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Entwurf einer Gesellschaftstheorie der Zeit

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Die Zeit der Gesellschaft
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Auszug

Die Herausarbeitung einer tragfähigen und anspruchsvollen Theorie der sozialen Zeit ist mit der Diskussion phänomenologischer, sozialphänomenologischer, handlungstheoretischer und systemtheoretischer Überlegungen weitgehend abgeschlossen. Dazu war es notwendig, aufgrund der herausgearbeiteten Defizite phänomenologischer und pragmatischer Zeittheorien ein Instrumentarium herauszuarbeiten, das an die Erträge sowohl des einen als auch des anderen Ansatzes anzuschließen versteht. Dieses Instrumentarium meine ich, in dem in Anschluß an Niklas Luhmann explizierten systemtheoretischen Konzept sozialer (und psychischer) Zeit ausreichend erläutert zu haben.

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Literatur

  1. Ähnliche Formulierungen finden sich bei Berger/ Luckmann 1969: 43ff.; Tenbruck 1989: 45ff.; Hitzler 1988: 62ff.; Giesen 1991: 83ff.

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  2. Klassisch dazu vgl. Marx 1969: 99ff.

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  3. Paradigmatisch vgl. Weber 1972: 252.

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  4. So Hegels Phänomenologie des Geistes (vgl. Hegel 1970a).

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  5. So auch das Zeitverständnis von Elias’ Zivilisationstheorie (vgl. Elias 1980b: 316ff.).

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  6. Das widerspricht übrigens keineswegs der Einsteinschen Relativitätstheorie (vgl. meinen Exkurs in II.3a), denn die dort beobachtete Ungleichzeitigkeit resultiert ja gerade aus der Beobachterrelativität eines Beobachters, der in seiner umweltgenerierenden Beobachtung sehr wohl eine Gleichzeitigkeit konstituiert, die jedoch durch die Differenz der Inertialsysteme nicht gleichzeitig ist, was übrigens nur ein Beobachter sehen kann, nicht aber die beteiligten Systeme (so auch Luhmann 1984a: 254; anders Brandt 1992: 175).

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  7. Lévi-Strauss stellt differenzierte und ausführliche Überlegungen über die verschiedenen Formen reziproker Strukturen an, die von einfachen Symmetrien zwischen gleichen Elementen über diametrale Asymmetrien bis hin zu konzentrischen Strukturen reichen (vgl. dazu Lévi-Strauss 1967: v.a. 135–180). Dem komplexen Zusammenhang solcher unterschiedlicher Formen muß hier nicht nachgegangen werden.

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  8. Luhmann meint denn auch mit Recht, daß die Unterscheidung zyklisch/linear nur eine sekundäre Differenz ist, die für die operative Beschreibung von Zeit keinen Erkenntniswert besitzt (vgl. Luhmann 1990d: 112, Anm. 42). Allerdings ist zu betonen, daß diese Unterscheidung für die Frage der Zeitsemantik, also der sinnhaft begrifflichen Ebene der Temporalisierung von Komplexität, von eminenter Bedeutung ist.

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  9. Der hier angedeutete Sachverhalt der Reziprozität von Unterstützungspflichten deckt sich mit dem, was Emile Durkheim „mechanische Solidarität oder Solidarität aus Ähnlichkeiten“ (Durkheim 1988: 118ff.; Hervorh. A.N.) im Gegensatz zur „Solidarität, die sich der Arbeitsteilung verdankt (...), die organische Solidarität“ (ebd.: 162ff.; Hervorh. A.N.) nennt.

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  10. So auch Irving Hallowell bezüglich der Zeitrechnung der Pekangikum-Indianer (vgl. Hallowell 1939: 666).

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  11. Zum gleichen Befund gelangen auch Dux und seine Mitarbeiter bezüglich der Macu (Brasilien): „Die Bindung der Zeit an die zentrierte Handlungslogik in primitiven Gesellschaften ist Ausdruck einer Organisationskompetenz, in der es genügt, das Handlungsfeld unter dem Interesse einer vorherrschend verfolgten Handlung zu organisieren. Für die einfachen Handlungsziele dieser Gesellschaften reicht eine Organisationskompetenz hin, die in einem statischen Raum von begrenzter Reichweite die relevanten Daten des Handlungsfeldes dieser Handlung zuordnet.“ (Dux 1989: 255)

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  12. Dies läßt sich übrigens auch an der Vorstellung postmortaler Existenz verdeutlichen. So geht etwa — wie Malinowski aufgezeichnet hat (vgl. Malinowski 1973: 133–241) — die trobriandrische Vorstellung vom Leben nach dem Tode davon aus, daß das jenseitige Leben exakt nach den gleichen Strukturen aufgebaut ist wie das diesseitige. Keine individuelle Unsterblichkeit mit einer antizipierten Existenz in einer abstrakten Zukunft wird hier erwartet, sondern eine Wiederholung oder Fortsetzung des Lebens, letztlich also nichts anderes als die Kontinuität einer ereignisbezogenen sozialen und psychischen Zeit, deren Ereignisse bekannt sind (vgl. dazu ausführlich Nassehi/Weber 1989: 64ff.).

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  13. Auch dies gilt für die Annahme der postmortalen Existenz, die in der mythischen Welt nur so lange währen kann, als noch jemand anwesend ist, der den Verstorbenen kannte (vgl. dazu Nassehi/ Weber 1989: 71ff.).

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  14. Angesichts dieser Diagnose erstaunt eine breite Diskussion über die Reaktualisierbarkeit von Mythemen und ihrer Funktion in der Moderne. Auch wenn man sich’ wie Leszek Kolakowski’ vom Mythos ein Gegengewicht gegen die analytische Vernunft der Moderne erhofft (vgl. Kolakowski 1984: 148), wenn man’ wie Hans Blumenberg’ einen „rettungswürdigen Kern des Mythos“ (Blumenberg 1971: 62) postuliert oder wenn man’ wie Odo Marquard’ betont: „narrare necesse est“ (Marquard 1981: 95), so befindet man sich schon nicht mehr in mythischen Gesellschaftsstrukturen. Mythen dienen dann womöglich nur noch dazu, kompensatorisch die „Entzweiungen“ der Moderne durch Rekurs auf Ganzheitschiffren zu verdecken (vgl. Eickelpasch 1991: 47f., Anm. 7). Wie dem auch sei: Ob monothematische Beobachtungsschemata in der Moderne überhaupt die Funktion einer Repräsentation der Welt im Ganzen erfüllen können, scheint eher zweifelhaft (vgl. auch Luhmann 1987c: 263ff.). Ähnliche Zweifel scheinen die Entmythologisierungsdebatte um die neutestamentliche Verkündigung im Anschluß an Rudolf Bultmann zu tragen (vgl. Bultmann 1960: 15ff.). Ebenfalls in einem theologischen Kontext warnt etwa Paul Tillich vor der Restitution des Mythos in der Moderne, da dies notwendig mit gewaltsamer Durchsetzung einer nicht mehr bestehenden Monokontexturalität der Welt einhergehen müsse (vgl. Tillich 1962).

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  15. Diese strukturelle Gleichartigkeit von Logik und Mythik betont auch Hübner 1981: 13ff. und 1985: 267.

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  16. Der Mythos als Leitunterscheidung eines einfachen Gesellschaftssystems autoontologisiert sozusagen das, was er als Welt anbietet (vgl. III.3b). Oder in den Worten Eliades: „Der Mythos verkündet das Erscheinen einer neuen kosmischen ‚Situation ‘oder eines primordialen Ereignisses. Er ist also immer der Bericht einer ‚Schöpfung‘: man erzählt, wie etwas ausgeführt wurde, wie es zu sein begann. Aus diesem Grund steht der Mythos in engem Zusammenhang mit der Ontologie: er spricht von Realitäten, von dem, was sich real ereignet, sich voll und ganz manifestiert hat.“ (Eliade 1984: 85).

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  17. Kurt Hübner bringt die Kombination von Synchronie und Diachronie des Mythos treffend auf den Begriff arché. Archai benennen sowohl ein berichtetes Geschehen vom Anfang der Welt als auch den Anfang aller Bedeutung und allen Sinns (vgl. Hübner 1985: 135ff.).

