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Jean — Paul Fiktion als Experimentierfeld der Gedanken

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Fiktion des Anfangs
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Zusammenfassung

Wer sich für die Kindheitsauffassung Jean Pauls interessiert, wird naheliegen-derweise zuerst zur 1806 erschienenen pädagogischen Schrift »Levana« greifen (2. Aufl. 1813). In ihr findet sich die Summa seiner Reflexion über das Kind, weshalb sich Arbeiten zur Kindheitsauffassung Jean Pauls entweder weitgehend auf die »Levana« konzentrieren oder sie als zentralen Referenzpunkt einbeziehen.1 Die Erkenntnis der Relevanz der Kindheit für das Erwach senenleben liegt der ganzen Erziehungsschrift als Voraussetzung zugrunde. Entsprechende Reflexionen stehen an ihrem Beginn. Durch die Fokussierung auf das Kind und die Lebensphase der Kindheit ist die Relation Kindheit — Erwachsenenleben jedoch nicht Gegenstand ausgedehnter Erörterung. Ihre Analyse bedürfte der Fallstudien, wie sie das von Jean Paul intensiv gelesene »Magazin zur Erfahrungsseelenkunde« (1783–1793) damals bot, oder es bedürfte der autobiographischen Selbstanalyse.2

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Notizen

  1. Vgl. z. B. Lauterwasser, Kindheit und Jugend, S. 146. — Max Kommerell: Jean Pauls Verhältnis zu Rousseau. Nach den Haupt-Romanen dargestellt. Marburg 1925, S. 107.

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  2. Kotext ist ein semiotischer Begriff, der das Verhältnis eines Zeichens zum Ganzen des Primärtextes meint, im Unterschied zum Begriff Kontext, der alle Situationen, historischen Dokumente und literarischen Texte meint, auf die ein Primärtext bezogen werden kann. Vgl. z. B. Peter Rusterholz: Faktoren der Sinnkonstitution literarischer Texte in semiotischer Sicht. In: Kaspar H. Spinner (Hrsg.): Zeichen, Text, Sinn. Zur Semiotik des literarischen Verstehens. Göttingen 1977, 78–124,

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  3. hier S. 80. 6 Ludwig Fertig: Jean Paul als Winkelschulhalter. Darmstadt 1990, S. 5–8.

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  4. Unabhängig von der im jeweiligen Text aktualisierten Erzählsituation spreche ich, wenn die aktualisierte Erzählsituation für meine Argumentation nicht relevant ist, vom fiktiven Erzähler, um die Erzählstimme als Konstrukt vom realen Autor als Erzähler abzugrenzen. Ich benutze diesen Begriff im Sinne Meindls als »Hilfskonstruktion« und »Kürzel für komplexe Strukturverhältnisse«. Vgl. Dieter Meindl: Zur Problematik des Erzählerbegriffs, Lili 8 (1978), H 30/31, S. 206–230, hier 229. Wenn ich vom Leser spreche, so meine ich nicht reale Leser und Leserinnen, sondern das Konstrukt eines Modell-Lesers, das heißt im Sinne Ecos, eine Textstrategie, deren Wahrnehmung aber der Interpretation unterliegt. Vgl. Eco, Lector, S. 62–82.

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  5. Friedrich Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung. In: Friedrich Schiller. Sämtliche Werke. Hrsg. v. Gerhard Fricke und Hubert G. Göpfert. 6 Bde. 1965ff., Bd. 5, 4. durchgesehene Aufl., München 1967, S. 695, Herv. v. Sch. — Vgl. zu diesem Zusammenhang auch Alefeld, Göttliche Kinder, S. 48–58.

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  6. Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-Kritische Ausgabe. Dritte Abteilung. Erster Band. Briefe 1780–1793. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin 1956, S. 346.

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  7. Auch Köpke sieht diesbezüglich einen Unterschied zwischen der »Unsichtbaren Loge« und dem »Titan«. Sie stelle anders als später der »Titan« die Bildung des Herzens in den Vordergrund. Wulf Köpke: Erfolglosigkeit. Zum Frühwerk Jean Pauls. München 1977, S. 344.

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  8. Jean Paul hat ab 1775 Herders Schriften über entsprechende Rezensionen zur Kenntnis genommen (Älteste Urkunde des Menschengeschlechts, ersch. 1774; Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit, ersch. 1774; Abhandlung über den Ursprung der Sprache, ersch. 1772; Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele, ersch. 1778). Ab 1780/81 geschah dies in eigenen exzerpierenden Lektüren (Älteste Urkünde des Menschengeschlechts und Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, ersch. 1785–92; Briefe zur Beförderung der Humanität, ersch. 1793–97; 1. Abt. der Sämtlichen Werke Herders in 36 Bänden zur Religion und Theologie, ersch. 1806). Vgl. dazu: Müller, Exzerpte. Ab 1785 stand Jean Paul mit Herder in brieflichem Gedankenaustausch, 1796 lernte er ihn in Weimar persönlich kennen. — Zur Herder-Rezeption Jean Pauls, vgl. Wulf Koepke: Die Herder-Rezeption Jean Pauls in ihrer Entwicklung. In: Gerhard Sauder (Hrsg.): Johann Gottfried Herder 1744–1803. Hamburg 1987, S. 391–408 und Heidi Owren: Herders Bildungsprogramm und seine Auswirkungen im 18. und 19. Jahrhundert. Heidelberg 1985; zu Jean Paul, S. 173–197.

