Auszug
In einer „globalisierten“ Welt von „Zuwanderungsgesellschaften“ wird die gesellschaftliche Vielheit zunehmend bewusster wahrgenommen. Auf der anderen Seite wird zugleich der Ruf nach dem „Staat“ in eben dieser „globalisierten“ Welt lauter — sei es als Fixpunkt „souveräner“ politischer „Steuerung“ oder gar als „homogene Gemeinschaft“. In politikwissenschaftlicher Hinsicht geht mit der Frage nach dem Dualismus von gesellschaftlicher Vielheit und Einheit eine neuerliche Rezeption der Pluralismustheorie einher. Ernst Fraenkel gilt allgemein als „Vater“ der deutschen Pluralismustheorie, die dann schon in Abkehr von radikaleren Konzepten der 20er Jahre von ihm als „Neo-Pluralismus“ formuliert worden ist1. Demgegenüber ist festzuhalten, dass der „Staatstheoretiker“ der Moderne - oder besser: „Anti-Staatstheoretiker“ - Hans Kelsen, Begründer der sog. „Wiener Schule“ des Rechts, zu dieser Zeit längst eine bahnbrechende und - im Unterschied zu Fraenkel - theoretisch voll ausformulierte Demokratietheorie in pluralismustheoretischer Absicht vorgelegt hat2. Schon in seiner Arbeit „Hauptprobleme der Staatsrechtslehre“ führt Kelsen gegen das tradierte Verständnis vom Gemeinwohl, das sich im Staat verkörpern soll, aus:
„Es gibt eben überhaupt kein ‚Gesamtinteresse‘, sondern immer nur Gruppeninteressen, die auf irgendeine Weise die staatliche Macht, den Staatswillen für sich gewinnen... und erst die Resultante all dieser zusammenwirkenden Kräfte findet im Staatswillen ihren Ausdruck“3. Daher:
„Die Vorstellung eines einheitlichen Staatswillens oder einheitlichen Staatsperson ist nur Ausdruck für die Einheitlichkeit der Organisation, für die Einheitlichkeit der Rechtsordnung... Das ist das Wesen des Staatswillens: Eine zum Zwecke der Zurechnung vollzogene normative Konstruktion — nichts was mit einem sozialpsychologischen Gesamtwillen auch nur das geringste zu tun hätte“4.
Vgl. hierzu Kap. I B.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Dies soll das Verdienst Fraenkels für eine offene Gesellschaft überhaupt nicht schmälern; im Gegenteil, nach meiner Auffassung zählte Fraenkel zu den Politologen, die über den Tellerrand blickend, philosophisch-ideengeschichtliche, juristische und machtanalytische Zusammenhänge souverän beherrschten.
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Literatur
Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, S. 479, unter der Kapitelüberschrift „‘Gesamtinteresse’ und soziale Gruppeninteressen“. Diese Formulierung wird von Kelsen immer wieder bemüht: „Bei der nun einmal in der Erfahrung gegebenen und hier unvermeidlichen Interessengegensätzlichkeit kann der Gemeinschaftswille, wenn er nicht einseitig das Interesse nur einer Gruppe ausdrücken soll, nichts anderes als die Resultante, das Kompromiß zwischen entgegengesetzten Interessen sein“; Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Aufl., S. 22; ähnliche Formulierungen auch Kelsen, Über die Grenzen zwischen juristischer und soziologischer Methode, S. 28 f.
Kelsen, Über die Grenzen zwischen juristischer und soziologischer Methode, S. 56; vgl. auch Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, S. 163 ff.
Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, S. 297 ff.
Roehrssen, Die Kelsensche Auffassung vom Recht als ein Ausdruck der modernen sozio-politischen Struktur, S. 232.
Zur Rezeption Kelsens durch Fraenkel vgl. hier Kap. I B sowie ausfuhrlich van Ooyen, Der Staat der Modeme,S. 223 ff, Abschnitt G: „Linke Rezeption: Von Kelsen zu Fraenkel“; kurzer Hinweis iiber die auffallenden Ubereinstimmungen zwischen Kelsen und Fraenkel schon bei Bauer, Wertrelativismus und Wertbestimmtheit im Kampf urn die Weimarer Demokratie, S. 124; Luthard, Politiktheoretische Aspekte im „Werk“ von Hans Kelsen, S. 166 (nur in der Fn 66); auch bei Boldt: „neopluralistisch“ (Demokratietheorie zwischen Rousseau und Schumpeter, S. 222), ohne explizite Nennung Fraenkels.
