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Entsteht Sozialität im sinnhaften Zusammenwirken von Menschen?

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Soziologisch denken

Part of the book series: Studientexte zur Soziologie ((STSO))

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Zusammenfassung

Nicht nur die Frage nach den Eigenschaften der von der Soziologie als wichtiger Gegenstand wissenschaftlicher Forschung „entdeckten“ und systematisch thematisierten Gesellschaft bewegt die frühe Soziologie, auch die Frage danach, wie Menschen untereinander soziale Beziehungen eingehen können, wird immer deutlicher zu einem Auftrag der neuen Wissenschaft. Während im Mittelpunkt des zuerst genannten Themenkomplexes eher die erste klassische Grundfrage der Soziologie nach der Möglichkeit sozialer Ordnung steht, wird mit dem zweiten Thema primär die andere zentrale Grundfrage der Soziologie problematisiert, wie Individuen, obwohl die sich gegenseitig unbekannt sind, dennoch dauerhafte soziale Beziehungen miteinander eingehen können. Während die Frage nach der sozialen Ordnung eine Suche nach dem umfassenden Begriff zur Bezeichnung des Gegenstandes der Soziologie, also die Definition des Gesellschaftsbegriffs impliziert, geht es im Folgenden um eine klassische soziologische Denkrichtung, die von einem solchen Begriff zunächst einmal absieht und den Gegenstand der Soziologie eher in den einzelnen sozialen Beziehungen zwischen Individuen, die dann Akteure genannt werden, sucht.

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Notes

  1. 1.

    Dass Weber der Begründer der verstehenden Soziologie und damit einer wirkmächtigen Denkweise der Soziologie ist, wird allgemein nicht bestritten. Weber ist der Klassiker insbesondere der deutschen Soziologie, hier ist er mindestens auf gleich hoher Stufe wie Émile Durkheim angesiedelt, und darüber hinaus wirkt sein Werk in die verschiedenen Nachbardisziplinen der Soziologie hinein. Obwohl ich mich im Folgenden sehr ausführlich auf Webers Werk einlasse, das ich als wichtige Grundlage soziologischen Denkens sehe, kann ein umfassendes Verständnis der Soziologie Max Webers hier nicht geleistet werden. Ich verzichte beispielsweise auf eine Diskussion der „Werturteilsfreiheit“, lasse den Begriff des Charismas außen vor und diskutiere auch nicht die Herrschafts-, Rechts- und Bürokratie- bzw. Organisationssoziologie Max Webers. Aus der umfangreichen Sekundärliteratur zu Weber, die diese Lücken schließen kann, möchte ich hier nur das Buch von Hans-Peter Müller (vgl. 2007) hervorheben, welches das soziologische Denken Webers, das aufgrund der Pionierleistungen für die junge Wissenschaft Soziologie noch von einigen Brüchen und Inkonsistenzen gekennzeichnet ist, sehr dezidiert und umfassend nachzeichnet und in sinnvoller Weise systematisiert. Zum 150sten Geburtstag Webers im Jahr 2014 sind diverse Biografien erschienen, die zuweilen sehr unterhaltsam sind, weil das relativ kurze Leben Max Webers – er stirbt bereits 1920 im Alter von 56 Jahren – durch diverse Brüche, Besonderheiten und spezifische Lebenseinstellungen gekennzeichnet war, die ihn bis heute als charismatischen Wissenschaftler erscheinen lassen, der viele Intellektuelle seiner Zeit beeinflusst und gefördert hat.

  2. 2.

    An dieser Stelle und für die folgenden Abschnitte ergibt es durchaus Sinn, sich an die Definition der Soziologie durch Weber (vgl. 1980, S. 1) zu erinnern, die ich oben im dritten Abschnitt bereits zitiert hatte, um die Grundlagen des soziologischen Denkens allgemein zu bestimmen.

  3. 3.

