeit zu erreichen vermag. Eine Poesie, die aus der ewig frischen und lebendigen Fülle völkergeschichtlicher Begebenheiten ihre Stoffe entlehnt, wird allerdings nicht so leicht und so tief in die seichte Versumpfung sentimentaler Misèren, wie sie der Lafontaine’sche Familienroman geboten, hineingerathen: der unverwüstliche frische Strom der Völkerbewegungen bürgt dafür mit seinem unerschöpflichen Gehalt; und ist unsere Zeit eine allgemein regsamere, weniger dumpf sich verschließende, kühner die Welt und ihre Thaten durchdringende wie richtende, kurz, ist unsere Zeit eine die Gesammtheit des äußern Daseins umfassendere geworden, als das Ende des vorigen Jahrhunderts sich ergab, welchem auch Göthe’s Romane ihrer Tendenz nach angehören, so wird man nicht in Abrede stellen können, daß die Interessen des heutigen Romandichters bei weitem voller und reicher sind als diejenigen waren, welche in den Gesichtspunkt des Dichters in jener Zeit fielen, wo der schüchterne Sinn des Deutschen sich mehr hinter den Familienherd verkroch und zwischen den vier Pfählen sich herzlich gern einpferchen ließ.
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Nachweise und Anmerkungen
» William Lovell« … »Dichterleben«: Werke Tiecks
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Kühne, F.G. (1976). Aus: Zur Charakteristik der neuern englischen Romanpoesie 1833. In: Romantheorie und Romankritik in Deutschland. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03055-9_17
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DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-476-03055-9_17
Publisher Name: J.B. Metzler, Stuttgart
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