Mit Ausnahme des jüngst von Lehnen, Verfassungsdemokratie als Bürgergenossenschaft (1998), wiederentdeckten Hugo Preuß als Vordenker pluralistischer Demokratie. Dabei findet sich bei Kelsen mustergültig, was z. B. nach Schmidt allgemein typisch für diese Demokratietheorie ist: „In der frühen Pluralismustheorie gilt der Stachel der Kritik vor allem den Souveränitätsansprüchen des Staates, insbesondere eines nichtdemokratischen Staates. Zum Antiliberalismus und Anti-Etatismus kommt die Frontstellung gegen den autoritären Staat und den Totalitarismus kommunistischer und nationalsozialistischer Prägung“; Demokratietheorien, S. 152 f.
Vgl. m. w. N. van Ooyen, Der Staat der Moderne. Diese Forschungslücke hat nur zum Teil damit zu tun, dass Kelsen aus seiner Emigration nicht mehr zurückkehrte, sodass in der deutschen Staatslehre die Schulen der-antipluralistischen-Staatsrechtslehrer Schmitt und Smend bis heute weitaus wirkmächtiger geblieben sind (vgl. hierzu z. B. van Ooyen, Der Begriff des Politischen des Bundesverfassungsgerichts). Sie ist auch Folge der zunehmenden „Scheuklappen“ der Disziplinen: Die juristischen Lesarten interessierten sich wenig für den politischen Gehalt der Kelsenschen Theorie. Hier war Kelsen ein bis zur „Weißglut“ provozierender radikal-positivistischer Rechtstheoretiker und allenfalls am Rande nahm man zur Kenntnis, dass er sich auch mit Demokratie beschäftigt hat. Richtig führte daher nach Boldt, Demokratietheorie zwischen Rousseau und Schumpeter, S. 217 ff. jüngst Lehnert aus, „dass die Studien Kelsens zur Demokratie... beharrlich unterschätzt worden (sind): als ob sie bloße Gelegenheitsschriften neben seinen Hauptwerken geblieben seien“; Der Beitrag von Hans Kelsen und Hugo Preuß zum modernen Demokratieverständnis, S. 224. Selbst ein Autor wie Häberte, der sich als Jurist mit der Verfassungstheorie des Pluralismus profund beschäftigt hat, nennt hinsichtlich pluralistischer Vorarbeiten „nur“ u. a. Fraenkel, Loewenstein, Popper, nicht aber Kelsen; vgl. Verfassung als öffentlicher Prozeß, S. 143 ff. Umgekehrt musste den Politikwissenschaftlern Kelsen ohnehin als „zu juristisch“ erscheinen. Zu Recht beklagte jüngst von Beyme, dass es „Politikwissenschaftler... verlernt haben, sich in juristische Materien einzuarbeiten“; Das Bundesverfassungsgericht aus der Sicht der Politik-und Gesellschaftswissenschaften, S. 494; ähnlich auch Seibel: „Verfassungsfragen gelten in Deutschland allerdings als Juristenfragen, in der Politikwissenschaft wird dies in der Form partieller Selbstentmündigung weitgehend hingenommen“; Suchen wir immer an der richtigen Stelle?, S. 221. So setzte man sich dann hier doch „lieber“ mit den „politischeren“ Juristen der Weimarer Zeit wie Hermann Heller und Carl Schmitt auseinander — überhaupt vergessend, dass deren Werke als Reflex hierauf ohne Kelsens Staatstheorie kaum entstanden wären. Daher ist mit Hefler im Gegensatz zur Rezeption von Schmitt festzustellen: „wer nicht an seinen juristischen Arbeiten interessiert ist, nimmt (bis heute) von Kelsen keine Notiz“; Wissenschaftlichkeit als Einsatz, S. 280. Und: Kelsens „normative Staatslehre“, die in ihrem Impetus der Freiheit eigentlich als in der Tradition der politischen Philosophie stehend zu begreifen ist, musste angesichts der bald herrschenden politikwissenschaftlichen Ansätze — ob nun marxistischer, systemtheoretischer oder empirisch-analytischer Art — sowieso als „obskur“ erscheinen.