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  18. Zur Gesellschaftsstruktur Altägyptens vgl. Wolf 1962: 118ff. und IV.2b.

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  19. Bei Berger und Luckmann findet man das schöne Bild einer Bewegung zwischen zwei Extremen: zwischen einer Gesellschaft, in der es nur gemeinsame Probleme gibt und einer Gesellschaft, die nur ein gemeinsames Problem hat. Berger und Luckmann definieren sozio-kulturelle Evolution als ständige Wegbewegung vom ersten in Richtung des zweiten Typs (vgl. Berger/ Luckmann 1969: 84f.).

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  20. So ist ein Manko sogenannter „alternativer“ Wirtschaftsbetriebe, in denen möglichst alle möglichst alles können sollen und in denen unterschiedliche Entscheidungen möglichst von allen getroffen werden, daß sie mit der üblichen Wochenarbeitszeit nicht auskommen können. Es fehlt hier offenbar die komplexitätsreduzierende und-erhöhende Ermöglichung der Gleichzeitigkeit von Unterschiedlichem durch Differenzierung der Sozialdimension (vgl. Jacobs 1987: passim, insb. 176ff.). Ähnliches gilt auch für zeitraubende Entscheidungsprozesse in sogenannten basisdemokratischen politischen Organisationen. Die Frage, die sich dabei stellt, ist aber, ob die Differenz in ungleiche Teilsysteme notwendig nach dem Hierarchieschema erfolgen muß oder ob nicht auch andere Differenzierungen in der Sozialdimension möglich sind.

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  21. Es sei ein Sachverhalt erwähnt, der für den Argumentationsduktus nicht entscheidend ist, jedoch die systemstabilisierende Funktion von Schichtung unterstreicht: Die Differenz oben/unten ist, genau genommen, eine durch theoretische Beobachtung gewonnene Abstraktion, denn sie suggeriert eine Binarität von Ungleichheiten, die historisch jedoch zumeist trinär organisiert war, wie die soeben zitierte Einteilung bei Giesen zeigt. Das ist sicher kein Zufall, denn unter funktionalen Gesichtspunkten bietet die trinäre Einteilung einen erheblichen Stabilitätsvorteil gegenüber der binären. „Besteht die soziale Struktur aus einer vertikalen Anordnung von Personen oder Gruppen, die als gesellschaftliche ‚Rangfolge ‘verstanden wird, dann gewährt erst der Übergang von dichotomen zu trinären Strukturen eine gewisse Ruhe und Stabilität.“ (Giesen 1991: 34) Dies ist insofern plausibel, als das Auftreten Dritter zum einen als Kontrollinstanz, zum anderen als Verhinderung der Gefahr des Umkippens der Struktur in die andere Richtung erfolgt. Insofern ist das Auftreten von Trinarität in der Tat, so Giesen, als „Übergang von der Gewaltherrschaft zu sozialer Ordnung“ (ebd.) zu werten. Ähnlich deutet Luhmann das Auftreten einer „middle class“ als einen Stabilisator moderner Strukturen, der den Klassenkonflikt von „Kapital“ und „Arbeit“ in der politischen Semantik entschärft (vgl. Luhmann 1985b: 124).

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  22. Bei Luhmann heißt es dementsprechend: „Religion hat demnach die Funktion, die an sich kontingente Selektivität gesellschaftlicher Strukturen und Weltentwürfe tragbar zu machen, das heißt ihre Kontingenz zu chiffrieren und motivfähig zu interpretieren.“ (Luhmann 1972: 250f.) Zu Luhmanns Religionssoziologie, auf deren soziologische und theologische Kritik ich hier nicht näher einzugehen brauche, vgl. Mörth 1978: 84–88; Scholz 1981: 83–166; Schöfthaler 1983: 136 sowie die einschlägigen Beiträge in Welker (Hg.) 1985.

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  23. Luhmann benutzt diese Unterscheidung auch zur differenztheoretischen Rekonstruktion des Lebensweltbegriffs (vgl. Luhmann 1986c: 180ff.). Dort bezeichnet sie die Kontextur, die’ im Sinne eines re-entry’ die Unterscheidung vertraut/unvertraut vertraut macht und so die Lebenswelt zum vertrauten Ort des Lebens werden läßt.

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  24. Ähnliches impliziert Peter Bergers Funktionsbestimmung der Religion als Feind des Unvertrauten: „In allen ihren Manifestationen ist Religion eine gigantische Projektion menschlicher Sinnhaftigkeit in die öde Leere des Universums’ eine Projektion freilich, die als fremde Wirklichkeit in die Menschenwelt zurückkehrt und ihre Hervorbringer (wiederum als Unvertrautes!; A.N.) heimsucht.“ (Berger 1973: 97) — und die von religiöser Kommunikation niemals als Projektion verstanden werden darf, weil dann die Vertraut/unvertraut-Differenz notwendig zur anderen Seite hin asymmetrisiert würde. Aus diesem Grunde richten stratifizierte Gesellschaften rigide Instanzen zur Verhinderung von Kontingenzgefahr ein, um die Macht der Verwalter der Weltselektivität zu sichern, wie etwa das Beispiel der Heiligen Inquisition zeigt.

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  25. In diesem Sinne bemerkt Jan Assmann gegen die Vorstellung einer Heiligung von außen: „Ich gehe vielmehr aus vom Primat der heiligen Handlung und der in ihr verankerten kollektiven religiösen Erfahrung. Die Riten sind älter als die Götter. Erfahrungen und Erlebnisse sind nur möglich innerhalb und außerhalb des Sinnhorizontes von Handeln, sie setzen ihn voraus, auch wo sie ihn transzendieren. In der phänomenologischen Perspektive beschreibt man die religiöse Handlung als ‚Antwort ‘des Menschen auf den ‚vorgängigen ‘Anstoß des Heiligen. Damit stellt man sich auf den Innenstandpunkt des Handelnden und bezieht sich auf das Eigenverständnis der Kultur.“ (Assmann 1984: 15) Assmann meint dagegen, daß ein Außenstandpunkt, i.e. eine Beobachtung mit anderen Unterscheidungen, zu anderen Ergebnissen mit womöglich größerer Tiefenschärfe gelangt als die Binnenperspektive.

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  26. Auch wenn die Formulierung homo religiosus zunächst den Anschein einer anthropozentrisierenden Position erweckt, setzt sich Eliade eindeutig vom „klassischen Religionsbegriff“ des frühen 20. Jahrhunderts, wie er etwa von Otto (1963) geprägt wurde, ab. Er konzediert’ wenn auch mit einem gewissen trauerndem Verzichtsgestus-, daß die Universalität und gesellschaftliche Totalität der religiösen Weltdeutung ein Phänomen ist, das mit den gesellschaftsstrukturellen Veränderungen der Neuzeit zu Ende geht (vgl. Eliade 1984: 175). Er reflektiert damit weniger auf den substantiellen Aspekt der Bestimmung des Religiösen als auf ihre soziale Natur.

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  27. Vgl. dazu Max Webers Ausführungen zur Entstehung von Virtuosenreligiosität, Weber 1972: 259ff.

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  28. Assmann weist’ mit Recht’ darauf hin, daß diese Vorstellung nicht „dem Wissen des altägyptischen ‚Mannes auf der Straße‘“ entspricht, sondern eher ein Proprium der „‚Weltbild-Spezialisten‘, der Priester“ (Assmann 1983: 207) ist. Trotzdem, nein: gerade deshalb repräsentiert dieses Verständnis den Zentralmythos der gesellschaftlichen Bewältigung der Dynamik in jeder autopoietischen Stabilität.

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  29. Ausführlich zum Osiris-Mythos vgl. Assmann 1984: 149.

