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Der Fremde als Vertrauter. Soziologische Beobachtungen zur Konstruktion von Identitäten und Differenzen

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Differenzierungsfolgen

Zusammenfassung

Es ist sicher keine Übertreibung zu behaupten, daß sich in Zeiten erheblicher Migrationszahlen und weltweiter sozialer Ungleichheit soziale Konflikte sowohl innerhalb als auch zwischen den ungleichen Regionen der Weltgesellschaft insbesondere in Gestalt des „Fremden“ niederschlagen. Das Problem des „Fremden“ dürfte auch in Zukunft eines der zentralen Themen kultureller Debatten, politischer Strategien und sozialer Konflikte sein. Wer aber ist ein „Fremder“? Was bezeichnet dieser Begriff, der in den gegenwärtigen politischen Debatten, aber auch in sozialwissenschaftlicher Literatur von allen Konfliktparteien allzu leichtfertig verwendet wird, wie der Diskurs über Gewalt gegen türkische Familien und schwarze Asylbewerber, über antisemitische Positionen und nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Asylrechtsdebatte zeigt? Ich vermute, daß die öffentliche Semantik des „Fremden“ — sowohl in ihrer skeptischen und xenophoben als auch in ihrer romantisch-xenophilen Variante — den Begriff mit einer ontologischen Würde ausstattet, die einer genaueren soziologischen Betrachtung nicht standhalten kann. Im folgenden soll deshalb die Rede von „den Fremden“ von einem soziologisch-theoretischen Blickwinkel her zunächst in Zweifel gezogen werden. Mich interessiert also die Frage, in welchen sozialen Strukturen und Prozessen Personen oder Personengruppen als fremd behandelt werden und — genauso entscheidend — in welchen nicht.

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Referenzen

  1. Neben Parsons war es vor allem George C. Homans’ Gruppensoziologie, die die normative Integration von Gruppen als Modell für die Gesellschaft als Ganze ansieht, um gesellschaftliche Kohäsion und Stabilität zu ermöglichen (vgl. Homans 1960: 431).

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  2. Die Perfidie Schmitts, für seine antisemitische Position ausgerechnet auf Georg Simmels Philosophie des Geldes und seine Soziologie des Fremden zurückgegriffen zu haben, zeigt der Aufsatz von Friedrich Balke (1992).

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  3. “An alien Unterscheidungen kondensieren Lebenswelten.” (Luhmann 1986: 186)

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  4. Soziobiologische Forschungen setzen hier an, um den biologischen Unterbau für komplexitätseinschränkende Wahrnehmungs- und Verhaltensschematisierung sowie für Gruppenbildungsprozesse herauszuarbeiten. So sehr sich diese Erkenntnisse mit soziologischen Forschungen über Strukturbildung, selektive Wahrnehmungsprozesse und die Organisation von Verhaltensdispositionen decken, so sehr sind m.E. Zweifel angebracht, ob sich ethnische Diskriminierung soziobiologisch begründen läßt — dafür scheinen mir die kulturellkonstruktivistischen Aspekte von Ethnie- und Gruppenbildungen zu voraussetzungsreich zu sein. Zu einem vorsichtigen Gebrauch soziobiologischer Kategorien vgl. Cornell 1995 und Flohr 1994.

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  5. Aus Platzgründen verzichte ich hier auf eine eingehendere Beschreibung jener politischen Funktionalisierung Fremder. Ich verweise lediglich auf die vielfältige Literatur über das Gastrecht bei den Griechen (vgl. Pitt-Rivers 1992: 34) und im Römischen Recht (vgl. Giaro 1991), auf die Funktion von Paria-Gruppen (vgl. Weber 1956: 536), auf das paulinische System christlichen Universalismus und Partikularismus (vgl. Kristeva 1990: 86ff.), auf die angstabsorbierende Funktion des Fremden im Mittelalter (vgl. Delumeau 1985: 185) sowie auf die frühneuzeitliche Form der Fremdenprivilegien (vgl. Hahn 1994; Laion 1991; Weber 1956: 614; Roeck 1993: 36f.; Coser 1972). Gemeinsam ist diesen Beispielen, daß Fremde hier stets “Stratifikationslücken” (Stichweh 1992: 306f.) ausgefüllt haben, die sich mit dem Komplexerwerden des feudalen und der Entstehung des absolutistischen Systems herausgebildet haben.

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  6. Vgl. nur Jürgen Habermas’ Rechtsphilosophie (vgl. Habermas 1992).

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  7. Vgl. zum Gesamtkomplex des Umgangs mit Fremden während und nach der Revolution Kristeva (1990: 169–183).