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  9. Eduard Berend (Hrsg.): Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Erste Abteilung, 2. Bd.: Die Unsichtbare Loge. Weimar 1927, S. XXXVII. Berends Argumentation folgt Fertig, Jean Paul, S. 59.

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  10. Eine prägnante Definition des Erhabenen in der zeitgenössischen idealistischen Ästhetik gibt Jean Paul in der »Vorschule der Ästhetik«, im Paragraph 27 über die Theorie des Erhabenen: »Aber worin besteht denn die ideale Erhabenheit? — Kant und nach ihm Schiller antworten: in einem Unendlichen, das Sinne und Phantasie zu geben und zu fassen verzagen, indes die Vernunft es erschafft und festhält.« (V, 105, Herv. v. JP.) Jean Paul deutet das Erhabene nach Götz Müller jedoch gegen die Mehrzahl der Theoretiker des Erhabenen um, indem er für die sinnliche Faßbarkeit und Überschaubarkeit dessen, was als Zeichen des Erhabenen dient, plädiert; so fährt er an derselben Stelle der »Vorschule« weiter: »Aber das Erhabene, z. B. ein Meer, ein hohes Gebirge, kann ja schon darum nicht unfaßbar für die Sinnen sein, weil sie das umspannen, worin jenes Erhabene erst wohnt […].« (105) Jean Paul bestimmt das Erhabene als ein auf ein sinnliches Zeichen »angewandtes Unendliches« (106). Vgl. dazu auch Götz Müller: Jean Pauls Ästhetik und Naturphilosophie. Tübingen 1983, S. 130–135.

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  11. Müller, Exzerpte, S. 10, weist darauf hin, daß die Hauptmasse der Exzerpte in den Jahren zwischen 1778–1790 entstand. Sie dokumentieren die eigentliche Bildungsgeschichte Jean Pauls. Die Exzerptsammlung wurde danach gezielt als Materialfundus für die Romane und Schriften genützt. — Proß weist auf die Verflechtungen der einzelnen Werke Jean Pauls hin und betont, daß es von der »Unsichtbaren Loge« bis zur »Seiina« eine allen Werken Jean Pauls gemeinsame, entwicklungslose Grundlage der angesprochenen Themen gibt, da die Skizzen, Satiren und philosophischen Versuche der Zeit zwischen 1780–1790 die geistige Voraussetzung und stilistische Grundlegung zum Gesamtwerk darstellen. Vgl. Wolfgang Proß: Jean Pauls geschichtliche Stellung. Diss. Tübingen 1975, S. 7. — Nach Köpke basiert die »Vorschule der Ästhetik« auf Leseerfahrungen Jean Pauls aus den Jahren 1780–90. Die »Levana« beruht auf Jean Pauls Auseinandersetzung mit der Pädagogik seit den 80er Jahren und auf seiner eigenen Lehrerfahrung. Eine wechselseitige Erhellung ist deshalb naheliegend. Vgl. dazu Koepke, Erfolglosigkeit, S. 342. — Nach Gert Ueding ist die Entstehungsgeschichte der beiden Theoriewerke eng miteinander verflochten. In beiden herrscht der Erziehungsgedanke vor, zumal die Pädagogik der Zeit den Künstler als Bildungsideal wieder entdeckt hatte. Erziehung und künstlerische Bildung orientieren sich für Jean Paul an demselben Ideal der harmonisehen Ausbildung aller Kräfte und Anlagen, das er mit Schiller, Goethe und den großen Pädagogen teilte.

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  12. Gert Ueding: Jean Paul. München 1993, S. 154. 50 Zu den folgenden Kapiteln II und III vgl. auch Beatrice Mall-Grob: »Der zerschlitzte Himmel«. Eröffnung des Unendlichen in der »Unsichtbaren Loge« Jean Pauls. In: Wolfram Malte Fues/Wolfram Mauser (Hrsg.): Verbergendes Enthüllen. Zur Theorie und Kunst dichterischen Verkleidens. Festschrift für Martin Stern. Würzburg 1995, S. 131–144.

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  13. Johann Gottfried Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Text, Materialien, Kommentar. Hrsg. v. Wolfgang Proß. München 1978, S. 29.

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  14. Monika Schmitz-Emans: Schnupftuchsknoten oder Sternbild. Jean Pauls Ansätze zu einer Theorie der Sprache. Bonn 1986.