Auch die aus der „Fraenkel-Schule“ stammende Arbeit von Detjen sieht diesen Zusammenhang und die Anleihen Fraenkels bei Kelsen nicht, obwohl sie ein kleines Kapitel über Kelsen enthält: „Die neukantische Position Kelsens“; Neopluralismus und Naturrecht, S. 360–368, und Kap. „Ernst Fraenkels Auseinandersetzung mit dem Neukantianismus“, S. 377–379.
Vgl. hierzu van Ooyen, Der Staat der Moderne; sowie hier Kap. II, A. Hervorzuheben bleiben die beiden Sammelbände aus den 80iger Jahren, die Kelsens ideologiekritische und demokratietheoretische Leistungen endlich breiter analysierten: Krawietz / Topitsch / Koller, Ideologiekritik und Demokratietheorie bei Hans Kelsen; Krawietz / Schelsky, Rechtssystem und gesellschaftliche Basis bei Hans Kelsen, sowie die-eher juristisch orientierte-Monografie von Dreier, Horst, Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen. In einigen, zumeist kürzeren Beiträgen blitzt der Zusammenhang, dass Kelsen eine Demokratietheorie vorgelegt hat, die mit der modernen Pluralismustheorie im direktem Kontext steht, zudem immer mal auf; vgl. soweit nicht schon genannt, z. B.: Flechtheim, Recht und Gesellschaft, S. 42 ff.; Achterberg, Rechtsnorm und Rechtsverhältnis in demokratietheoretischer Sicht, S. 133 ff.; Roehrssen, Die Kelsensche Auffassung vom Recht als ein Ausdruck der modernen soziopolitischen Struktur; Somek, Politischer Monismus versus formalistische Aufklärung; S. 109 ff; Günther, Klaus, Hans Kelsen (18881–1973), S. 367 ff; Prisching, Hans Kelsen und Carl Schmitt, S. 77 ff. Lenk, Freiheit und Kompromissbildung, S. 114 ff; Schneider, Wilfried, Wissenschaftliche Askese und latente Wertpräferenz bei Hans Kelsen; Dyzenhaus, Legality and Legitimacy; Walter / Jabloner, Hans Kelsens Wege sozialphoilosophischer Forschung; Römer, Hans Kelsen, S. 261 ff; Baldus, Hapsburgian Multiethnicity and the „Unity of the State“, S. 13 ff; Llanque, Die politische Differenz zwischen absoluter Gerechtigkeit und relativem Rechtsstaat bei Hans Kelsen, S. 219 ff; Fenske, Hans Kelsen, S. 712 ff.; Lehnen; Staatslehre ohne Staat?; Kick, Politik als Kompromiß auf einer mittleren Linie, S. 63 ff. Eine Reihe weiterer Beiträge stellt bis zur aktuellen Rezeption heraus, Kelsen überhaupt als bahnbrechenden politischen Denken der Moderne des 20. Jahrhunderts zu begreifen, so z. B. schon Horneffer, Hans Kelsens Lehre von der Demokratie (1926); Carrino, Die Normenordnung. Staat und Recht in der Lehre Kelsens, 2. Aufl.; mit Blick auf die Gemeinsamkeiten von Kelsen und Derridas Dekonstruktivismus: Winkler, Die Reine Rechtslehre als Dekonstruktionismus?, S. 115 ff.; mit Blick auf Gemeinsamkeiten bei Kelsen und Luhmann: Pauly, Die Identifizierbarkeit des Staates in den Sozialwissenschaften, S. 112 ff.
