Zusammenfassung
„Man spricht des Oefteren von Berlin, wenn man amerikanische Städte nennt, und meint hiermit dem Wesen dieser Stadt näher zu kommen, ja es fast zu erklären und in eine bestimmte Gattung von Stadtcharakteren einzuordnen. Dies scheint mir falsch.“1 Hier formuliert der Querdenker Carl Einstein gegen das Klischee, das die Entwicklung einer europäischen Stadt zur Großstadt, zur Metropole unters Etikett des Amerikanismus stellt. Wie schillernd dieser Begriff auch immer angewendet wird, in seiner Grundbedeutung meint er den alle Lebensbereiche umwertenden Prozeß der Industrialisierung. Synonym für die damit statthabende soziale Umstrukturierung ist die Technisierung, die ihren Vorreiter in Amerika und dort beispielhaft in Henry Ford hat. Dessen Funktionalismus, idealtypisch an der Durchrationalisierung der Fabrikarbeit festgemacht, wird allenthalben als das Epochensignum der Moderne rezipiert. Die Auseinandersetzungen mit dem Amerikanismus beschränken sich deshalb nicht auf die Bereiche industrieller Produktion; auf dem groBen Feld der Kultur diskutieren und praktizieren Künstler unterschiedlichster Provenienz dieses Phänomen. „Unabstrakt und unsentimental, also in einem positiven Sinne naiv: so ist die Methode des Amerikanismus, und zwar im seelischen und geistigen Leben ebenso wie im praktischen. Keinerlei Bildungslasten beschweren diese Methode. Sie ist jung, barbarisch, unkultiviert, willenhaft.“2 Gerade die absolute Traditionslosigkeit des Amerikanismus, die hier überschwenglich gefeiert wird, kann sich in der alten Welt und ihren Metropolen nicht ungebrochen realisieren. Die Manifestationen der europäischen Zivilisation verhindern einen reibungslosen Transfer. Amerikanismus verspricht Reinigung, Verschlankung, Versachlichung — dies sein pragmatischer Aspekt, wogegen ideologisch Amerikanismus für Internationalität steht. Durch sie werden die Metropolen einander nähergerückt über Ländergrenzen hinweg. Der vergleichende Blick allerdings läßt das je Spezifische einer Stadt dann um so deutlicher werden:
„Schneller als Moskau selber lernt man Berlin von Moskau sehen. [...] Heimkehrend findet man vor allem eins: Berlin ist eine menschenleere Stadt. Menschen und Gruppen, die in seinen Straßen sich bewegen, haben die Einsamkeit um sich. Unaussprechlich erscheint der Berliner Luxus. Und er beginnt schon auf dem Asphalt. Denn die Breite der Bürgersteige ist fürstlich. Sie machen aus dem ärmsten Schlucker einen Grandseigneur, welcher auf der Estrade seines Schlosses wandelt. Fürstlich vereinsamt, fürstlich verödet sind die Berliner Straßen. Nicht nur im Westen.“3
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Anmerkungen
Carl Einstein: Berlin. Undat. Typoskript <vermutl. um 1913>. Akademie der Künste Berlin.
Rudolf Kayser: Amerikanismus. In: Vossische Zeitung vom 27. September 1925. Zit. nach: Weimarer Republik. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1918–1933. Hrsg. von Anton Kaes. Stuttgart 1983. S. 266.
Walter Benjamin: Denkbilder. In: W.B.: Gesammelte Schriften. Bd. IV/1. Hrsg. von Tilymann Rexroth. Frankfurt/Main 1972. S. 312 f.
Einstein (Anm. 1).
Ebd.
Ebd.
Stephan von Wiese: Berlin 1922: Der Konstruktivismus kommt in Bewegung. MaholyNagy - Péri - Eggeling - Buchholz. In: Friedrich W. Henckmanns (Hrsg.): Erich Buchholz. Köln 1978. S. 40.
Ernst Kâllai: Russische Kunstausstellung in Berlin. In: E.K.: Vision und Formgesetz. Aufsätze über Kunst und Künstler 1921–1933. Leipzig u. Weimar 1986. S. 27 f.
Siehe das Photo Nr. 31 in: Walter Laqueur: Weimar. Die Kultur der Republik. Frankfurt/M./Berlin/Wien 1977. S. 149.
Raoul Hausmann: op.cit. (1919). In: Die zwanziger Jahre. Manifeste und Dokumente deutscher Künstler. Hrsg. von Uwe M. Schneede. Köln 1979. S. 29.
Ja! Stimmen des Arbeitsrats für Kunst in Berlin (1919). Nachdruck in: Arbeitsrat für Kunst 1918–1921. Katalog der Akademie der Künste. Berlin 1980. S. 13.
Walter Gropius: Brief an Dr. Walther Rathenau vom 26. Februar 1919 (Arun. 11). S. 117.
Adolf Behne: Brief an Walter Gropius vom 9. Dezember 1920. (Anm. 11). S. 123.