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  30. In diesem Kontext ist etwa die Mumifizierungsbestattung zu sehen, die mit einer ausgeklügelten Technik den Zustand des just Gestorbenen „auf ewig“ konserviert, um die Perfektivität des vom neheh zum djet Übergegangenen symbolisch darzustellen. Darin, wie Wendorff, ein „Bollwerk im Strom“ oder einen „stumme(n) Protest gegen Zeit oder vielmehr gegen das, was durch Zeit ermöglicht werden könnte: Änderung, Neuerung, Entwicklung“ (Wendorff 1985: 41) zu sehen, ist gewiß nicht falsch. Jedoch verdankt sich eine solche Einschätzung m.E. einer zu sehr aufs moderne Zeitverständnis pochenden Perspektive. Denn nicht Protest „gegen die Zeit“ symbolisiert die „Verewigung“ des zu Osiris gewordenen Pharaos. Vielmehr symbolisiert gerade dieses Bollwerk die Zeit, indem es „die Zeit“ des Nacheinanders der innerweltlichen Handlungen paradoxieverhindernd unsichtbar macht.

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  31. Analog dazu vgl. die Ausführungen zu den unterschiedlichen klassisch-hellenischen und jüdisch-christlichen Vorstellungen postmortaler Existenzformen in Nassehi/ Weber 1989: 108ff.

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  32. Hinweise dazu finden sich bei Gräßer 1977 und Klein 1982.

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  33. Naherwartungen der Parusie hat es immer wieder gegeben, und das nicht nur im Urchristentum der ersten ca. 15 Dekaden (vgl. Klein 1982: 274ff. und 295ff.). So werden im gesamten Hochmittelalter immer Berechnungen über das Weltende, die Geburt des Antichristen und die Erlösung durch das Jüngste Gericht angestellt (vgl. Lerner 1982: 305f.). Und selbst bei Luther findet man die Erwartung, „daß der Tag nicht weit sei, und wir wollen ihn noch erleben“ (zit. n. Wendorff 1985: 167).

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  34. Eine im Vergleich zu der hier vertretenen Ansicht völlig konträre Position vertritt Hubert Cancik. Ihm ist es darum zu tun, die Annahme der Erfindung der linearen Geschichtsauffassung durch die jüdisch-christliche Eschatologie nicht dadurch zu widerlegen, daß auch sie letztlich keine Linearität der Geschichte kennt. Vielmehr versucht er den Nachweis zu führen, daß die dem jüdisch-christlichen Denken zugeschriebene Linearität der Geschichte viel älter ist, nämlich bereits hellenischen und römischen Quellen entstammt. Als Gewährsleute führt Cancik Diodor, den Autor einer Weltgeschichte vom Anfang der Welt bis zur Eroberung Galliens, Cicero, den Stoiker, der das wissenschaftliche Streben nach Erkenntnis mit metaphysischer Würde versah, worin Cancik eine Geschichtstheologie angelegt sieht, und schließlich Seneca, dessen Anleitung zur methodischen Nutzung der Lebenszeit auf eine gestaltbare Zukunft verweist (vgl. Cancik 1983: 257ff.), an. Auf den ersten Blick bestechen Canciks Argumente, die man zusätzlich dadurch bestätigt sehen könnte, daß etwa mit Herodot und Thukydides gemeinhin der Beginn der Geschichtsschreibung als Ausdruck eines entstehenden historischen Bewußtseins angesetzt wird (vgl. etwa Whitrow 1991: 76f.). Dem ist zunächst nicht zu widersprechen. Jene Form der Geschichtsschreibung scheint in der Tat schon über die bloße Datierbarkeit von Vergangenem anhand exzeptioneller Ereignisse, wie sie Evans-Pritchard bei den Nuer aufgezeigt hat (vgl. IV.2a), hinauszugehen. Sie bleibt aber, wie Dux’ Analyse von Herodots Historiographie zeigt, immer noch stark an die Handlungslogik konkreter Ereignisse gebunden, ohne eine abstrakte historische Zeit zu kennen. Dux macht dies v.a. daran fest, daß Herodot Datierungen stets anhand von Herrschaftsverläufen oder anhand von damit in Verbindung stehenden Ereignissen vornimmt’ sicher auch heute nichts Ungewöhnliches, aber damals die einzige Form der historischen Datierung (vgl. Dux 1989: 279). Gerade die Datierung anhand von Regentschaften aber scheint mir ein weiteres Indiz dafür zu sein, daß es der antiken Geschichtsschreibung viel weniger um historische Chronologie, um Entwicklungslogiken oder gar um Kontingenzbewältigung des Geschichtsverlaufs geht. Im Vordergrund scheint vielmehr der Versuch zu stehen, die Wahrung der Kontinuität angesichts des Wandels einer Welt zu sichern, die wie die vorchristliche griechisch-römische Welt bereits zu einer ungeheuren Organisationsvielfalt, zu einem erheblichen Differenzierungsgrad und zur Notwendigkeit der Synchronisation von vielfältigen Systemgeschichten über lokale Grenzen hinweg gefunden hat, in der es zwar schon Geschichtsbedarf, Fortschritt der Wissenschaften und methodische Lebensführung gab, was man jedoch nicht mit historischem Bewußtsein i.e.S. verwechseln darf (vgl. auch Koselleck 1989: 135).

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  35. Zum gleichen Befund der eher handlungslogischen als abstrakten Zeitform der jüdisch-christlichen Heilsgeschichte kommt auch Giesen 1991: 67.

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  36. Paradigmatisch kommt dies bei Thomas von Aquin zum Ausdruck, der den — sowohl klerikalen als auch weltlichen — Stand eines Menschen als Ausdruck von Gottes Willen ansieht, dem man sich zu beugen hat (vgl. summ. theol., Bd. 24: 3f.). Durch seinen Stand steht der Mensch auf seinem Platz innerhalb der Ordnung, deren hierarchische Grundform Thomas darin zum Ausdruck kommen läßt, daß er den Menschen anhält, „daß er sein Haupt nach oben richtet“ (ebd.: 5), d.h. sich gehorsam gegenüber dem Stande über ihm zu verhalten hat. Um die Stabilität der hierarchischen Ordnung zu betonen, begründet Thomas die unhintergehbare Unterschiedlichkeit der Stände mit der unterschiedlichen qualitativen Ausstattung der Menschen, die sie zwar selbsttätig entfalten müssen, deren Substanz aber auf ihre Geschöpflichkeit zurückgeht (vgl. ebd.: 243f.).

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  37. Vor diesem Hintergrund ist etwa die Ablehnung chiliastischer Ideen, wie sie am prominentesten von Joachim von Fiore entwickelt wurden (vgl. Taubes 1947: 81f. und 90ff.), durch die Scholastik zu bewerten. Die chiliastische Prophezeiung einer innerweltlichen, also historischen Ankunft eines Friedensreiches auf Erden, das eine radikale Strukturänderung der Welt und damit ein dem mittelalterlichen Kosmos diametral entgegengesetztes Zeitbewußtsein impliziert, verwirft etwa Thomas von Aquin als Häresie. Mit diesem innerweltlichen Entwicklungsgedanken würde die Konstanz und Unwandelbarkeit der Wahrheit und’ damit einhergehend’ die Stabilität der sozialen Positionierung ins Wanken geraten (vgl. dazu Konrad 1981: 735).

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  38. Das bedeutet nicht, daß es nicht womöglich unterschiedliche standesinterne Zeithandhabungen gegeben habe. Wie etwa Elias zeigt, hat sich in den Oberschichten bereits relativ früh ein „Zwang zur Langsicht“ und damit eine gewisse Handlungskompetenz entwickelt, die ein ganz anderes Zeitverständnis als in den unteren Schichten erforderte (vgl. Elias 1980b: 336ff.). Ähnliches gilt, wie dargestellt, für Kleriker. Aus diesen Differenzen ergibt sich allerdings explizit noch kein abstrakter temporaler Abstimmungsbedarf.

