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Rhetorik einer neuen Dynamik — 1987 bis 1989

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Die Rhetorik der Deutschlandpolitik
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Zusammenfassung

„Noch vor wenigen Jahren kennzeichnete Stagnation das Ost-WestVerhältnis. Das galt auch für die innerdeutschen Beziehungen, und es galt für den Einigungsprozeß im freien Teil Europas. Heute sind wir auf beiden Feldern Zeugen einer neuen Dynamik, die vor wenigen Jahren von den wenigsten für möglich gehalten wurde.“1021 Diese einleitenden Worte in Helmut Kohls Bericht zur Lage der Nation im geteilten Deutschland vom 1. Dezember 1988 im Deutschen Bundestag gaben für die letzen drei Jahre deutschlandpolitischer Rhetorik die Richtung an. Die Zeit war in Deutschland außenpolitisch in erster Linie geprägt von den Reformen Michail Gorbatschows und dem Auflösungsprozeß des Warschauer Pakts, was sich direkt auch auf die Deutschlandpolitik auswirkte1022 und in der deutschlandpolitischen Rhetorik widerspiegelte. Selbst die deutsche Frage wurde nicht mehr als Teil einer zurückliegenden geschichtlichen Entwicklung diskutiert, sondern als Ereignis auf das es sich vorzubereiten galt. In diesem Sinne verlangte die Präsidentin des Deutschen Bundestages Rita Süssmuth am 17. Juni 1989: „(…) Konsequenzen zu ziehen für unser Handeln, uns Klarheit daruber zu verschaffen, worin unsere Aufgaben heute und morgen bestehen.“1023

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Endnoten

  1. Bulletin des Presse- und lnformationsamtes der Bundesregierung Nr.169, S.1501–1507, 02.12.1988.

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  2. Am 12. März 1985 wird Michail Gorbatschow Parteichef, und bereits am 2. Juli 1985 folgt Eduard Schewardnadse auf Andrej Gromyko als Außenminister der Sowjetunion. Die Auflösungserscheinungen des Warschauer Pakts setzen darauf schon bald ein: Am 11. Oktober 1986 teilt Gorbatschow den osteuropäischen Parteichefs mit, die Sowjetunion werde ihnen nunmehr deutlich mehr Freiräume lassen; am 12. Juni 1987 fordert Ronald Reagan Gorbatschow in einer Rede vor dem Brandenburger Tor auf, die Mauer niederzureißen; am 17. Januar 1988 werden zahlreiche Demonstranten während einer offiziellen Kundgebung in Ost-Berlin verhaftet; im April und Mai wird in den Solidamosc-Hochburgen Polens gestreikt, und der ungarische Parteichef Janos Kadar tritt zurtick; am 23. Juni 1988 trägt der Pastor Friedrich Schorlemmer auf dem Kirchentag in Halle 20 Thesen zur gesellschaftlichen und politischen Erneuerung der DDR vor; am 31. August 1988 beginnen in Polen Gespräche zwischen Walesa und General Kisczak am Runden Tisch; im Januar/Februar 1989 wird in Polen Solidarnosc relegalisiert und tritt das ZK der ungarischen Kommunisten für ein Mehrparteiensystem ein; am 4. Juni und am 18. Juni 1989 fmden in Polen Parlamentswahlen statt, die zu einer klaren Solidamosc-Mehrheit führen; am 16. Juni 1989 wird in Budapest Imre Nagy feierlich wiederbestattet; am 24. Juni 1989 wird Tadeusz Mazowiecki polnischer Ministerpräsident; am 11. September 1989 wird in der DDR das Neue Forum gegritndet; am 11. September 1989 öffnet Ungarn seine Grenzen für flüchtige DDR-Bürger und beendet damit die Zeit des Eisernen Vorhangs; am 18. Oktober 1989 tritt Erich Honecker zurück; am 9. November 1989 wird die Mauer in Berlin geöffnet; am 25. November 1989 wird Nicolaie Ceausescu hingerichtet; am 29. Dezember 1989 Vaclaw Havel zum Staatspräsidenten der Tschechoslowakei gewählt; (…); am 25. Dezember 1991 löst der Warschauer Pakt seine militärischen Strukturen endgültig auf.