Otto Freundlich: Absage. In: O.F.: Schriften: Ein Wegbereiter der gegenstandslosen Kunst. Hrsg. von Uli Bohnen. Köln 1982. S. 116.
Eberhard Roters: Aspekt Großstadt. In: Aspekt Großstadt. Hrsg. vom Künstlerhaus Bethanien. Berlin 1977. S. 12.
Carl Einstein: Otto Dix. In: C.E.: Werke Bd. 2. Hrsg. von Marion Schmid. Berlin 1981. S. 264.
Roters (Anm. 17).
Ebd. S. 15.
Edward Fry: Der Kubismus. Köln (2.Aufl.) 1974. S. 12.
Fernand Léger: Sehr aktuell sein. In: Europa-Almanach. Hrsg. von Carl Einstein u. Paul Westheim. Potsdam 1925. S. 13.
Hermann von Wedderkop: Der Siegeszug des `Querschnitts’ (1924). In: Der Querschnitt. Zusammengest. u. hrsg. von Christian Ferber. Frankfurt/M./Berlin/ Wien 1981. S. 6.
Hermann von Wedderkop: Wandlungen des Geschmacks (1926). (Anm. 21). 5.168.
Paul Vogt: Geschichte der deutschen Malerei im 20. Jahrhunderts. Köln 1976. S. 152.
Rudolf Réti: Die Krise unserer Zeit und die Musik. (Anm. 20). S. 247.
Josef Rufer: Schönberg in Berlin. In: Arnold Schönberg. Katalog der Akademie der Künste. Berlin 1974. S. 7.
Vereinbarung zwischen Schönberg und Leo Kestenberg (Abschrift). Wien am 28. August 1925. In: Arnold Schönberg Gedenkausstellung 1974. Wien 1974. S. 309.
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Hanns Eisler: Arnold Schönberg der musikalische Reaktionär (1924). In: H.E.. Musik und Politik. Schriften 1924–1948. Hrsg. von Günter Mayer. Gesammelte Werkausg. Serie III. Leipzig 1973. S. 13.
Theodor W. Adorno: Warum ist die neue Kunst so schwer verständlich? In: Der Scheinwerfer. Ein Forum der NEUEN SACHLICHKEIT 1927–1933. Hrsg. von Erhard Schütz u. Jochen Vogt. Essen 1986. S. 216.
Theodor W. Adorno: Philosophie der neuen Musik. In: Th.W.A. Gesammelte Schriften. Bd. 12. Hrsg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt/M. 1975. S. 39.
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Theodor W. Adorno: Gegen die neue Tonalität. (Anm. 29). S. 209.
Die Flucht in die Vergangenheit. In: Die Rote Fahne vom 6. März 1928. zit. nach Hans Curjel: Experiment Krolloper 1927–1931. München 1975. S. 234.
Otto Klemperer: Gespräch überneue Musik. In: O.K.: Über Musik und Theater. Hrsg. von Stephan Stompor. Berlin (DDR) 1982. S. 41.
Otto Klemperer: Das Publikum im Opernhaus (1927). (Anm. 35). S. 41.
Paul Zschorlich. In: Deutsche Zeitung vom 13. Februar 1929. (Anm. 34). S. 263.
Herbert Ihering: Staat und Oper. In: Berliner Börsen-Courier vom 27. Februar 1930. (Anm. 34). S. 482.
Gottfried Benn: Brief an Paul und Gertrut Hindemith vom 25. August 1931. In: G.B.: Der Dichter über sein Werk. Hrsg. von Edgar Lohner. München 1976. S. 43.
Gottfried Benn: Einleitung. In: Paul Hindemith. Das Unaufhörliche. Textbuch. Mainz 1931. S. 6.
Ebd.
Ebd.
Gottfried Benn: Brief an Paul Hindemith vom 29. Juli 1930. In: G.B.: Ausgewählte Briefe. Wiesbaden 1957. S. 38.
Hanns Eisler: [Die Kunst als Lehrmeisterin im Klassenkampf]. (Anm. 28). S. 120.
Bertolt Brecht: Zur Theorie des Lehrstücks. In: Brechts Modell der Lehrstücke. Hrsg. von Reiner Steinweg. Frankfurt/M. 1976. S. 164.
Hanns Eisler: Die Erbauer einer neuen Musikkultur. (Anm. 28). S. 161.
Brecht. Referiert von Pierre Abraham. (Anm. 45). S. 198.
Bertolt Brecht: [Notiz vom 9. Mai 1942]. In: B.B.: Arbeitsjournal. Bd. 1: 1938 bis 1942. Hrsg. von Werner Hecht. Frankfurt/M. 1973. S. 439.
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Haarmann, H. (1992). Treffpunkt Berlin. In: Siebenhaar, K. (eds) Das poetische Berlin. DUV: Literaturwissenschaft. Deutscher Universitätsverlag, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-14654-4_7
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