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  39. LeGoff betont, daß die Übernahme der technischen Möglichkeiten der Zeitmessung und-handhabung durch außerreligiöse Kommunikation keineswegs ohne Widerspruch blieb: „Der Hauptvorwurf gegen die Händler war, daß ihr Gewinn eine Hypothek auf die Zeit voraussetzt, die allein Gott gehört.“ (Le-Goff 1977: 393) Mit diesem Streit jedoch, der die Differenz zwischen tempus und aeternitas als Streit zwischen Religion und Welt stilisierte, konnte Zeit — zwar noch in sehr begrenztem Maße — als Dimension der Welt erlebt werden, die dem handelnden Zugriff des Menschen und nicht der ewigkeitsspendenden Schöpfung Gottes zugerechnet werden konnte.

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  40. So berichtet etwa Sylvia L. Thrupp von solchen Anstrengungen aus dem 12. und 13. Jahrhundert, in dem etwa im Städte-und Kirchenbau die Koordination einer großen Zahl von Arbeitskräften mit einer gewissen Formalisierung der Arbeitsbeziehungen einhergeht (vgl. Thrupp 1978: 155f.; vgl. auch Hohn 1984: 105ff.).

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  41. Elias nennt dies treffend eine „Dämpfung der Triebe“ und „Psychologisierung“ des Umgangs (vgl. Elias 1980b: 369ff.).

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  42. Schon Assmanns Beschreibung der altägyptischen Religion verweist durch Herausbildung von Sakralrollen auf die Ausdifferenzierung der Religion (vgl. Assmann 1984: 9ff.).

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  43. Das Gesagte gilt z.B. für Samuel Pufendorfs theologische Begründung des Naturrechts (vgl. Zippelius 1980: 125). Mutatis mutandis wird die theologische Begründungsfigur durch einen Vernunftbegriff ersetzt, der den Staat in der aufklärerischen Philosophie von Kant über Fichte bis Hegel philosophisch begründet, bzw. durch einen Naturbegriff, wie er bei Rousseau gebraucht wird.

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  44. Dieser Sachverhalt deckt sich mit dem von Norbert Elias beschriebenen Wandel von zeitlich und räumlich kurzen Handlungsketten zu einer „Ausbreitung des Zwangs zur Langsicht“ (Elias 1980b: 336ff.) in den europäischen Oberschichten seit dem Ende des Mittelalters.

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  45. Konträr dazu, ausschließlich die semantische Oberflächenstruktur berücksichtigend, Schmied 1985: 159.

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  46. Friedrich H. Tenbruck bringt diesen Vorgang der auf sich selbst bezogenen Entwicklungsdynamik moderner Wirklichkeitsauffassungen auf den Begriff der „Verselbständigung der Kultur“ und analysiert unter diesem Stichwort die Entkoppelung der verschiedenen kulturellen Träger voneinander, v.a. bezogen auf Wissenschaft und Religion (vgl. Tenbruck 1989: 80ff. et passim).

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  47. Gerade angesichts der Ersetzung des religiös formierten Rangfolgecodes durch abstrakte Normativität, Recht und universalistische Begründungen spricht Giesen im Zusammenhang mit der Epochenschwelle zur Moderne von einer Strukturtransformation zum normativen Code und zur Universalisierung (vgl. Giesen 1991: 38ff.).

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  48. Nicht in einer allgemeinen Geschichtsteleologie sieht Kant den Grund und die Bedingung historischen Fortschritts, sondern in der Allgemeinheit der reinen praktischen Vernunft und ihrem Gebrauch (vgl. Preisfrage: 647).

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  49. Auch dieses Motiv findet man schon bei Montaigne, versehen mit einem moralischen Motiv, wenn er über sich als Bürgermeister von Bordeaux schreibt: „Der Herr Bürgermeister und der Herr Montaigne sind immer zweierlei gewesen, sauber geschieden.“ (Montaigne 1969: 347)

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  50. Die Modernität des Konzeptes Mensch betont Michel Foucault, der den Menschen für eine Erfindung der Humanwissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts hält (vgl. Foucault 1980: 413ff.) und zugleich mit dem Ende des humanistischen Zeitalters auch das Ende des Menschen diagnostiziert. Zur Entwicklung der philosophischen Semantik der Anthropologie vgl. Marquard 1971: 362ff.

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  51. Vgl. dazu ausführlich Nassehi 1990: 261ff. und, bezogen auf eine ethnische Minderheit, nämlich die Siebenbürger Sachsen als deutsche Minderheit in Rumänien, Nassehi/Weber 1990b: 249ff. Zur semantischen Karriere des „Volks“-Begriffs vgl. Hoffmann 1991: 191ff.

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  52. Allein, Marx und Engels beklagen diese Ungleichzeitigkeit nicht, sondern sehen in ihr geradezu den Motor der Zeit, denn die Opposition des Ungleichzeitigen befördert die Entwicklung und hebt damit die Differenzen wieder auf. „Aber die Bourgeoisie hat nicht nur die Waffen geschmiedet, die ihr den Tod bringen; sie hat auch die Männer gezeugt, die diese Waffen führen werden — die modernen Arbeiter, die Proletarier.“ (Marx/ Engels 1972: 468) Diese Postulierung der Einheit der Differenz nennt man bekanntlich Dialektik. Sie invisibilisiert die Paradoxie der Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen in der Zeit.

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  53. Als Beispiel läßt sich die am Modernisierungsparadigma abzulesende Ungleichzeitigkeit der Weltgesellschaft anführen, die sich an der Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Entwicklungsstandards von Weltregionen zeigt (vgl. dazu Nassehi 1991b: 356ff.).

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  54. Trotzdem werden auch von Protagonisten der Theorie funktionaler Differenzierung bisweilen Formulierungen gewählt, die eine Steuerung des Ganzen durch einen Teil des Ganzen nahelegen, so etwa Gunther Teubners These von der „Gesellschaftssteuerung durch reflexives Recht“ (Teubner 1989: 81ff.). Mit in diesen Zusammenhang gehört auch Richard Münchs auf Parsons rekurrierendes Interpenetrationskonzept, das wechselseitige Steuerung und Konditionierung der Teilsysteme voraussetzt (vgl. Münch 1991: passim, v.a. 135ff.). In letzter Konsequenz erhofft sich ein solches Konzept durch die Wechselseitigkeit der Interpenetration ein gemeinsames normatives Dach, das gesellschaftliche Kommunikation selbststeuernd auf systemeigene und umweltliche Faktoren reagieren läßt. Wie man sieht, kommt eine epistemologisch anders gebaute Theorie der modernen Gesellschaft zu einer anderen Beschreibung der Gesellschaft. Es stellt sich allerdings die Frage, ob das Interpenetrationskonzept tatsächlich empirisch gehaltvoll genug ist, denn die operative Differenz der Funktionscodes schließt es in der Moderne gerade aus, daß die Systeme ineinander eindringen und sich in Teilfunktionen substituieren und ergänzen lassen.

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  55. Deshalb sagt Luhmann: Am Anfang war kein Unrecht (vgl. Luhmann 1989e: 11f.).

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  56. Damit ist der Code eines Teilsystems sozusagen der „blinde Fleck“ des Systems, den man nicht beobachten kann (vgl. Luhmann 1988b: 17), ohne in Paradoxien der Selbstanwendung zu geraten (für die Wissenschaft vgl. Luhmann 1990a: 192).

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  57. Den Begriff entlehne ich von Giesen, der die Codierungen, die die jeweiligen funktionsspezifischen Räume abstecken, topologische Codes nennt (vgl. Giesen 1991: 21ff.).

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  58. „(...) der Code definiert die Einheit des Systems, er macht erkennbar, welche Operationen das System reproduzieren und welche nicht. Programme sind dagegen Strukturen, die in den Operationen des Systems mal verwendet, mal nicht verwendet werden. Programme können auch, anders als der Code, durch Operationen des Systems geändert werden. Man kann die Beziehung Code/Programm daher mit den Begriffen konstant/variabel formulieren (...)“ (Luhmann 1990a: 401f.)

