Von intergouvernementalem Verhandeln zur deliberativen Politik: Gründe und Chancen für eine Konstitutionalisierung der europäischen Komitologie

Zusammenfassung

Die rechts- und politikwissenschaftliche Forschung auf dem Gebiet der gemeinschaftlichen Ausschüsse im allgemeinen und der Komitologie im besonderen hat in jüngster Zeit — dem augenscheinlich unaufhaltsamen Aufstieg ihres Gegenstandes entsprechende — Zuwachsraten zu verzeichnen.¹ Zu einer rechtlichen Beurteilung, die Juristen als „herrschende Meinung“, zu analytischen und praxeologischen Ansätzen, die Politologen als wegweisend apostrophieren und vorstellen könnten, erst recht: zu einem die beiden Disziplinen übergreifenden Konsens haben all diese Bemühungen nicht geführt. Das ist angesichts der Komplexität des Gegenstandes auch nicht zu erwarten. Auch unser Beitrag kann derart weitreichende Erwartungen nicht erfüllen. Er versucht vielmehr, das Dickicht komplexer Fragestellungen mit Hilfe einer Art Doppelstrategie zu lichten: Wir haben den Untersuchungsbereich — die Regulierung von Gesundheitsrisiken im Lebensmittelsektor — relativ eng umrissen, um ihn gehaltvoll beschreiben zu können; wir werden andererseits den auf den ersten Blick eher unscheinbaren Gegenstand theoretisch anspruchsvoll von verschiedenen Perspektiven aus beleuchten. Der gewählte Bereich bietet sich aus zwei Gründen an: Zum einen befindet sich der Lebensmittelsektor derzeit an einem Scheidepunkt, weil Marktentwicklungs-Interessen intensiver als je zuvor mit regulativen Anforderungen und dem Aufbau einer dementsprechenden europäisierten Regulierungsmaschinerie konfrontiert werden.² Zum anderen rangierte die „Vollendung“ des gemeinschaftlichen Lebensmittelmarktes schon lange so hoch auf der gemeinschaftlichen Tagesordnung, daß wir es hier tatsächlich mit einem legislativ weitgehend vollendetem Regelungsgefüge zu tun haben. „Vollendet“ i.S. von komplett: Der gesetzliche Rahmen ist derart vollständig, daß die regulative Politik sich jetzt auf seine „Durchführung“ konzentrieren kann.

Christian Joerges, Zentrum für Europäische Rechtspolitik, Bremen/Europäisches Hochschulinstitut, Florenz, und Jürgen Neyer, Zentrum für Europäische Rechtspolitik, Bremen. Die hier vorgelegte Studie entstand im Rahmen eines von der Volkswagen-Stiftung geförderten Forschungsvorhabens zur Regulierung von Produktrisiken im Europäischen Ausschußwesen (vgl. zum Projektdesign Joerges 1995). Wir sind deshalb unseren Bremer Kooperationspartnern Andreas Bäcker, Josef Falke und Sabine Schlacke, ebenso aber auch Rainer Schmalz-Bruns, Michelle Everson, Peter Hall, Fritz W. Scharpf, und Ellen Vos für ihre konstruktive Kritik an früheren Fassungen unserer Überlegungen zu Dank verpflichtet.