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  8. Hans Ulrich Wehler weist insbesondere auf die politischen Bedingungen der Funktionalität nationalistischer Semantiken hin: “Die Faustregel für Historiker ist: 1789 gab es etwa 1789 Herrschaftsgebiete im deutschsprachigen Mitteleuropa. Davon bleiben nach knapp zehn Jahren ungefähr vierzig übrig. Das ist ganz analog zum späteren ökonomischen Konzentrationsprozeß ein ungeheurer politischer Konzentrationsprozeß.” (Wehler 1994: 76)

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  9. Was an dieser Stelle nur angedeutet werden kann: Baumans Beschreibung der Ambivalenz der Moderne als Kampf um Bestimmtheit reformuliert zum einen die “Dialektik der Aufklärung”, die den Kampf der Moderne um eindeutige Begriffe, um Identitäten und Eindeutigkeiten als Folge einer “Vorstellung des Draußen [als] eigentliche Quelle der Angst” (Horkheimer/Adorno 1971: 18) bestimmt. Zum anderen aber lassen sich Baumans Überlegungen in der Weise weiterdenken, als die funktionale Differenzierung der Gesellschaft jene Angst vor der Unbestimmtheit dadurch bewältigt, daß sie zentrale Funktionen mit eindeutigen Codierungen bearbeitet, die selbst nicht mehr kontingent gesetzt werden. Als kontingent erscheinen bekanntlich nur die entsprechenden Programme der Funktionssysteme, die Notwendigkeit einer Zuweisung von Zahlung oder Nicht-Zahlung, Recht oder Unrecht, Macht oder Nicht-Macht, Wahrheit oder Unwahrheit usw. scheint aber außer Zweifel zu stehen. Gesellschaftlich wirksam jedenfalls vermag letztlich nur das zu werden, was dem Spiel der funktionalen Codes folgt, was also innerhalb der Funktionssysteme der Gesellschaft stattfindet und sich so unter die Knute eindeutiger Bestimmuungen zwingen läßt. Gerhard Gamm (1994: 236) spricht in diesem Zusammenhang von einem reziproken Steigerungsverhältnis von Bestimmtheit und Unbestimmtheit in der modernen Kultur. Ob man dies dann als generelle Kulturkritik weiterliest — so die Variante der frühen kritischen Theorie — oder aber als Modernisierungsleistung feiert — so die Variante einer allzu harmonistischen Beschreibung funktionaler Differenzierung — steht auf einem anderen Blatt.

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  10. Auf die Frage der Fremdheit von Frauen in der abendländischen Kultur gehe ich hier nicht weiter ein, weil eine theoretische Beschreibung dieses Sachverhalts eine komplexere Fassung meines Modells von Vertrautheit/Fremdheit erfordern würde. Die gegenwärtige gleichzeitige Thematisierung und Dethematisierung des Geschlechts (vgl. Pasero 1994: 267), also der paradoxe Hinweis auf das Geschlecht, auf das in vielen gesellschaftlichen Bereichen nicht mehr hingewiesen werden sollte, das keine Rolle mehr spielen soll, ist als eine inzwischen politisch, rechtlich und ökonomisch wirksame Gegenbewegung gegen die VerFremdung von Frauen zu werten. Quer zu diesen Semantiken läßt sich aber in verschiedenen Spielarten feministischer Selbstbeschreibungen eine hochinteressante Reflexion auf die Fremdheit des weiblichen Geschlechts für die abendländische Kultur beobachten: Während etwa Simone de Beauvoir (1983) das “andere Geschlecht” als das Andere des Männlichen führt, bezweifelt Luce Irigaray sogar die Sagbarkeit des weiblichen Geschlechts schlechthin, das — auf der anderen Seite des Männlichen positioniert — keine Chance auf Repräsentation und damit Identität hat. Es ist deshalb das “Geschlecht, das nicht eins ist” (Irigaray 1979: 22ff.).

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  11. Nur am Rande erwähnt: Nicht zufällig gerann das Problem der Intersubjektivität und des Fremdverstehens zum zentralen Thema philosophischer Reflexionen, die sich nach dem Scheitern von Husserls Phänomenologie der Intersubjektivität in vielfältigen Varianten der strukturellen Fremdheit von Individuen gestellt hat. Als ein Beispiel dafür vgl. nur Bernhard Waldenfels’ Der Stachel des Fremden (Waldenfels 1990).

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  12. Erstaunlicherweise ist es gerade Simmel, der Autor des entscheidenden Textes der klassischen Soziologie des Fremden, der am eindringlichsten auf das Potential der strukturellen Fremdheit für die Individuierung des modernen Individuums hingewiesen hat (vgl. Simmel 1989: 397).

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  13. Nur für diesen Typ des Einwanderes gelten die folgenden Überlegungen!

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  14. Heckmann (1992: 85ff.) spricht in diesem Zusammenhang von einer “frühproletarischen Lage” von Arbeitsmigranten.