Hinweis bei Llanque, Die politische Differenz zwischen absoluter Gerechtigkeit und relativem Rechtsstaat bei Hans Kelsen, S. 221. Die Stelle findet sich bei Neumann, Die Herrschaft des Gesetzes (engl. 1936), S. 203; er stellt hier heraus, dass Harold Laski den Begriff des Rechtsstaats ganz im Sinne von Kelsen, nämlich als Identität von Staat und Recht interpretiert, die als abstrakter Begriff und nicht als Seinskategorie zu begreifen sei. Immerhin hat Laski von einigen Arbeiten Kelsens Kenntnis genommen; auf der anderen Seite hat der „Kelsen-Schüler“ Eric Voegelin noch 1930 die Übersetzung eines Aufsatzes von Laski in der ZöR besorgt. In diesem bezieht sich Laski auf die von Kelsen herausgearbeitete Völkerrechtstheorie (Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts), die den Primat des Völkerrechts gegen den „souveränen“ Staat postuliert; vgl. Laski, Das Recht und der Staat (übersetzt von E. Voegelin); in: ZöR, Bd. X, 1930, S. 22 f. Ein Vergleich der Pluralismus-Konzepte von Laski und Kelsen steht noch aus. Es sei aber kurz bemerkt, dass Eisfeld, zu Recht hervorhebt: „Laskis Festhalten an der These von der realen Verbandspersönlichkeit hatte... eine unhaltbare Ontologisierung des Verbandes zu Folge“; Pluralismus, S. 428. Schon insoweit ist Kelsens Pluralismuskonzept wohl das radikalere, da er nicht Gierkes organische Staatstheorie rezipiert, die bei Laski immer wieder durchschlägt.
Vgl. insgesamt Preiss, Hans Kelsens Kritik am Naturrecht.
Hieraus resultiert auch seine langjährige Auseinandersetzung mit der griechischen Antike, insb. in der Kritik an Platon, den er — wie später Karl Popper — als den Begründer und wichtigsten Denker des aus seiner Sicht fatalen Verständnisses von Gerechtigkeit sieht; vgl. hierzu: Kelsen, Die platonische Gerechtigkeit (1933), S. 198 ff; Kelsen, Die Illusion der Gerechtigkeit bzw. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. 1.
Kelsen, Die philosophischen Grundlagen der Naturrechtslehre und des Rechtspositivismus, S. 40; vgl. auch Kelsen, Staat und Naturrecht.
Leser, Kelsens Verhältnis zum Sozialismus und Marxismus, S. 433; vgl. auch Dreier, Ralf, Reine Rechtslehre und marxistische Rechtstheorie, S, 121 ff.; Müller, Christoph, Hans Kelsens Staatslehre und die marxistische Staatstheorie in organisationslogischer Sicht, S. 167 ff.
Kelsen hat den Marxismus in Zeitungsessays, Fachaufsätzen und umfangreichen Monografien immer wieder kritisiert, vgl. z. B.: Kelsen, Sozialismus und Staat (1923). In politisch-praktischer Hinsicht versuchte er dabei auf die Theoriediskussion der politisch längst nicht homogenen, zwischen marxistischer Orthodoxie und pragmatischer Regierungsbeteiligung schwankenden Sozialdemokratie Österreichs Einfluss zu nehmen. Theoretisch schließlich musste ihn die marxistische „Rechts-und Staatstheorie“ aber in besonderer Weise reizen-nicht nur, weil die Vision einer staatsfreien Gesellschaft, schon die These vom „Absterben des Staates“ einen Staatsrechtler provozieren muss, der sich zugleich die „Zerstörung“ des „Staats“ auf seine eigene Fahne geschrieben hat-wenn auch natürlich auf ganz andere Weise, nämlich durch die Zerstörung des ontologischen Staatsbegriffs im Sinne einer souveränen politischen Einheit von eigener Substanz. Es ist darüber hinaus der-wie mit der Reinen Rechtslehre erhobene-ideologiekritische, antimetaphysische Anspruch der marxistischen Theorie, den Kelsen zurückweisen will. So gesehen ist seine Kritik am Marxismus (auch) vom Streit um die „wahre“ Ideologiekritik motiviert. Kelsens Kritik zielt daher auf die marxistische Utopie der klassenlosen Gesellschaft. Diese entpuppt sich für ihn als eine Variante der Ideologie von der konfliktfreien, homogenen politischen Gemeinschaft, als „politische Theologie“, die mit der „Staatstheologie“ und der politischen Theologie der „Volksgemeinschaft“ das Strickmuster und daher auch die Folgen hinsichtlich der Ablehnung pluralistischer und parlamentarischer Demokratie gemeinsam hat; vgl. van Ooyen, Der Staat der Moderne, S. 146 ff; Somek, Politischer Monismus versus formalistischer Aufklärung; Flechtheim, Kelsens Kritik am Sozialismus, S. 309 ff; Mozetič, Hans Kelsen als Kritiker des Austromarxismus, S. 445 ff; Pfabigan, Hans Kelsens und Max Adlers Auseinandersetzung um die marxistische Staatstheorie, S. 63 ff; Leser, Hans Kelsen und Karl Renner, S. 41 ff; ders., Sozialismus zwischen Relativismus und Dogmatismus.