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  59. Nur zur Erläuterung: Einschränkung heißt nicht Eingreifen in die operative Autonomie der Systeme. Lediglich die Umweltfaktoren können geändert werden, was das betroffene Teilsystem nicht determiniert, sondern lediglich dazu nötigt, nach Maßgabe eigener Unterscheidungen darauf operativ zu reagieren. Luhmann schlägt zur Beschreibung dieses Sachverhalts den Begriff Irritation vor. „Die wechselseitige Abhängigkeit wird herabgesetzt auf die Form wechselseitiger Irritation, die nur im jeweils irritierten System bemerkt und bearbeitet wird.“ (Luhmann 1990a: 36) Was also als Irritation registriert wird, entscheidet sich allein nach Maßgabe des irritierten Systems. Eine irritierende Intervention von außen ist damit ausgeschlossen.

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  60. Man kann darin — wenn man so will — ein affirmatives Verhältnis zur Welt sehen, aber nur dann, wenn man eine grundlegende Prämisse teilt, die einer solchen Diagnose zugrunde liegt: Die Theorie autopoietischer Systeme habe allein die Aufgabe, die Bedingungen für die Bestandserhaltung der bestehenden Strukturen anzugeben: „Unter dem Namen der Systemrationalität bekennt sich die als vernünftig liquidierte Vernunft zu genau dieser Funktion: sie ist das Ensemble der Ermöglichungsbedingungen für Systemerhaltung.“ (Habermas 1985b: 431; vgl. auch Ebeling 1987: 45) Dazu läßt sich nur sagen, daß dieser Vorwurf mit dem Paradigmenwechsel zur Theorie autopoietischer Systeme nicht mehr gelten kann. Die Parsonssche strukturell-funktionale Theorie hatte in der Tat noch die Bestandsfrage angesichts feststehender Strukturbedingungen in den Vordergrund gestellt. Die Theorie autopoietischer Systeme dagegen kann das Bestandsproblem in dieser Weise aufgrund der Temporalisierung der Systemelemente gar nicht mehr in dieser substantialistischen Weise fassen. „Es geht nicht mehr um eine Einheit mit bestimmten Eigenschaften, über deren Bestand oder Nichtbestand eine Gesamtentscheidung fällt; sondern es geht um Fortsetzung oder Abbrechen der Reproduktion von Elementen durch ein relationales Arrangieren eben dieser Elemente. Erhaltung ist hier Erhaltung der Geschlossenheit und der Unaufhörlichkeit der Reproduktion von Elementen, die im Entstehen schon wieder verschwinden.“ (Luhmann 1984a: 86; vgl. auch die Unterscheidung von Struktur und Prozeß, III.2d) War für die erste Generation soziologischer Systemtheorie noch Instabilität und Strukturwandel der unwahrscheinlichere Fall, sind für die Theorie autopoietischer Systeme eher Stabilität und Bestand hochunwahrscheinlich. Eine per se affirmative Theorieanlage läßt sich aus diesem Ansatz sicher nicht begründen.

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  61. Georg Kneer reformuliert auf der Grundlage dieses Sachverhalts gesamtgesellschaftliche Rationalität nicht mehr als Einheitschiffre mit dem Ziel einer Konvergenz der Perspektiven, sondern als reziproke Handhabung der Differenz von Beobachtungsschemata. „Dazu muß aber der Begriff der gesamtgesellschaftlichen Rationalität (...) von Einheit auf Differenz, von ‚gesamtgesellschaftlich verbindlicher Regulierung eines zentralen Teilsystems‘ auf ‚rekursives Zusammenspiel vieler Teilsysteme‘ umgestellt werden.“ (Kneer 1992: 106) Womöglich wagt sich schon diese vorsichtige Formulierung zu weit vor, auch wenn Kneer das Problem selbst sieht: wer stellt um? Dies kann nur durch die Teilsysteme selbst geschehen, d.h. daß gesamtgesellschaftliche Rationalität durch die unabhängig voneinander auftretenden Voraussetzungen in den einzelnen Teilsystemen ein hochunwahrscheinlicher Zustand ist, der sich v.a. wechselseitig nicht kontrollieren läßt.

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  62. Am erfolgreichsten scheint gegenwärtig noch die Einheitssimulation durch nationale und ethnische Semantiken zu sein. Allerdings muß man sich davor hüten, im Erstarken solcher Konditionierungsformeln mehr Einheit zu erwarten, als sie unter Bedingungen funktionaler Differenzierung faktisch bereitzustellen in der Lage sind. Auch wenn ethnische Konflikte bis heute den Grund für bewaffnete Auseinandersetzungen liefern, sind solche sekundären Kollektivierungen heute weniger stabil als im 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die sich in Form von ethnischer Mobilisierung zeigende Renaissance nationaler Topoi ist, wie jede Form kollektiven Handelns in Gesellschaften mit hohem Individualitätsgrad, ein hochkontingentes und-unwahrscheinliches Geschehen. Luhmann spricht in diesem Zusammenhang von „zufälligen Prozessen der Häufung und Zersetzung von Engagements“, die eine „temporär starke, aber rasch wieder auflösbare Bindung“ (Luhmann 1989c: 255) zeitigen. Solche temporären Bindungen als Möglichkeitsbedingung für kollektive Bewegung treten in Form ethnischer Mobilisierung meist dann auf, wenn weder das ökonomische noch das Politik-oder Rechtssystem in der Lage sind, eine Generalinklusion der Gesellschaftsmitglieder sicherzustellen. Daß dies ausgerechnet anhand ethnischer/nationaler Folien geschieht, läßt sich damit erklären, daß ethnische Semantiken askriptive Merkmale in Form von Sprache, lokalen Sitten und historischen Zurechnungen über die gesamte Geschichte der Moderne gleichsam unter der Oberfläche mitgeführt haben. Damit ist jedoch keineswegs gesagt, ethnische Semantiken seien gleichsam ein vormoderner Nachklang in der Moderne (so etwa Esser 1988). Ganz im Gegenteil sind solche Topoi genuin moderne Erscheinungen, die seit der französischen Revolution diejenige Einheit simulieren, die gesellschaftsstrukturell ortlos geworden ist, die aber insbesondere während ökonomischer und politischer Strukturkrisen durchaus erheblichen Strukturwert mit zum Teil explosiven Folgen erlangen können (vgl. Nassehi 1990: 269ff.).

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  63. Zu den verschiedenen Techniken der Zeitmessung vgl. Landes 1983: passim. Bei Landes finden sich übrigens auch mannigfaltige Materialien über die Geschichte der Welt-und Uhrzeit, die selbstverständlich nicht im 20. Jahrhundert beginnt, sondern seit dem Beginn der Auflösung traditioneller Lebensformen funktional immer bedeutungsvoller wurde. Für meinen Argumentationszusammenhang spielt diese historische Dimension keine Rolle, so daß ich auf die einschlägige Literatur verweise (vgl. Wendorff 1985: passim; Schmied 1985: 66ff.; Whitrow 1991: 157ff.; Janich 1980: passim).

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  64. Nur um Mißverständnissen vorzubeugen: Wenn ich von Simulation spreche, meine ich keineswegs, es könne auch eine nicht simulierte, sozusagen substantiell eigentliche und wahre Einheit der Gesellschaft geben. Der Begriff Simulation meint lediglich, daß es offenbar eine Divergenz zwischen der gesellschaftsstrukturellen Verfassung des Nebeneinanders divergenter, nicht durch direkte Reziprozität aufeinander bezogener Ereignistemporalitäten und einer Einheitssemantik gibt, deren Sitz im Leben kaum Differenz zwischen den Funktionssystemen aus allen Perspektiven gleich zu codieren, wie dies die zentrale Semantisierung der Oben/unten-Differenz zu leisten vermochte. In der Moderne scheint man also von der Einheit der Differenzen auf die Differenz der Differenzen umschalten zu müssen (vgl. dazu Nassehi 1991a: 227).

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  65. Vgl. dazu unter dem Stichwort Individualisierung ausführlicher IV.5c. Was Habermas die Entkoppelung von System und Lebenswelt nennt, bildet den hier beschriebenen Sachverhalt ansatzweise ab (vgl. Habermas 1981b: 522). Während Habermas aber in einem Begriff kommunikativer Vernunft der Lebenswelt eine zumindest kontrafaktische Einheit unterstellt (vgl. Habermas 1988c), wird hier unter differenztheoretischen Gesichtspunkten die primäre Differenzierung der Gesellschaft an den Funktionssystemen festgemacht, die nur wegen ihrer stabilen, binären Codierungen — zumindest operativ — einheitsfähig sind. Das kann man von dem in der Umwelt der Teilsysteme stattfindenden kommunikativen Geschehen sicher nicht behaupten, denn was soll seine Einheit letztlich begründen?