    „Das Ziel der Betrachtung: ‚Verstehen‘, ist schließlich auch der Grund, weshalb die verstehende Soziologie … das Einzelindividuum und sein Handeln als unterste Einheit, als ihr ‚Atom‘ … behandelt“ (Weber 1988e, S. 439). Denn der Einzelne ist nach Weber (ebd.) „der einzige Träger sinnhaften Sichverhaltens“. Neuere soziologische Ansätze sehen nun gerade hierin, in dieser zentralen Aussage der verstehenden Soziologie, ihr entscheidendes Manko, weil damit letztlich festgeschrieben wird, dass Sozialität nur von einzelnen Individuen, also von Menschen ausgehen kann, was für die empirische Wirklichkeit allerdings nicht in dieser kategorialen Form gesagt werden kann.

  4. 4.

    Von vielen Kommentatoren des Textes wird behauptet, dass Weber dieses Gewirr der Beeinflussung zwischen Protestantismus und Wirtschaftsleben als „Wahlverwandtschaft“ (vgl. etwa Müller 2007, S. 86) bezeichnet habe, obwohl Weber (vgl. 1988b, S. 83) diesen wahrscheinlich von Goethes Romantitel adaptierten Begriff hier lediglich auf die Beziehung zwischen religiösem Glauben und Berufsethik bezieht.

  5. 5.

    In seinem „Kategorienaufsatz“ (vgl. Weber 1988e) grenzt er die verstehende Soziologie explizit von der Psychologie (vgl. ebd., S. 432 ff.) und der Rechtsdogmatik (vgl. ebd., S. 439 ff.) ab, indem er die Kategorien der verstehenden Soziologie definitorisch festlegt. Gerade die Psychologie ist als aufstrebende Wissenschaft dieser Zeit immer wieder erklärtes Ziel der Abgrenzung durch die frühen Soziologen, etwa auch durch Durkheim. Dabei betont Weber explizit, dass eine Abgrenzung gerade zur Psychologie nur gelingt, wenn sich die Soziologie im Kern als verstehende, interpretative Wissenschaft versteht, die die Sinndeutungen nicht allein aus der naturgegebenen Psyche des Menschen, sondern aus seiner Fähigkeit ableitet, die Welt mannigfaltig sinnhaft zu deuten.

  6. 6.

    Das hier präsentierte Argument zeigt im Übrigen, dass Weber „Rationalität“ als eine historische Ausprägung des Sinns fasst, die eben nicht zeitlos gegeben ist. Jede andere Interpretation würde die historische Herleitung des Begriffs der Rationalität in Webers Studie zum Kapitalismus (vgl. Weber 1988b) schlicht ignorieren. Weber kann nicht als Vertreter einer Theorie der rationalen Handlungswahl fehlinterpretiert werden, weil er Rationalität als eine wirkmächtige Kulturform der Gegenwart definiert, die nicht zeitlos gegeben, sondern historisch generiert ist. Jede andere Sicht von Webers idealtypischer Begriffsbildung wäre ein unangemessener Modellplatonismus, der Rationalität als eine zeitlose, erst durch die Aufklärung freigelegte Kategorie ansieht, was Weber nach meiner Einschätzung für soziologisch naiv halten würde.

  7. 7.

    Der wichtigste Bezugspunkt jeder Phänomenologie ist selbstredend Edmund Husserl, der in philosophischer Perspektive nach den transzendentalen Sinnformen sucht. Schütz schließt hier zwar an, geht aber mit Weber von den Sinnformen aus, die sich in der Wirklichkeit (mundan) konstituieren und verwendet zur Bezeichnung dieser den in der Soziologie sehr prominent werdenden Begriff der Lebenswelt, den er zwar von Husserls Transzendentalphänomenologie übernimmt, allerdings auf die soziale Wirklichkeit bezieht, sodass er von einem philosophischen zu einem soziologischen Begriff umgeformt wird (vgl. Hitzler und Eberle 2008, S. 112).

  8. 8.

    Dass die vollzogene Handlung nach Schütz eine eigene Qualität hat, wird heute vor allem von der soziologischen Praxistheorie mit anderen Begriffen neu formuliert. Hierbei geht es vor allem darum, dass die Praxis eine eigene Vollzugswirklichkeit darstellt, die niemals mit der Theorie über die Praxis verwechselt werden darf. Siehe zu diesem zentralen Argument der soziologischen Praxistheorie Hillebrandt (2014, S. 58 f. und 61 ff.).