Soweit man hier überhaupt schon von Pluralismustheorie sprechen kann, weil Gierke als Vertreter der organischen Staatslehre schließlich am Konzept der staatlichen Souveränität festhielt; seine Arbeiten waren jedoch in der Rezeption von Frederic W. Maitland bahnbrechend für die Entwicklung der englischen Pluralismustheorie; vgl. von Gierke, das Wesen der menschlichen Verbände (1902); Steffani, Pluralistische Demokratie, S. 33; zum ideengeschichtlichen Hintergrund der englischen Pluralismustheorie insgesamt Birke, Pluralismus und Gewerkschaftsautonomie in England.
Vgl. James, Das pluralistische Universum (1914). Die 1907 am Manchester College in Oxford gehaltenen Vorlesungen sind vor allem eine Auseinandersetzung mit dem von James so bezeichneten „Monismus“ insb. Hegels, dem James den „Pluralismus“ als philosophisches Konzept entgegensetzt; vgl. insgesamt Schubert / Diaz-Bone, William James zur Einführung.
Vgl. Laski, Studies in the Problem of Sovereignty (1917).
Vgl. Kelsen: Gott und Staat (1923).
So war für Kelsen auch Gierkes Beschreibung der menschlichen Verbände als „reale Persönlichkeiten“, die immerhin ansatzweise den Allmachtsanspruch des Staates in Frage stellen konnte, das falsche Konzept. Denn Gierke hielt in der Tradition der organischen Staatslehre stehend an der Vorstellung des Verbands als „Lebewesen“ fest; vgl. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 376.
Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 208 (§ 258).
Ebd., S. 222 (§270).
Sontheimer / Bleek, Grundzüge des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland, S. 184 f.
Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 180 f. (sog. „Drei-Elementen-Lehre“ — Gebiet, Volk, und Gewalt-, die bis heute noch zu den Standarddefinitionen des Staatsbegriffs zählt. Jellineks hegelianisch aufgeladene Staatslehre ist bis heute wirkmächtig geblieben, vgl. hier Kap. III B; m. w. N. van Ooyen, Der Begriff des Politischen des Bundesverfassungsgerichts. Generationen von Staatsrechtlern sind an seinem Staatsbegriff — und seiner Grundrechtssystematik — geschult worden einführend zu Jellinek: Herwig, Georg Jellinek, S. 72 ff; Sattler, Georg Jellinek (1851–1911), S. 356 ff.; Anter, Georg Jellineks wissenschaftliche Politik, S. 503 ff.
In Ergänzung der oben zitierten Definition des Staats als Verband definierte daher Jellinek analog: „Als Rechtsbegriff ist der Staat demnach die mit ursprünglicher Herrschermacht ausgerüstete Körperschaft eines seßhaften Volkes oder... die mit ursprünglicher Herrschermacht ausgestattete Gebietskörperschaft“; ebd., S. 183).
Vgl. Kelsen, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff.