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  66. Paradigmatisch für eine solche Auffassung ist, um nur einen Autor zu nennen, Auguste Comtes Dreistadiengesetz: Comte unterscheidet bekanntlich drei evolutionär aufeinander aufbauende theoretische Zustände: „den theologischen oder fiktiven Zustand, den metaphysischen oder abstrakten und endlich den wissenschaftlichen oder positiven“ (Comte 1973: 74), in dem sich die Weltgeschichte erfüllt.

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  67. Einer der wirkungsvollsten Synchronisatoren in der modernen Gesellschaft sind ohne Zweifel die Massenmedien, die die Gleichzeitigkeit von Ereignis und Information geradezu erzwingen (vgl. Hömberg 1990: 5ff.). Hatte der Buchdruck in der Frühmoderne noch die Funktion, Informationen möglichst langlebig, speicherbar und distribuierbar zu machen (vgl. etwa Goody/Watt 1986: 63ff.), machen die elektronischen und die Printmedien der Moderne ihre Informationen gerade dadurch kurzlebig, daß sie ihre Zahl und Verfügbarkeit unüberschaubar erhöhen. Man kann heute alles wissen, und man kann deshalb letztlich nichts wissen, weil die ungeheure Zumutung informationeller Gleichzeitigkeit an kapazitative Grenzen stößt.

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  68. Die Formalisierung der Zeit und ihre Transformation in eine verrechenbare Größe wird zumeist als Ergebnis der Entwicklung des Kapitalismus angesehen: Der von seiner Tätigkeit entfremdete Arbeiter verkauft einen Teil seiner Lebenszeit, wobei seine Arbeitszeit zum einen Teil der Erwirtschaftung seines für seine Reproduktion notwendigen Einkommens dient, den Ertrag der restlichen Zeit verschlingt der Kapitalist als Mehrwert, indem er über die Zeit der Arbeit und des Arbeiters verfügt. Zeit wird so zum eigentlichen produktiven Quantum im Arbeitsprozeß. „(...) die Arbeit zählt nur noch nach ihrem Zeitmaß.“ Und der Kapitalist wacht darüber, „daß keine Zeit ohne Arbeit vergeudet wird. Er hat die Arbeitskraft für bestimmte Zeitfrist gekauft. Er hält darauf, das Seine zu haben.“ (Marx 1969: 210) Im Gefolge dieser von Marx beschriebenen Ökonomisierung der Zeit und Verzeitlichung der Ökonomie wird das moderne Zeitregime — also die Formalisierung, Quantifizierung und Homogenisierung der Zeit — oft als ausschließliches Ergebnis des Industriekapitalismus angesehen (für viele Belege vgl. Scharf 1988: 148ff.; Hohn 1984: 145ff.; Zoll 1988a: 72ff.). Diese Diagnose ist gewiß nicht falsch, sie verkürzt aber die gesamte Entwicklung auf die Entstehung von Industrie und Markt. Der beschriebene Sachverhalt einer Zeit des „Kapitalismus“ scheint vielmehr auf die Entwicklung einer abstrakten Zeit zu verweisen, die zur Koordination wirtschaftlicher und außerwirtschaftlicher Prozesse dient und so erst die Kapitalisierung der Zeit des Arbeitenden ermöglicht. Daß gerade im 19. Jahrhundert die Wirtschaft von besonderem Strukturwert für die gesellschaftliche Handhabung von Zeit war, ist damit selbstverständlich keineswegs bestritten.

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  69. Giddens spricht in diesem Zusammenhang treffend von „Zeitgeographie“ (Giddens 1988: 161).

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  70. Als Varianten der nicht beginnen könnenden Zukunft nennt Luhmann utopische und technologische Zukunftsvorstellungen. Die erste projiziert Hoffnungen und Befürchtungen in die Zukunft, die sie als gegenwärtige Zukunft behandelt: An den Zeichen der Gegenwart lassen sich die positiven/negativen Seiten des Zukünftigen bereits ablesen. Die zweite dagegen plant die Zukunft im Sinn zukünftiger Gegenwart: Eine rationale und methodisch kontrollierte Sukzession von Ereignissen produziert eine Zukunft nach logischem Kalkül (vgl. Luhmann 1990f: 132f.). Wenn man anhand dieser Unterscheidung der Handhabung von Zukunftshorizonten auch — so Luhmann — „die langweiligen Kontroversen marxistische vs. bürgerliche oder utopische vs. technokratische Theorie“ (ebd.: 144) ausfechten kann, so ist beiden doch die erhebliche temporale Dynamisierung der Welt gemeinsam. Um die Langweiligkeit noch zu verschärfen: Genau genommen, hat die technologische Variante der utopischen außerhalb der Theorie längst den Rang abgelaufen, und man sollte darin nicht utopische Untergangsvisionen bestätigt sehen, sondern nach funktionalen Äquivalenten für diese Debatte suchen; etwa: Wie lassen sich Risiken und Gefahren „technologisch“, also im Sinne einer Antizipation zukünftiger Gegenwart, abschätzen, und wie gehen „utopische“ Gehalte einer gegenwärtigen Zukunft in solche Abschätzungen ein? Zur Unterscheidung Risiko/Gefahr im Zusammenhang mit der Zeitsemantik vgl. IV.6b.

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  71. Mit dem hier explizierten Strukturrahmen der modernen Zeithandhabung ließe sich eine Forschung initiieren, die die Zeitstruktur der einzelnen funktionalen Teilsysteme, aber auch von anderen Sozialsystemen wie vor allem Organisationen zu untersuchen hätte. Es käme darauf an, die Eigenzeiten solcher Systeme im Hinblick auf ihre Synchronisation mit anderen Eigenzeiten zu untersuchen. Dies kann hier aus Raumgründen nicht weiter verfolgt werden, obwohl es letztlich zu den Desideraten einer Gesellschaftstheorie der Zeit gehört. Einige wenige Andeutungen über die Zeitstrukturen funktionaler Teilsysteme finden sich bei Nassehi/ Weber 1990a: 172ff. Auf die spezifischen Zeitstrukturen von Organisationen weisen Luhmann 1990d: 125ff., Giddens 1987a: 140ff. und Moore 1963: 161ff. hin.

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  72. Mit Recht weist Schmied in diesem Zusammenhang auf Habermas’ Evolutionsmodell von Legitimationsformen hin, das explizit von einer Ersetzung alter durch neue Strukturen ausgeht (vgl. Habermas 1976: 278).

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  73. So auch, wie Schmied selbst erwähnt, Rammstedt 1975: 49.

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  74. Arthur E. Imhof etwa zeigt, wie sehr Personen auch temporal gesehen in ihre sozialen Bezüge eingebettet sind. Seine folgenden Ausführungen beziehen sich auf die Nachfolgeregelung eines Hofes in Nordhessen, sie lassen sich aber ohne weiteres strukturell auch auf Nachfolgeregelungen „bei Hof“ anwenden. Strukturell sind Hof-und Dynastienfolge gleichartig. „Nicht der individuelle Johannes Hooss, geboren in diesem und gestorben in jenem Jahr, war jeweils das Entscheidende. Wichtig war vielmehr, daß stets ein Nachkomme Namens Johannes Hooss als Rollenträger bereitstand, um die Geschicke des Hofes während seiner physisch besten und sozial am stärksten integrierten Jahre zu lenken. Auf diese Weise war der Hof nicht bloß zehn oder zwanzig oder dreißig Jahre im Besitz von Johannes Hooss, sondern kontinuierlich während viereinhalb Jahrhunderten. Wahrlich eine erstaunliche Stabilität trotz unsicherer Lebensspannen! (...) Der individuelle Johannes lebte im kollektiven Johannes Hooss weiter. Es gab auch nicht das individuelle Lebenswerk, das mit der Übergabe oder dem Tod zu Ende gegangen wäre. Es gab nur eine mehr oder weniger gute Verwalterschaft des den einzelnen überdauernden Gesamtwerkes, in dessen Dienst man sich stellte. Heute, wo das Individuum und sein spezifisches Lebenswerk dagegen mehr zählt, geht dieses häufig mit ihm aber auch wieder zu Ende.“ (Imhof 1984: 188)

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  75. Mit dieser Unterscheidung reflektiert Schimank im Anschluß an Luhmann auf unterschiedliche Arten der Selbstreferenz des Bewußtseins (vgl. Schimank 1988: 57ff.), nämlich auf basale Selbstreferenz als grundlegende Form des Anschlusses von Ereignissen und auf reflexive Selbstreferenz als Beobachtung von Ereignisreihen als Prozeß (vgl. III.2c). Ähnliches bildet Alois Hahns Unterscheidung eines impliziten von einem expliziten Selbst ab (vgl. Hahn 1988: 92).

