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Über die Quellen der Zuverlässigkeit von Abduktionen: Instinkt, Intuition, Logik oder Erfahrung

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Die Abduktion in der qualitativen Sozialforschung

Part of the book series: Qualitative Sozialforschung ((QUALSOZFO,volume 13))

  • 211 Accesses

Zusammenfassung

„Abduktionen vollziehen sich in einem völlig unkontrollierbaren Teil des Verstandes“. „Der Prozess selbst hat mit logischen Regeln so gut wie nichts zu tun“. Das sind zentrale Aussagen von Peirce, die jede Möglichkeit eines bewussten und kontrollierbaren Kalküls zur Erlangung neuer Erkenntnis verneinen. Doch wie gewiss oder handlungstheoretisch: wie zuverlässig sind solche Erkenntnisse? Häufiger sind diese Erkenntnisse (zumindest in the long run) richtig als falsch, auch das war bereits (von Peirce) gesagt. Aber aus welcher Quelle speist sich diese Art von Zuverlässigkeit? Wie erlangt sie Autorität? Kann man ihr trauen? Auf diese Fragen hat Peirce einige Antworten formuliert, die wie so sich im Laufe der Bearbeitung langsam änderten. Deshalb ist es (auch hier) schwer, eine kurze Antwort zu geben.

Instinkt [ist] die große innere Quelle von aller Weisheit und von allem Wissen. Charles Sanders Peirce

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Literatur

  1. So z.B. Dawkins 1987. ‚Zufall‘ ist im Übrigen aus der Perspektive vieler Evolutionstheoretiker lediglich ein Synonym für eine Wahrscheinlichkeit, welche sich der Mensch aufgrund seiner begrenzten kognitiven Ausstattung nur sehr schwer vorstellen kann. Wegen seiner minimalen Lebenszeit (mit Bezug auf die Dauer der Evolution), seinem Unvermögen, sich GROSSE Zahlen vorzustellen und der spezifischen (Un)Sensibilität seiner Sinnesorgane ist der Mensch auf einen ‚mittleren‘ Bereich, den „Mesokosmos“ (Vollmer 1983) geeicht. Die Welt der mittleren Dimensionen stellt die „kognitive Nische“ (ebd.) der menschlichen Gattung dar. An den Makround Mikrokosmos ist der menschliche Erkenntnisapparat nicht angepasst — auch wenn der Mensch in den letzten Jahrzehnten seine Sinnesorgane mit technischen Mitteln beträchtlich erweitern konnte. Peirce schrieb 1905 zu diesem Fortschritt: „Modern science, with its microscopes and telescopes, with its chemistry and electricity, and with its entirely new appliances of life, has put us into quite another world; almost as much so as if it had transported our race to another planet“ (Peirce CP 5.313 — 1905).

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  2. Übersetzung aus Sebeok & Umiker—Sebeok 1982: 36.

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  3. Instinkt bestimmt Peirce auf folgende Weise: „Wenn ein Tier auf einen Reiz auf etwa dieselbe Weise reagiert wie fast jedes andere Individuum derselben Art oder der derselben Untergruppe dieser Art (wie z. B. eines Geschlechts) und dies nicht sozusagen mechanisch tut (wie beim Schlag gegen die Kniescheibe eines Menschen), sondern willentlich, und wenn die Reaktion so beschaffen ist, daß sie im allgemeinen eine nützliche Auswirkung auf dasselbe Tier und seiner Nachkommenschaft hat, wobei jedoch kaum angenommen werden kann, daß diese Auswirkung von dem so handelnden Tier hätte geahnt werden können oder zumindest nicht hätte durch Schlußfolgern und irgendwelchen anderen ihm bekannten Fakten hätte festgestellt werden können, dann nennen wir die Handlung ‚instinktiv ‘, wohingegen die allgemeine Verhaltensgewohnheiten, die als dem Bewußtsein des Lebewesen zugehörig betrachtet wird, ein ‚nstinkt‘ genannt wird“ (Peirce 1993: 491 — MS 682 — 1913).

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  4. Wie provokant eine solche Sicht ist, kann man einer Bemerkung von Kapitan ent—nehmen: „Solche Beschreibungen widersetzen sich nicht nur dem Bild des abdukti—ven Schlusses als algorithmischem Verfahren, das genau bezeichneten Regeln folgt, wenn er von einem Zustand in den nächsten übergeht, sie bedrohen selbst die Idee, daß die neue Hypothese überhaupt in einem Schluß ihren Ursprung habe. Instinkti—ves Tun oder plötzliche Momente der Eingebung sind typischerweise im Gegensatz zu willentlichen, selbst—kontrollierten Akten zu sehen“ (Kapitan 1994: 150).

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  5. Ein gewichtiges Gegenargument trägt Chomsky vor: „Peirce bietet eine ziemlich an—dere Mutmaßung an mit dem Argument, ‚die Natur pflanzt dem Geist der Menschen Ideen ein, die, wenn sie aufwachsen, ihrem Vater, der Natur, ähnlich werden‘. Der Mensch , ist mit gewissen natürlichen Überzeugungen ausgestattet, die wahr sind‘, weil ,gewisse Gleichförmigkeit im gesamten Universum vorherrschen und der ver—nünftige Geist selbst ein Produkt dieses Universums ist. Diese selben Gesetze sind somit mit logischer Notwendigkeit in seinem Wesen selbst inkorporiert‘. Hier scheint es klar zu sein, daß das Argument von Peirce gänzlich ohne Relevanz bleibt und kaum einen Fortschritt gegenüber der prästabilierten Harmonie bedeutet, die es vermutlich ersetzen sollte. Der Umstand, daß der Geist ein Produkt von Naturgeset—zen ist, impliziert nicht, daß er befähigt ist, diese Gesetze zu verstehen oder durch ‚Abduktion‘ zu ihnen vorzustoßen“ (Chomsky 1973: 158).