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  15. Neben der positiven Annäherung zum Unendlichen gibt es bei Jean Paul auch den negativen Modus über Humor und Satire als Vernichtung des Endlichen. Vgl. Bernhard Buschendorf: »Der Instinkt des Göttlichen«. Zur formprägenden Macht der Metaphysik. Nachwort in: Kurt Wölfel: Jean Paul-Studien. Hrsg. v. Bernhard Buschendorf, Frankfurt a. Main 1989, S. 402–424, hier S. 405.

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  16. Den Umschlag von Entgrenzung zu Begrenzung, von »Diastole zu Systole« (Anwendung der Begrifflichkeit Goethes) hat Korff als konstitutiv für das Werk Jean Pauls beschrieben, eine Textbewegung, die Stifter in jungen Jahren übernahm und an der er sich in seinem Schreibprozeß abarbeitete, was Korff an den drei Fassungen der »Mappe meines Urgroßvaters« (1842,1847, 1867) zu zeigen vermag. Vgl. Friedrich Wilhelm Korff: Diastole und Systole. Zum Thema Jean Paul und Adalbert Stifter. Bern 1969, vgl. z. B. S. 18.

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  17. Jean-Jacques Rousseau: Emile oder Über die Erziehung. Herausgegeben, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Martin Rang, aus dem Französischen unter Mithilfe des Herausgebers von Eleonore Sckommodau. Stuttgart 1993, S. 193.

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  18. Jean Starobinski: Psychoanalyse und Literaturwissenschaft. Literaturwissenschaft und Psychoanalyse. Hrsg. v. Alexander Mitscherlich, Frankfurt a. Main 1973, vgl. v. a. Grundlinien einer Geschichte des Begriffs der Einbildungskraft, S. 3–23, hier S. 7.

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  19. Martin Rang: Rousseaus Lehre vom Menschen. Göttingen 1959, S. 276: »Das Idealbild der kindlichen ›Reife‹ geht — darüber kann kein Zweifel bestehen — auf Kosten des Kleinkindes.«

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  20. Vgl. Herder, Ursprung, S. 28f. Der Begriff der Besonnenheit meint die freie Umschau des Menschen, der nicht nur die Dinge wahrnimmt, sondern diese mit seiner Fähigkeit zur Reflexion auch zusammenstellt und vergleicht. Dieser Begriff hat seinen Ursprung im »Kratylos« von Plato; vgl. ebenda, Anm. v. Proß, S. 123. Für Herder gibt die Herleitung dieses Begriffes die Grundlage für die Argumentation der »Erfindung« der Sprache durch das besonnene Wesen Mensch, womit er sich gegen die Theorie ihres göttlichen Ursprungs stellt (Hauptgegner ist Johann Peter Süßmilch: Versuch eines Beweises, daß die erste Sprache ihren Ursprung nicht vom Menschen, sondern allein vom Schöpfer erhalten habe, 1766), vgl. S. 31, 34. Herder wendet sich aber auch gegen die Theorie von der Ableitung der menschlichen Sprache aus der Natursprache, die der Mensch mit den Tieren teilt, vgl. S. 21f. Diese These wurde von Etienne Bonnot de Condillac: Essai sur l’origine des conaissances humaines (1746) und von Rousseau: Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes (1755) vertreten. Vgl. dazu auch: Astrid Gesche: Johann Gottfried Herder: Sprache und die Natur des Menschen. Würzburg 1993, S. 10–21.

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  21. Vgl. Johann Gottfried Herder: Kritische Wälder oder Betrachtungen über die Wissenschaft und Kunst des Schönen. Viertes Wäldchen über Riedels Theorie der schönen Künste. In: Herders Sämtliche Werke. Hrsg. v. Bernhard Suphan. Bd. 4, Berlin 1878, S. 110f.

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  22. Lacan, Spiegelstadium, Schriften I, S. 61–70. Es wird aber auch notwendig sein, auf spätere Schriften Lacans zurückzugreifen. Hilfreich für einen besseren Zugang zum komplexen und prozeßhaften Denken Lacans, das sich der Etablierung eines klaren theoretischen Systems und einer klar definierten Begrifflichkeit konsequenterweise widersetzt, aber damit auch den Nachvollzug erschwert, sind folgende Darstellungen: Samuel Weber: Rückkehr zu Freud. Jacques Lacans Ent-Stellung der Psychoanalyse. Wien 1990 und Peter Widmer: Subversion des Begehrens. Jacques Lacan oder Die zweite Revolution der Psychoanalyse. Frankfurt a. Main 1990. — Beigezogen habe ich auch Hermann Lang: Die Sprache und das Unbewußte. Jacques Lacans Grundlegung der Psychoanalyse. Frankfurt a. Main 1986. — August Ruhs: Die Schrift der Seele. Einführung in die Psychoanalyse nach Jacques Lacan. In: Psyche, 34. Jg., H. 10 (1980), S. 885–909.

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  23. Peter Widmer: Zum Problem des Todestriebs. Psyche, 38. Jg., H.12 (1984).

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Mall-Grob, B. (1999). Jean — Paul Fiktion als Experimentierfeld der Gedanken. In: Fiktion des Anfangs. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-04305-4_2

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