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  3. Erkläung der Präsidentin des Deutschen Bundestages Dr. Rita Süssmuth am 17. Juni 1989 im Deutschen Bundestag. Bulletin des Presse- und Infonnationsamtes der Bundesregierung Nr.64, S.565–566, 20.06.1989.

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  4. So die Bezeichnung des Protokolls der Bundesregierung; zu lesen in: Bulletin Nr.83, S.705, 10.09.1987.

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  5. Vgl. Werner Maser, Helmut Kohl. Der deutsche Kanzler, Berlin, 1990, S.256: „Daß dem Kanzler die als Staatsakt inszenierte Begegnung nicht gefällt, erfahren nicht nur seine nächsten Mitarbeiter und Vertrauten. Mit eisiger Miene empfängt er den Kommunisten und zeigt auch wäthrend aller Fernsehübertragungen demonstrativ, daß dieser Part der Pflichterfüllung ihm innerlich gegen den Strich geht.“

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  6. Helmut Kohls Motivation, der Honecker-Visite dennoch zuzustimmen, schildert anschaulich einer der engsten Vertrauten des Kanzlers, Eduard Ackermann, Mit feinem Gehör. Vierzig Jahre in der Bonner Politik, Bergisch-Gladbach, 1994, S.275: „Wenn ein Politiker in Deutschland die Idee der Einheit in Freiheit bewahrt, verteidigt und für ihre Verwirklichung gekämpft hat, dann war es Helmut Kohl. Wenn andere sich längst mit der Teilung unseres Vaterlandes abgefunden hatten, Helmut Kohl hat es nicht. Er wußte sehr wohl, daß Honecker zur Beruhigung der Bevölkerung diesen Besuch in Bonn brauchte, nicht zuletzt auch wegen seiner internationalen Reputation. Und Honecker hielt sich an die mit dem Bundeskanzler getroffenen Vereinbarungen, auch wenn das Ostberliner Regime dadurch nichts von seinem Unrechtscharakter verlor. Aber schließlich konnten allein im Jahre 1987 rund zwei Millionen Deutsche aus der DDR zu Besuchen in den Westen reisen.“ Vgl. auch Maser 1990, S.259 f.. Der KohlBiograph kommentiert die Ergebnisse der Honecker-Visite in Bonn: „Kohl hat (…) umnißverständlich demonstriert, daß die deutsche Frage nach wie vor offen ist und auf der Tagesordnung bleibt. Um der Menschen in der DDR willen ist er zu dem Meinungsaustausch mit Honecker bereit gewesen, wie er bereits im Juli öffentlich erklärt hat. Zahlreiche politische Häftlinge werden nach dem Honecker-Besuch aus DDR-Gefäugnissen freigelassen. Der Schießbefehl an der Grenze zur Bundesrepublik Deutschland wird — zumindest voriibergehend — außer Kraft gesetzt. 1987 hat die Reisebewegung von Ost nach West und zuriick eine Bilanz erfahren, wie dies seit dem Mauerbau von 1961 noch nicht der Fall gewesen ist. (…)“

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  7. Daß möglichst viel Konsens, ein grundsätzliches Modell politischer Problemlösungen in Deutschland darstellt, meint Ralf Dahrendorf, Schelsky und die Neue Rechte, in: Fetscher, Iring; Richter, Horst E. (Hrsg.), Worte machen keine Politik, Reinbek, 1976, S.103. Dahrendorf führt aus: „Die deutsche Ideologie — wie sollte es anders sein? — ist ein Spiegelbild der deutschen Politik. Die Mitte zählt“ Allein die theoretische Möglichkeit von Konsens in der politischen Sprache verneint die Darstellung Kopperschmidts 1988, S.258. Kopperschmidt führt aus, daß die Konsensressourcen politischer Sprache derart erschöpft seien, „daß Entscheidungen zunehmend zu Entscheidungen mehr oder weniger zuthlliger Mehrheiten werden.“ Allerdings erfüllt die in der vorliegenden Untersuchung gewonnene Erkenntnis einer im Lauf der Jahre Konsens erreichenden deutschlandpolitischen Rhetorik eine Forderung, die Kopperschmidt an anderer Stelle gegenüber der Rhetorik generell erhoben hat, und genügt damit anspnichsvollen dialektischen Zielsetzungen: „Die dialektisch orientieite Rhetorik reflektiert Sprache, insofern sie als kommunikatives Medium praktischer Verständigung zwischen gesellschaftlich handelnden Subjekten beansprucht wird. Ihr spezifisches Interesse zielt auf die Regeln argumentativer Verständigung, deren Einlösung sowohl über den Rationalitätsanspruch des Verständigungsprozesses wie über den Wahrheitsgehalt des argumentativ erzielten Konsenses entscheidet“ (Josef Kopperschmidt, Von der Kritik der Rhetorik zur kritischen Rhetorik, in: Plett, Heinrich F. (Hrsg.), Rhetorik. Kritische Positionen zum Stand der Forschung, München, 1977, S.226.)