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  76. Stichweh macht vier Formen der Inklusion in funktional differenzierten Gesellschaften aus. Diese unterscheiden sich nach dem Bezugsproblem in der gesellschaftlichen Kommunikation: 1) Inklusion als professionelle Betreuung: Differenziert in Leistungs-und Publikumsrollen sind Personen als Professionelle oder Klienten in das Funktionssystem inkludiert, so etwa im Gesundheitssystem, Erziehungssystem, in Recht und Religion. Das unmittelbare Bezugsproblem ist die personale Umwelt des Gesellschaftssystems, etwa Patienten, Schüler etc. 2) Inklusion über Exit/Voice-Optionen: Hier werden Kommunikationen des Publikums nicht als individuelle Akte registriert, sondern quantitativ behandelt und angehäuft. Dies gilt für Zahlungen im Wirtschaftssystem, Meinungsäußerungen im politischen System, Meldungen in den Massenmedien, Stile in der Kunst etc. Als Bezugsproblem figuriert hier gesellschaftliche Kommunikation selbst, also etwa die Wiederherstellung von Zahlungsfähigkeit nach Zahlungen in der Wirtschaft. 3) Inklusion in wechselseitigen Leistungs-und Publikumsrollen: Dies ist die Inklusionsform in Familien und Liebesbeziehungen, in denen Personen ihr Handeln am Erleben des anderen orientieren und in denen spontane Rollenwechsel (Leistung vs. Publikum) stattfinden. Das Bezugsproblem ist die konkrete Personalität der beteiligten Personen selbst. 4) Indirekte Inklusion: Hier ist der Sonderfall des Wissenschaftssystems angesprochen. Zwar sind große Bevölkerungsanteile von der Verwissenschaftlichung von Erkenntnis betroffen, doch werden sie nie Klienten der Wissenschaft. Sie werden lediglich indirekt über das Erziehungssystem (Verwissenschaftlichung der Erziehung/Bildung) in die Wissenschaft inkludiert. (Vgl. Stichweh 1988b: 268–278) In diesen von Stichweh herausgearbeiteten Inklusionsformen kommt keine Inklusion in das Gesamtsystem vor. Die einzelnen Formen beschreiben nur Inklusionen in jeweilige Funktionssysteme der Gesellschaft. Deren Grenzen haben Individuen selbst zu transzendieren, indem sie die gleichzeitige Teilhabe an Kommunikationen, Handlungen und Operationen innerpsychisch und personal integrieren.

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  77. In ähnlicher Weise argumentiert Uwe Schimank mit seinem Konzept des „reflexiven Subjektivismus“, das auf die Selbstreferenz der Identitätsbildung in funktional differenzierten Gesellschaften abstellt (vgl. Schimank 1985: 447ff.).

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  78. Solche Neudeutungen der biographischen Wirklichkeit werden besonders dann relevant, wenn unerwartete Gegenwarten auftreten, in deren Horizont sich die Modalzeiten der Vergangenheit und Zukunft anders als vorher darstellen. Dies können — im Sinne kritischer Lebensereignisse (vgl. Filipp 1981: 7f.)-sowohl eher persönliche Ereignisse aus dem sozialen Nahbereich sein wie etwa Krankheit, Tod des Partners, religiöse Bekehrung etc. als auch gesamtgesellschaftlich unerwartete bzw. einschneidende Ereignisse wie Kriege, Konjunkturkrisen etc. (vgl. Schütze 1982: 589).

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  79. Auch Fritz Schütze spricht im Zusammenhang mit Lebensverläufen von Prozeßstrukturen, jedoch ohne den strukturellen Aspekt von Prozeßstrukturen von ihrem „tatsächlichen“ biographischen Erleben genau zu unterscheiden (vgl. Schütze 1981: 67ff.).

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  80. Prozeßstrukturen sind in der Lage, die Synchronisation von Gesellschaft und Bewußtsein in der Weise zu leisten, daß sie einzelne als Adressaten von Kommunikation behandeln und dies nicht nur in der Sozial-, sondern auch in der Zeitdimension leisten. Zur Beschreibung dieses Sachverhaltes schlägt Luhmann die Unterscheidung von Bewußtsein und Person vor. Bewußtsein ist als operativ geschlossenes System für Kommunikation intransparent und unzugänglich (vgl. III.1a und c), und trotzdem müssen Bewußtseinssysteme in der Kommunikation als Adressaten behandelt werden: als Personen. „Personen dienen der strukturellen Kopplung von psychischen und sozialen Systemen. Sie ermöglichen es den psychischen Systemen, am eigenen Selbst zu erfahren, mit welchen Einschränkungen im sozialen Verkehr gerechnet wird.“ (Luhmann 1991c: 174) Personen werden von psychischen Systemen verinnerlicht, um soziale Erwartungen als eigene Struktur beobachten zu können. Dieser für Sozialisationstheorien längst bekannte Sachverhalt wird so nur um den Aspekt der Unterscheidung von psychischen Operationen und operativen Einschränkungen durch die Sozialstruktur erweitert. Für diese Frage der temporalen Inklusion bedeutet dies: Nicht nur in der Sozial-, sondern auch in der Zeitdimension finden sich Bewußtseine als Personen vor, die durch das Erleben von Kommunikation nicht nur wissen, was von ihnen erwartet wird, sondern auch wann dies der Fall ist.

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  81. Eingehend wird diese Kopplung von Lebenszeit und sozialer Zeit als „Institutionalisierung des Lebenslaufs“ (vgl. Kohli 1985: 1ff.; vgl. auch Levy 1977; Mayer 1986: 163ff.; Meyer 1986: 199ff.) beschrieben, auf deren historische Entwicklung ich hier im einzelnen nicht einzugehen brauche.

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  82. Die Zahl materialer Analysen zu solchen Koppelungen ist inzwischen Legion. Ich verweise nur auf folgende Untersuchungen: Bezüglich Berufsbiographien vgl. Brose (Hg.) 1986; bezüglich Bildungsbiographien vgl. Meulemann 1990; bezüglich staatlicher und rechtlicher Einwirkungen auf Lebensverläufe vgl. Mayer/Müller 1989; bezüglich des Zusammenhangs von ökonomischer Krise und Lebensverlauf vgl. Elder 1974; bezüglich familialer Biographien vgl. Beck-Gernsheim 1983.

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  83. Die Kritik der modernen Gesellschaft stellt sich oftmals als Trauer um den Verlust identitätsspendender Sozialbezüge dar. Dieses gängige Motiv zieht sich von eher konservativen Modellen á la David Riesman — „The Lonely Crowd“ (Riesman 1958) — über liberale Modelle á la Peter Berger — „Das Unbehagen in der Modernität“ (Berger/Berger/Kellner 1975) — bis zu Oskar Negts und Alexander Kluges „Öffentlichkeit und Erfahrung“ (Negt/Kluge 1970). Auch Habermas’ Frage, ob die moderne Gesellschaft eine vernünftige Identität ausbilden könne, sowie seine Antwort: ja, aber nur diskursiv unter Angabe der prozeduralen Bedingungen ihrer Erlangung (vgl. Habermas 1976: 92ff.), gehört in diesen Kontext.