Hieraus resultiert auch Kelsens Ablehnung der Rechtssoziologie: „Seit dem 19. Jahrhundert habe aber die Soziologie versucht, mit den Methoden der Naturwissenschaften das Problem einer allgemeinen Werturteilsfindung in den Griff zu bekommen. Kelsen hält das für eine Fehlentwicklung... Kelsen kritisiert damit... die biologistischen oder rassistischen Pseudo-Soziologien seiner Zeit..: Gesellschaft ist nicht, sondern soll sein; und (kann) deshalb... nur sollens-mäßig oder normativ, nicht aber naturgesetzlich oder kausallogisch erfaßt werden“; Kick, Politik als Kompromiß auf einer mittleren Linie, S, 75; vgl. auch: Rottleuthner, Rechtstheoretische Probleme der Soziologie des Rechts, S. 521 ff; Rein, Rechtssoziologie gegen Rechtspositivismus, S. 91 ff. Die Kontroverse mit Hermann Kantorowicz, Eugen Ehrlich und Max Weber ist neuerlich ediert bei Paulson, Hans Kelsen und die Rechtssoziologie.
Vgl. Schmitt, Politische Theologie; hierzu auch Hebeisen, Souveränität in Frage gestellt.
Schmitt, ebd., S. 19.
Kelsen, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, S. 135. Schon zuvor hatte der holländische Staatstheoretiker Hugo Krabbe in zwei Arbeiten gegen die Souveränität des Staates die des Rechts gesetzt (vgl. Krabbe, Die Lehre der Rechtssouveränität (1906), ders., Die moderne Staatsidee (2. Ausgabe 1919). Das Buch über die moderne Staatsidee gehört ohne Zweifel zu den frühen pluralismustheoretischen Arbeiten — hierauf verweist auch schon Steffani, Pluralismus, S. 808. Kelsen würdigt Krabbes Leistung, hält ihm aber vor, die Identität von Staat und Recht nicht radikal genug zu entwickeln, weil er sie auf das Zeitalter des Konstitutionalismus, also „auf eine spezielle historische Situation (beschränkt)... und sich nicht bewußt ist, einer allgemein gültigen Erkenntnis auf der Spur zu sein...“; Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts, S. 30; vgl. auch Hebeisen, Souveränität in Frage gestellt, S. 224 ff.
Vgl. Dreier, Horst, Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei hans Kelsen, S. 129 f.
Vgl. Kondylis, Jurisprudenz, Ausnahmezustand und Entscheidung, S. 343.
Ebd.
Schneider, Wilfried, Wissenschaftliche Askese und latente Wertpräferenz bei Hans Kelsen, S. 154; vgl. auch S. 138 ff. sowie van Ooyen, Der Staat der Moderne, S. 55 ff.
Vgl. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 45.
Ebd., S. 150; vgl. auch Kelsen, Über die Grenzen zwischen juristischer und soziologischer Methode, S. 27 ff.
Kelsen Allgemeine Staatslehre, S. 149.
Vgl. Baldus, Habsburgian Multiethnicity and the „Unity of the State“, S. 13 ff.
Zitiert nach Métall, Hans Kelsen, S. 42.
Benzler bemerkt daher mit Blick auf Fraenkel richtig, dass „der Klassengegensatz nicht die einzige Entfremdungs-und Differenzerfahrung“ sei, die den „Weg für die Erweiterung seiner Überlegungen... hin zur Theorie des (Neo-) Pluralismus“ bereitete; Aufgeklärtes Staatsrecht — Ernst Fraenkel, S. 334.
Vgl. Aristoteles, Politik, Drittes Buch, S. 154 ff. (1274b–1276b).
Cicero, De re publica, S. 66 (Erstes Buch); „Was ist denn die Bürgerschaft, wenn nicht die Rechtsgemeinschaft der Bürger?“.
Kant, Die Metaphysik der Sitten, S. 169 (§ 45).
Marcic, Die Reine Staatslehre, S. 206.
Voegelin, Die Größe Max Webers, S. 86
Insoweit ist dieses Verständnis wohl typisch für den Positivismus überhaupt. Einschlägige Begriffsbestimmungen des Staats als „Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit“ finden sich ja vor allem bei Max Weber, vgl. z. B. Politik als Beruf, S. 506.
Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 9; vgl. auch Kelsen, Reine Rechtslehre.
Fraenkel, Akademische Erziehung und politische Berufe, S. 321.
Vgl. Schmitt, Legalität und Legitimität.