  9. 9.

    Ähnlichkeiten zum symbolischen Interaktionismus nach George Herbert Mead lassen sich an dieser Stelle nicht übersehen, weil auch Mead, wie oben bereits gesagt, zwischen einem Ich („I“) und einem mich („me“) unterscheidet, um die gesellschaftliche Hervorbringung des Selbst hervorzuheben, die es den Einzelnen erst ermöglicht, mit anderen zusammenzuwirken. „Ego“ und „Alter-Ego“ zielen als Begriffe auf denselben Zusammenhang.

  10. 10.

    Interessant ist, dass Peter Berger und Thomas Luckmann (1980) in ihrem berühmt gewordenen Buch zur gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit Thesen aufstellen, die inzwischen zur allgemeinen Gewissheit der Soziologie gehören, sodass wir sie heute kaum noch hinterfragen und beim Lesen des Buches ständig feststellen, dass die Autoren einfach nur etwas ausdrücken, das alle wissen. Sieht man jedoch das Erscheinungsjahr des Buches – es erscheint erstmals im Jahr 1969 –, wird sehr schnell deutlich, dass Berger und Luckmann eine notwendige Bündelung des Kenntnisstandes der interpretativen Soziologie vorgenommen haben, die sich als ein vorläufiger Abschluss dieser soziologischen Denkweise verstehen lässt. Es empfiehlt sich daher sehr, dieses sehr gut geschriebene und gut verständliche Buch einmal als klassischen Text der Soziologie (neu) zu lesen.

  11. 11.

    Siehe zur Kritik an dieser Modernisierungstheorie Hillebrandt (2010).

  12. 12.

    Ein wenig hilflos scheint mir dagegen der aktuelle Versuch Hartmut Rosas (vgl. 2016, S. 633 ff.) zu sein, das kritische Potenzial der Soziologie über einen positiven Begriff der Resonanz zurückzugewinnen, denn wer sollte etwa problemlos bestimmen können, wann Resonanz gelingt und wann nicht, wann also eine „Weltbeziehung“ gelingt und wann nicht. Die Theorie der Anerkennung von Axel Honneth (vgl. erstmals 1992), auf die sich auch Rosa (vgl. 2016, S. 591 ff.) bezieht, ohne sie allerdings für ausreichend zu halten, was meiner Ansicht nach eine Fehleinschätzung ist, erscheint mir hier deutlich hilfreicher zu sein, weil sie es ermöglicht, Formen der Anerkennung in der Tradition der Aufklärung zu bestimmen, um dann die Verhältnisse und Situationen zu identifizieren, die diese Formen der Anerkennung verunmöglichen. Gerade die konsequente, weil immanente Haltung, die Honneth in seinen zahlreichen Schriften gegenüber der Tradition der Aufklärung und des hier entwickelten Freiheitsbegriffs einnimmt, scheint mir für eine kritische Theorie unerlässlich zu sein, was Hartmut Rosa mit dem lapidaren Hinweis darauf übersieht, dass die „Moderne“ eben eine „Resonanzkatastrophe“ (vgl. ebd., S. 517 ff.) verursacht habe – dass folglich vor der Moderne noch echte Resonanz geherrscht haben muss –, ohne dabei hinreichend genau zu sehen, dass ein Begriff der Resonanz erst in der Aufklärung überhaupt möglich wird. Auch Rosas relativ unreflektierte Verwendung des Begriffs „Moderne“ zur Bezeichnung der Gegenwartsgesellschaft ist eigentümlich anachronistisch angesichts der massenhaften berechtigten Kritik an den Ansprüchen auf westliche Hegemonie, die mit diesem Begriff unweigerlich verbunden sind.

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Hillebrandt, F. (2018). Entsteht Sozialität im sinnhaften Zusammenwirken von Menschen?. In: Soziologisch denken. Studientexte zur Soziologie. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-21048-9_5

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  • DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-658-21048-9_5

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  • Publisher Name: Springer VS, Wiesbaden

  • Print ISBN: 978-3-658-21047-2

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