Über Neurosenlehre und Psychotherapie

Zusammenfassung

Unter Neurosen sind funktionelle Nervenleiden verstanden, die durch seelische Konflikte ausgelöst sind und unterhalten werden. Funktionell und neurotisch sind also nicht identische Begriffe: das Neurotische ist ein Sonderfall des Funktionellen. Die Kraftleitung zwischen pathogenem seelischem Konflikt und neurotischer Funktionsstörung ist die Affektivität, weswegen man von den Neurosen auch schon als von Affektstörungen oder Thymopathien gesprochen hat (L. Frank), fälschlicherweise, denn es gibt störende Auswirkungen von Affekten, die nicht als Neurosen angesprochen werden können, wie etwa Erbrechen aus Ekel, Herzklopfen aus Angst oder die psychopathischen Reaktionen, die reaktiven Depressionen, Erregungszustände, Haftreaktionen u. ä. Eine sehr klare Unterscheidung der Begriffe finden wir bei Hans Binder ¹. Ausgehend vom Begriff der Nervosität, der alle Fälle von funktioneller normwidriger krankhafter Reaktion und Entwicklung umfaßt, gleichgültig, ob die Integrationsstörungen vorwiegend vom Seelischen ausgehen oder in tieferen Lebensschichten, d. h. körpernäheren Organfunktionen wurzeln, spricht er von primär vegetativen Nervositäten und primär psychischen, bei welchen die nervösen funktionswidrigen Anreize nicht aus dem Gebiete der körperlichen Organfunktionen stammen, sondern aus dem Seelischen und nur durch sekundäre Ausstrahlungen Körperliches in Mitleidenschaft ziehen. Beide Gruppen unterteilt er in anlagebedingte und erworbene, die primärvegetativen in Neuropathien (M. Reichardt) und Neurasthenien, die primär psychischen in Psychopathien und Psychogenien. Die Psychogenien kommen nach ihm dadurch zustande, daß „besonders schädliche Umweltseinwirkungen seelische Erschütterungen und Zermürbungen und damit eine gewisse Schwächung des integrativenZusammenschlusses der Psyche nach sich ziehen“.