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  84. Ähnliches meint Heideggers Begriff „Geworfenheit des Daseins“ (vgl. Heidegger 1979: 175ff.).

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  85. Zu dieser sozialpolitischen Diskussion vgl. Rinderspacher 1984, Negt 1984; Negt 1988; Nowotny 1989; vor allem Hörning/Gerhardt/Michailow 1990.

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  86. So erst jüngst wieder, um nur ein Beispiel zu nennen, Hans Ebeling, dem es darum zu tun ist, am Beispiel der ästhetischen Moderne die Frage zu beantworten, „warum das Vernunftinteresse nicht preisgegeben werden kann“ (Ebeling 1989: 112) und warum es einer Disziplin bedarf, die den Grund der Differenz auslotet: die Philosophie. Sie „ist bei dieser Anstrengung ohne Konkurrenz, weil es gar nicht Aufgabe anderer Erkenntnis-, Handlungs-und Produktionsinstanzen ist, ihren gemeinsamen Grund zu ermitteln“ (ebd.: 173).

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  87. Was sich im Zuge der Reformation und der Säkularisierung der Gesellschaft in der Figur des deus absconditus niederschlägt, scheint sich in der Moderne mit dem Vernunftbegriff zu wiederholen. Die ratio abscondita ist folgerichtig hochabstrakt, formalisiert, von ihren Inhalten getrennt und nurmehr Bedingung einer Möglichkeit, über deren Möglichkeitsbedingung der Vernunftbegriff selbst keinen Aufschluß zu geben vermag. Auch hier ist Habermas' Bemühen um die Rettung der Einheit der Vernunft bei gleichzeitiger Anerkennung der Pluralität der Welt paradigmatisch für die aufklärerisch-vernunftphilosophische Version der Moderne. Habermas’ gesamtes Werk treibt mit dem Vernunftbegriff das, was man vormals mit dem Gottesbegriff getan hat: Er muß sich von der Welt entfernen, um nicht von der Pluralität absorbiert zu werden, und er muß in der Welt wieder aufgefunden werden, um nicht seine Potenz und seinen Stachel zu verlieren. Ob man dies eher auf dem Wege transzendentalpragmatischer oder empirisch-rekonstruktiver Ansätze erreicht, ist dann eine prozedurale Geschmacksfrage, über die sich trefflich streiten läßt. Vgl. dazu Karl-Otto Apel 1989: 15ff.

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  88. Ein ähnliches Motiv findet sich in Paul Virilios Theorie der Geschwindigkeit, der Dromologie, deren Leitmotiv darin besteht, in der Beschleunigung von Prozessen die quasi-natürliche Langsamkeit menschlicher Bedürfnisse bedroht zu sehen. „Wir können also behaupten, daß die Liquidation der Menschheit weitergeht und die Liquefaktion des Hafens (des Bahnhofs, des Flughafens) von einer Auslöschung des Reisenden beim Transport begleitet ist. Der Andere, das alter ego, wird nur noch je nach der mehr oder weniger großen Beständigkeit seines Images zur Kenntnis genommen; der Sozialpartner ist kein mit allen Rechten ausgestatteter ‚Gesellschafter’ mehr, sondern ein ‚Mensch auf Zeit’, dessen vorübergehende (politische oder kulturelle) Anwesenheit immer mehr schrumpft.“ (Virilio 1989: 51f.)

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  89. So auch Lichtblau 1991: 15ff.

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  90. Diese Phase neuer Euphorie ist v.a. mit einem Namen verbunden, nämlich mit Jürgen Habermas. Insbesondere seine Mitte der 70er Jahre angestellten Parallelisierungsversuche der Piagetschen Entwicklungspsychologie und der Evolution von Weltbildern (vgl. Habermas 1976: 62ff. und 93ff.) knüpft unmittelbar an die aufklärerische Tradition des Fortschrittsdenkens und — ein wenig überspitzt — der „Heiligung“ der säkularisierten historischen Zeit an. Das „unvollendete Projekt der Moderne“ (vgl. Habermas 1981c: 444ff.) strebt seiner Vollendung zu, das Medium dieser Vollendung ist die Entwicklungslogik der Geschichte.

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  91. Es soll nicht der Eindruck entstehen, Baudrillard strebe so etwas wie eine aufklärerische Perspektive mit universalistischem Gehalt an. Im Gegenteil: Er beklagt gerade, daß sich alle universalistischen Utopien erfüllt haben — aber anders als sie gemeint gewesen (vgl. Baudrillard 1985: 85; vgl. auch die treffende Deutung von Welsch 1987: 149ff.). Da sie sich aber erfüllt haben, gibt es nichts mehr, was zur Erfüllung noch ausstehen könnte, und das ist gleichbedeutend mit dem Ende der Notwendigkeit der Temporalisierung von Komplexität und damit mit dem Ende der Zeit.

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  92. Recht traditionell macht Lyotard dies insbesondere an der „ökonomischen Diskursart“ fest, die die Zeit in die ökonomischen Tauschbeziehungen eingliedert. Der Vorrang der Ökonomie nimmt sich die Zeit, die gebraucht wird, und entzieht sie somit anderen Diskursarten (vgl. Lyotard 1983: 286ff.).

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  93. Das Buch von Welsch (1987) bietet einen Überblick über die verschiedenen Ansätze, die sich postmodern nennen oder die im Kontext der Postmoderne-Debatte diskutiert werden. Neben der glänzenden Darstellung stellt Welsch ein eigenes Konzept vor, das bei ihm unter dem Titel einer „transversalen Vernunft“ firmiert (vgl. ebd.: 295ff.). Freilich scheint auch dieser Versuch vom beizenden Gift des Gegners zumindest gereizt zu sein, rekonstruiert es doch lediglich Lyotards Gerechtigkeitskonzeption auf einem anderen begrifflichen Hintergrund und mit größerem Vertrauen in die Potenz einer vernünftigen, i.e. gerechten Verbindung der Sprachspiele.

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  94. Man kann nur in einer Gegenwart und nur an einem Ort handeln. Systemtheoretisch gesprochen, sind demnach Handlungen in nicht-trivialen, i.e. nicht linearen Systemen für sich betrachtet triviale Handlungen, auch wenn sie systemische, vernetzte Wirkungen intendieren. Die Intention läßt sich aber gerade wegen der Nicht-Trivialität des Systems nicht durchhalten, so daß eine Steuerung solcher Syste me kaum möglich ist. Umgekehrt betrifft dies nicht nur intendierte Steuerungsversuche, sondern potentiell jedes triviale Ereignis in einem nicht-trivialen System, das nicht nur linear antizipierte Effekte erzeugt (vgl. dazu Perrow 1989: 70). Der hier beschriebene Sachverhalt deckt sich übrigens mit dem aus der Chaos-Forschung bekannten Phänomen der großen Wirkung kleinster Ursachen (grundlegend vgl. Briggs/Peat 1990).

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  95. Um nur ein kurioses Beispiel zu nennen: Gegen Windkraftwerke wird von Umweltschützern eingewandt, daß deren Flügel eine tödliche Falle für Vögel darstellen und daß die Kraftwerke sich nicht ins Landschaftsbild einfügen. Diese Risiken scheinen Kernkraftwerke in der Tat nicht zu besitzen. (Vgl. DER SPIEGEL Nr. 38, 1990: 79–81)

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  96. Auch der Ruf nach Fehlrfrundlichkeit (sic!) von Systemen (vgl. Weizsäcker/ Weizsäcker 1984: 167ff.) kann nur graduell, nicht aber kategorial wirken: Das Risiko des Risikos bleibt.

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  97. Einen ganzen Maßnahmenkatalog der Risiko/Gefahr-Handhabung in der Sozialdimension bietet Ulrich Becks Gegengifte an (vgl. Beck 1988).

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(2008). Entwurf einer Gesellschaftstheorie der Zeit. In: Die Zeit der Gesellschaft. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-91099-4_6

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