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  6. Vgl. hierzu auch Harnard 2001, der jedoch weitere Kandidaten vorstellt und disku—tiert.

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  7. Peirce versuchte jedoch nie, die profanisierte und bürgerliche Variante der Intuition, also den Genieglauben ernsthaft ins Spiel zu bringen. Genielehren sehen den kreati—ven Menschen, das Genie also, als den Schöpfer von Neuem an. Dabei gilt (und des—halb geht auch die These auf einen Glauben an Gott zurück), dass die Schöpfungs—kraft der Genies, eine Gabe der Götter ist. Genies sind lediglich Medien göttlichen Wirkens. Auch wenn es dem Selbstverständnis des Bürgertum für einige Zeit als ausgemacht galt, dass der Mensch selbst über diese Kraft zur Schaffung des Neuen verfügt, also nicht auf göttliche Gnade angewiesen ist, so zeigt bei näherer Betrach—tung auch dieses Selbstverständnis die göttliche Herkunft der Macht, Neues schöp—fen. Die göttliche Herkunft der Kraft zum Neuen wird besonders sichtbar bei dem Begriff der ‚Inspiration‘. Hier wird schon vom Wort her deutlich, dass nicht der Mensch aus sich selbst heraus das Neue erblickt oder schafft, sondern dass ein guter Gott den Menschen die göttliche Weisheit einhaucht und nur deshalb sieht der so in—spirierte, erfüllt von göttlicher Weitsicht, das, was für andere Menschen unsichtbar ist: das Neue.

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  8. Hier zeigt sich m.E. sehr gut, wie vor allem der ‚späte ‘ Peirce mithilfe der Kategorie ,natürliche Band‘ an der Überzeugung festhalten will, die Menschen könnten etwas über die Wirklichkeit in Erfahrung bringen.

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  9. Von diesem Gebrauch des Begriffes ‚Intuition‘ ist allerdings ein anderer Gebrauch zu unterscheiden, der zurzeit vor allem auf wissenschaftlichen Tagungen Konjunk—tur hat. Dort hört man oft Formulierungen wie ‚Fine Intuition von mir ist‘ oder ‚Das widerspricht meiner Intuition‘. Was genau damit gesagt werden soll, bleibt meist un—klar. Klar sind dagegen die Konsequenzen eines solchen Gebrauchs: der Sprecher muss den Inhalt seiner Äußerung nicht mehr rechtfertigen, da er auf ein inneres (für ihn erhellendes) Erlebnis verweist. Wissenschaftssoziologisch ist interessant, dass die ,Intuition‘ dabei ist, die begründungspflichtige ‚These‘ zu verdrängen.

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  10. Dass Peirce durchaus in diese Richtung gedacht hat, zeigt sich in einem Brief von Peirce an J.H. Kehler von 1911. Dort heißt es: „But retroduction gives hints that come straight from our dear and adorable Creator. We ought to labor to cultivate this Divine privilege. It is the side of human intellect that is exposed to influence from on high“ (Peirce NEM III,1: 206 — 1911).

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  11. „We often derive from observation strong intimations of truth, without being able to specify what where the circumstances we had observed which conveyed to those in—timation“ (Peirce CP 7.46 — 1907).

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  12. Dies hat auch Konsequenzen für jede Hermeneutik: „Eine theorielose Hermeneutik, bei welcher Kategorien aus dem Material ,emergieren‘, stellt eine gefährliche me—thodologische Fiktion da. Der Gefahr des hermeneutischen Dogmatismus entgeht man nicht durch Theorielosigkeit, sondern nur dadurch, dass ein umfassendes Theo—riewissen Ober den untersuchten Gegen—standsbereich zur Verfügung steht und auf dieser Grundlage konkurrierende Deutungshypothesen für die untersuchten Phäno—mene formuliert warden& (Kelle 2002: 13).

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  13. Mit ‚Umweltdaten‘ ist (auch laut Peirce) nicht allein die aktuelle Situation gemeint, sondern stets können alle Erfahrungen des gesamten Lebens neu ausgedeutet werden, denn diese sind permanent präsent: „(...) it is plain enough that all that is immediately present to a man is what is in his mind in the present instant. His whole life is in the present“ (Peirce CP 1.310 — 1905).

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  14. „Doubt has not the least effect of this sort, but stimulates us to action until it is destroyed. This reminds us of the irritation of a nerve and the reflex action produced thereby; while for the analogue of belief, in the nervous system, we must look to what are called nervous associations“ (Peirce Writings II: 247 — 1877).

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  15. Hierzu passen sehr gut auch die Überlegungen des Neurologen Antonio Damasio. Bewusstes Denken ist nach seiner Auffassung nur die Spitze eines Eisbergs. Unter der Oberfläche befindet sich erst das Gefühl als private Vorstellung (Damasio 2000: 57), darunter die Emotion als komplexes Reaktionsmuster und darunter relativ einfache Reaktionsmuster, die Damasio „basale Lebensregulation“ nennt (ebd.: 73).

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Reichertz, J. (2003). Über die Quellen der Zuverlässigkeit von Abduktionen: Instinkt, Intuition, Logik oder Erfahrung. In: Die Abduktion in der qualitativen Sozialforschung. Qualitative Sozialforschung, vol 13. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-09669-6_3

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  • DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-663-09669-6_3

  • Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden

  • Print ISBN: 978-3-8100-3595-0

  • Online ISBN: 978-3-663-09669-6

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