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  15. Die formale Gleichheit ist hier nicht im vollen juristischen und politischen Sinne zu verstehen. Der Grundkonflikt der modernen Kultur, den Universalismus des (Menschen)-Rechts mit dem Partikularismus des Nationalstaats zu verbinden, ist bis heute nicht gelöst. Formale Gleichheit bedeutet lediglich, daß sich aufgrund askriptiver Merkmale eine Positionszuweisung innerhalb der Sozialstruktur nicht mehr eineindeutig vornehmen läßt.

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  16. So kommt es auch nicht darauf an, ob Zuwanderer tatsächlich nicht für eine Verknappung sorgen. Womöglich hat sogar öffentliche Aufklärung über die volkswirtschaftliche Bedeutung und Unverzichtbarkeit von Zuwanderern — vgl. etwa die glänzende Studie von CohnBendit/Schmid (1992) — die paradoxe Wirkung, daß damit die Identifizierbarkeit und damit: Diskriminierbarkeit von Fremden als homogener Gruppe mit kollektiven Gruppenmerkmalen miterzeugt wird. Auf diesen paradoxen Zusammenhang weist etwa Cornell (1995: 26) hin.

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  17. Auch die Sichtbarkeit des Fremden ist kein substantielles, sondern ein akzidentelles Merkmal eines ohnehin askriptiven Phänomens, das durch soziale Prozesse definiert wird. Vgl. dazu die instruktive Einleitung zu einem Sammelband zur wissenschaftlichen Konstruktion von Ethnizität von Ekhard J. Dittrich und Frank-Olaf Radtke (1990: 11ff.) sowie die darin enthaltenen einschlägigen Beiträge.

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  18. Heitmeyer zieht aus seinen Studien gar den Schluß, von einem Integrationsdefizit, ja geradezu von einer Auflösung gesellschaftlicher Integrationsmechanismen und von einer Paralysierung gesellschaftlicher Institutionen zu sprechen, was seinen empirischen Ergebnissen über fremdenfeindliche Gewalt sicher entgegenkommt (vgl. Heitmeyer 1994c). So sehr ich Heitmeyers empirischer Diagnose folge, so sehr scheint mir seine theoretische Rede von der Paralysierung und Zersetzung der Gesellschaft selbst jener Identitätspolitik auf den Leim zu gehen, deren Folgen ja gerade für den Einschluß/Ausschluß-Mechanismus der Fremdenangst bzw. -feindlichkeit sorgen. Vielleicht achtet Heitmeyer zu wenig darauf, daß es sich bei dem diagnostizierten Phänomen um ein strukturelles Merkmal der Moderne handelt und nicht um einen akzidentellen Fehler, der durch geeignete Wiederherstellungsmechanismen aufzufangen wäre. Vgl. dazu ausführlicher Kap. 4 in diesem Band.

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  19. Zu ähnlichen Ergebnissen kommen auch andere Studien, die ich hier aus Platzgründen nicht weiter diskutiere (vgl. nur Bukow 1993: v.a. 68ff.; Willems 1993: v.a. 247ff.; Hoffmeister/Sill 1992 sowie die Zusammenfassung verschiedener Untersuchungen von Wahl 1993).

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  20. Bereits an anderer Stelle (vgl. Kap. 6 in diesem Band) habe ich gegenüber Esser eingewandt, daß sich seine These einer Ungleichzeitigkeit ethnischer Vergemeinschaftung und gesellschaftlicher Modernisierung im Sinne funktionaler Differenzierungsprozesse aus einer unzureichenden Lesart des Differenzierungstheorems ergibt.

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  21. Niklas Luhmann (1985) hat in einem Aufsatz zwar die Querlage sozialer Ungleichheit zur funktionalen Differenzierung aufgegriffen, die destabilisierenden Folgen von Ungleichheit allerdings nicht gesehen. Ich sehe darin ein Beispiel für eine Gesellschaftstheorie, die durch ihre zu starke Engführung am Gesellschaftsbegriff das Problem der Stabilität interaktionsnaher Lebenslagen aus dem Blick verliert. Zugleich aber sehe ich darin keinen Grund, das Problem sozialer Ungleichheit gegen das Theorem funktionaler Differenzierung auszuspielen, wie dies etwa Reinhard Kreckel (1992: 30) tut.

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  22. Die Diskussionen um die funktionale Differenzierung werden folgerichtig auf einem Terrain ausgetragen, in dem es lediglich um die Frage der Durchlässigkeit bzw. Autonomie und Rei rozität teilsystemspezifischer Perspektiven geht (vgl. Münch 1991: 23; 1994; Beck 1993: 286; Bendel 1993; Nassehi 1994), nicht aber um den Stellenwert sozialer Ungleichheit und der Stabilisierung von Lebenslagen als Folge der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft sowie um die Frage der Rückkopplung dieser Folgen auf die Teilsysteme.

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Nassehi, A. (1999). Der Fremde als Vertrauter. Soziologische Beobachtungen zur Konstruktion von Identitäten und Differenzen. In: Differenzierungsfolgen. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-08013-8_8

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