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  8. ln der politischen Rhetorik häufig anzutreffende Begriffe, die aufgrund ihres hohen Abstraktionsgrades breiten Konsens ermöglichen, werden von BrUggernann 1976, S.20, „Breitbandvokabeln“ genannt; als Beispiel führt er den Begriff Freiheit an. Brüggemann faßt unter dieser — von ihm bewußt negativ belasteten — Kennzeichnung Begriffe zusammen, „die eine weitgespannte, vage Bedeutung mit enger, konkreter, individueller oder gruppenspezifischer Meinung verbinden. Dasselbe Wort steht für unterschiedliche, auf politisches Handeln bezogene Meinungen, und eben diese Qualität ermöglicht, daß sich politische Gegner desselben Wortes bedienen.“ Wenn auch Brüggemanns Definition unzweifelhaft auf die deutschlandpolitische Rhetorik der achtziger Jahre zutrifft, so übersieht sie dennoch jenen Mittelweg, der am Beispiel der Deutschlandpolitik auffällt. Die unterschiedlichen Meinungen — von denen Broggemann spricht — waren in diesem Fall nicht völlig unterschiedlich, ja im Gegenteil, die Unterschiede in der Deutung der Begriffe durch die gegnerischen Parteien wurden im Verlauf der Deutschlandpolitik von 1953 bis 1989 immer kleiner.

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  9. Rede von Dr. Erhard Eppler am 17. Juni 1989 im DEutschen Bundestag zum Gedenken an den 17. Juni 1953. Bulletin des Presse und Infonnationsamtes der Bundesregienmg Nr. 64, S.566–572, 20.06.1989. Durch die Berufung auf die mittlerweile von allen Seiten anerkannten politischen „Übervater“ Adenauer und Brandt deckt Eppler die von ihm angeführten Standpunkte quasi objektiv ab und verschafft seinen Aussagen Autorität. In der politischen Sprache wird dieses rhetorische Stihnittel gerne verwandt. „Philologentalctik“ nennt diesen Rekurs auf Autoritäten Schmidt 1972, S.91.

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  10. Bulletin Nr.64 (1989), S.565–566. Am Beispiel Süssmuth zeigt sich der Versuch des Politikers, das zu sagen, was alle sagen wollen, nämlich eine laute und deutlich Kritik an der Teilung und deren Instrumente. Dies ist der Versuch der Politiker, auch in der deutschlandpolitischen Rhetorik soweit wie möglich an der allgemeinen Umgangssprache zu partizipieren. Vgl. dazu auch Frese 1972, S.109–110.

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  11. In der Sprache Helmut Kohls fmden sich auffällig häufig solche und andere Metaphern für Geschichte. Begrtlndet liegt das sicher nicht allein in der Tatsache, daß Helmut Kohl selbst Historiker ist. Alexander Demandt beschreibt an zahlreichen Beispielen (vor allem aus der Literaturgeschichte) die Wirkung von solchen Metaphern für Geschichte und kommt zu einem Schluß, der auch den Gebrauch von Geschichts-Metaphem in der politischen Sprache Helmut Kohls erklären hilft: „Soweit das, was Menschen tun, denken oder leiden, davon abhängt, was zuvor getan, gedacht oder erlitten worden ist, sprechen wir von Geschichte. Dieser Begriff bezeichnet Veränderungen im Menschenleben, die an den verschiedensten Gegenständen sichtbar werden, an allem, was Geschichte „hat“. Dazu zählt auch das bildliche Denken Über Geschichte.“ (Alexander Demandt, Metaphern für Geschichte. Sprachbilder und Gleichnisse im historisch-politischen Denken, München, 1977, S.3.) Nicht nur in der Frage der Nutzung des Topos „Geschichte“ entspricht der Redner Hehnut Kohl dem Bild des Konservativen, so wie es (wenn auch mit negativer Tenorierung, die, da sie eine Wertung darstellt, übersehen werden sollte) durchaus richtig gezeichnet wird durch Claudia von Braunmühl, Zur Sprache der Konservativen, in liberal, 12/8, 9, 1970, S.689: „Konservatives Denken ist konkret. Es beschäftigt sich mit dem unmittelbar Vorhandenen, mit konkreten Einzelheiten, nicht mit den Erscheinungsformen unterliegenden Strukturen. Diese Sehweise impliziert eine besondere Betonung der einzelnen Persönlichkeit in der Geschichte und im politischen Leben. Da es reaktiv-defensiv ist, kann konservatives Denken zur Rechtfertigung des Bestehenden nur die Vergangenheit heranziehen.“

