Auszug
Üblicherweise wird von der mit der „Logik des Industrialismus“ argumentierenden funktionalistischen Schule der Sozialpolitikforschung ein Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher und sozialpolitischer Entwicklung unterstellt: Erst ab einem bestimmten Niveau wirtschaftlicher „Reife“ entstehe staatliche Sozialpolitik, und ihr Ausbaugrad werde entscheidend von den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen determiniert (Zöllner 1963, Wilensky 1975, Schmidt 1997). Angesichts eines im langjährigen Durchschnitt geringen Wirtschaftswachstums und einer (nach Maastrichtkriterien seit 2002: zu) hohen Neuverschuldung scheinen die jüngeren Entwicklungen in der deutschen Familienpolitik auf den ersten Blick einen Widerspruch zu diesem theoretischen Zusammenhang zwischen Wirtschaftslage und Sozialpolitik darzustellen. Während die Reform von Erziehungsurlaub und Erziehungsgeld im Jahr 2000 „nur“ auf die Flexibilisierung bestehender Regelungen abzielte und dabei sogar noch Kosten einsparte1, erfolgte mit dem Tagesbetreuungsausbaugesetz (TAG) seit 2005 und mit dem ab 1.1.2007 eingeführten Elterngeld tatsächlich ein Ausbau familienpolitischer Leistungen. So steigt die Ausgabenlast durch die Umstellung vom alten Erziehungsauf das neue Elterngeld von 2,85 Mrd. Euro auf rund 4 Mrd. Euro pro Jahr (Müller-Heine 2006: 62), und für den im TAG angestrebten Ausbau der Kindertagesbetreuung für Kinder unter drei Jahren um 230.000 Plätze bis zum Jahr 2010 wurden 1,5 Mrd. Euro jährlich veranschlagt (BMFSFJ 2006a: 4).
Das neu eingeführte „Budget-Angebot“ stellte de facto für die Eltern eine Kürzung des maximal möglichen Erziehungsgeldbezugs um ein Viertel dar.
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© 2008 VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden
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Leitner, S. (2008). Ökonomische Funktionalität der Familienpolitik oder familienpolitische Funktionalisierung der Ökonomie?. In: Evers, A., Heinze, R.G. (eds) Sozialpolitik. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-90929-5_4
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