Kelsen, Staatsform und Weltanschauung, S. 23; vgl. hierzu Horst Dreier, Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, S. 231 ff; Hebeisen, Souveränität in Frage gestellt, S. 316; Lehnen, „Staatslehre ohne Staat“?; ausführlich van Ooyen, Der Staat der Moderne.
Walter, Diskussionsbeitrag, Weltanschauung in der Staatsform, S. 56 f.
Kelsen, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, S. 208
Marcic, Die Reine Staatslehre, S. 202.
Vgl. Bärsch, Lex vinculum societatis, S. 435 ff.
Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 45
So ist Luhmann zuzustimmen, dass ohne Zweifel die „Reine Rechtslehre“ hier am „weitesten und konsequentesten“ vorgedrungen ist, Legitimation durch Verfahren zu erzeugen; Legitimation durch Verfahren, S. 11.
Vgl. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 79 f.
Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Aufl., S. 15; vgl. auch schon Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, S. 482 ff.
Ideengeschichtlich findet diese Konzeption in der Moderne zweifellos eine urliberale Vorlage bei Adam Smith, wonach sich-wie von „unsichtbarer Hand-Wohlstand am besten realisiert, wenn nur jeder seine eigenen Interessen verfolgt (vgl. Der Wohlstand der Nationen). Bei Smith findet sich auch schon die Vorstellung einer fortschreitenden friedlichen Zivilisierung der arbeitsteilig differenzierten, bürgerlichen Gesellschaft; vgl. hierzu Prisching, Adam Smith und die Soziologie, S. 64 ff.; zur Fortschrittsidee und Zivilisierung bei Kelsen vgl. van Ooyen, Der Staat der Moderne, S. 79 ff.; zutreffend daher der kurze Verweis bei Marcic, dass auch Kelsen (und Radbruch) den „anthropologischen Kulturoptimismus“ voraussetzen (Gustav Radbruch und Hans Kelsen, S. 92); vgl. auch Jablo-ner, Menschenbild und Friedenssicherung, S. 57 ff, sowie ders., Legal Techniques and Theory of Civilization, S. 51 ff. Parallelen finden sich daher ebenso zwischen Kelsen und John Stuart Mill (vgl. auch Luthard, Politiktheoretische Aspekte im „Werk“ von Hans Kelsen, S. 159), dessen Menschenbild als vielleicht wichtigster Vertreter des englischen Liberalismus im 19. Jahrhundert genauso von diesen Prämissen ausging: Machttrieb des Menschen im Sinne von Gewaltsamkeit einerseits und zugleich die Sicherung der Freiheit des Individuums von Macht als dem zentralen Punkt seiner politischen Theorie andererseits. Auch Mill ist dem Linksliberalismus zuzuordnen und Positivist; auch für sein Verständnis von Freiheit und Demokratie sind Durchsetzung von egoistischen Interessen und Nützlichkeitserwägungen zentral. Mills politische Theorie ist jedoch noch viel stärker vom Fortschrittsglauben des 19. Jahrhunderts durchdrungen, vom Glauben an fortschreitende Entwicklung der „Zivilisation“ durch Rationalität.
Boldt, Demokratietheorie zwischen Rousseau und Schumpeter, S. 217 ff.
Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Aufl., S. 101. Die klassische Stelle bei Schumpeter im Kap. „Eine andere Theorie der Demokratie“ lautet: „Und wir definieren: Die demokratische Methode ist diejenige Ordnung zur Erreichung politischer Entscheidungen, bei welcher einzelne die Entscheidungsbefugnis vermittels eines Konkurrenzkampfs um die Stimmen des Volkes erwerben“; Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, S. 427 f.
Heller, Die Krisis der Staatslehre, S. 301.
So heißt es z. B. auch bei Richard Thoma, der Kelsens Kritik am tradierten Staatsbegriff ja teilweise zustimmt: „Und jedenfalls habe ich vorerst noch nicht begriffen, wieso der Staat und die Rechtsordnung, wie Kelsen lehrt, identisch sein sollen“; Der Begriff der modernen Demokratie in seinem Verhältnis zum Staatsbegriff, S. 56.
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(2006). Normative Staatslehre in pluralismustheoretischer Absicht: Hans Kelsens Verfassungstheorie der offenen Gesellschaft. In: Politik und Verfassung. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-90077-3_1
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