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  12. Vgl. Garton Ash 1993, S.549: „Die klare Sprache war nicht Bonns Stärke. Geschwafel war seine Stärke.“ Man wäre als Beobachter geneigt, die Redner so manches Mal an Winston Churchills Worte über seine Mitschüler zu erinnern: „Sie alle gingen zu Latein und Griechisch und solch glänzenden Dingen über. Ich aber lernte Englisch.“ Zitiert nach: Gauger, 1952, S.219.

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  13. Vgl. hierzu auch Garton Ash 1993, S.481 f.. Der Autor schildert eine auffallende Distanz der bundesdeutschen SPD gegenüber SED-unabhängigen Reformansätzen in der DDR, wie Parteigründungen im Sommer 1989 oder die Foimierung von Bürgerrechtsbewegungen. Die „Sozialdemokraten reagierten extrem verwirrt“ (S.481), so Garton Ash, der als besonders einprägsames Beispiel den damaligen Regierenden Bürgenneister Berlins, Walter Momper anführt, der gesagt habe: „Mit Parteigründungen durch kleine Gruppen in der DDR kann jetzt gar nichts bewegt werden (…) Wichtig ist, daß sich der Reformdruck in der Bevölkerung der DDR und in Teilen der SED schließlich in der Spitze der Staatspartei durchsetzt. Denn die SED hat tatsächlich die Macht in der DDR, und sie wird sie in absehbarer Zeit behalten.“ (S.482) Ein anderes Beispiel gab der damals von Walter Momper angeführte Berliner Senat, als er kurz nach der Grenzöffnung, am 21. Dezember 1989 im Bundesrat eine Entschließung zur Deutschlandpolitik einbrachte, in deren Schlußsatz er seiner Hoffnung Ausdruck gab, daß es zu einer europäischen Friedensordnung komme, die „auch das Zusammenleben der Deutschen“ ermögliche. Von Wiedervereinigung war in dieser Entschließung nicht die Rede. Zitiert aus: Bundesrat (Hrsg.), Deutschlandpolitische Debatte im Bundesrat am 21.Dezember 1989, Bonn, 1990, S.80.

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  14. Dabei argumentiert Eppler rein politisch und läßt historisch-kulturelle Argumente nicht zu. Vgl. dazu auch Wolf Oschlies, Nation und Sprache. Ein Verhältnis das neu zu entdecken ist, in: Die politische Meinung 10, 1989, S.32, der ausführt: „Natürlich wird die deutsche Wiedervereinigung in einem europäisch-föderalistischen Rahmen erfolgen Wie denn sonst? Nur: Heranreifen, bewußt werden, auf die Tagesordnung kommen und international unterstützt werden wird sie als Materialisierung der einen deutschen Sprache und Kultur. Oder sie wird niemals kommen!“

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  15. Bulletin Nr.169 (1988), S.1501–1507. Wie sehr Kohl auch nach der Grenzöffnung am 9. November 1989 noch die Priorität der Westbindung Deutschlands im Zusammenhang mit der bevorstehenden Wiedervereinigung betonte, beschreibt Maser 1990, S.314 ff..

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Fritton, M. (1998). Rhetorik einer neuen Dynamik — 1987 bis 1989. In: Die Rhetorik der Deutschlandpolitik. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-04292-7_8

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  • DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-476-04292-7_8

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