Zusammenfassung
Die Geschichte spielt sowohl im Denken Hegels als auch in Husserls Spätphilosophie eine ganz entscheidende Rolle, und eine wesentliche Übereinstimmung besteht darin, daß beide Philosophen eine teleologische Geschichtsauffassung haben. Der Charakter dieser Teleologie unterscheidet sich jedoch: Hegel sieht in seinem eigenen Zeitalter die VervoUkommnung des geschichtlichen Prozesses, während Husserl davon ausgeht, daß das Ziel, welches die teleologische Entwicklung leitet, ein unerreichbares Ideal ist. Geschichte ist für Husserl ein offener, unendlicher Prozess der Annäherung an Ideale, die modifiziert werden können; Hegel dagegen vertritt die problematische These einer Vollendung der Geschichte. Diese Unterschiede wirken zurück auf die unterschiedliche Einschätzung der Rolle des Phönornenologen (normativ bei Husserl, deskriptiv bei Hegel).
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Literatur
Eine frühere Version dieses Kapitels ist unter dem Titel „Die Gerichtetheit der Geschichte: Teleologie bei Hegel und Husserl“ veröffentlicht in dem Band Subjektivitüt — Verantwortung — Wahrheit. Neue Aspekte der Phänomenologie Edmund Husserls, herausgegeben von David Carr & Christian Lotz. Frankfürt a. M. 2002.
Vgl. PhG, 589: „Umgekehrt entspricht jedem abstrakten Moment der Wissenschaft eine Gestalt des erscheinenden Geistes iiberh aupt“
In den allermeisten Aufsätzen, die zu diesem Thema veröffentlicht worden sind, wird der schützenswerte Versuch gernacht, Hegel ‚gegen den Strich ‘zu lesen und zu argumentieren, daß mit dem Zu-sich-Kommen des absoluten Geistes die Geschichte erst wirklich beginne. Ich würe erfreut, wenn sich dies zeigen ließe — aber bisher habe ich in keinem Aufsatz ein überzeugendes Argument gefunden. Mehr noch: Während die Aufsätze argumentieren, daß Hegel sich selbst nicht richtig verstanden hat, wenn er von einer Vollendung der Geschichte und vom Tilgen der Zeit spricht, schließse ich mich vielmehr Peperzak an, der betont, daß Hege1sich mißverstünde, wenn er von einem offenen Ende gesprochen hätte (vgl. Peperzak (1987)).
Vgl. Peperzak (1987),S. 175. Vgl. auch S. 180: „Wenn das Ende der Enzyklopadie in dieser Hinsicht ein offenes Ende wäre, so hätte Hegel selbst den Fehler gemacht, den er immer wieder mit größter Schärfe angreift: er hätte es bei einer Form oh ne Inhalt bewenden lassen, oder er hätte nur eine einzige Stufe des philosophischen Weges dargestellt, ohne sich zu fragen, was die Bedeutung dieser Gestalt für das Ganze der Wahrheit (d.h. für die Wahrheit überhaupt) bedeuten müßte“.
Vgl. hierzu genauer: Trawny (2000).
Vgl. Harris (1997), S.731.
Vgl. hierzu und zum folgenden Köhler (1998). Köhler setzt in Anlehnung an Pöggeler (1993) die drei am Ende der Phänomenologie auftauchenden Geschichtsbegriffe zueinander ins Verhältnis. Wenig überzeugend ist allerdings seine Bemerkung über Heidegger, in der er behauptet, Heidegger lege in seiner Vorlesung über Hegels Phänomenologie ein unvollständiges und unbefriedigendes Verständnis von HegelsGeschichtsbegriffan den Tag (vgl. Köhler (1998), S. 46). In seiner Vorlesung (und in den von Köhler angeführten Stellen) geht es Heidegger gar nicht urn Hegels Geschichtsbegriff. Dort, wo Heidegger Hegels Geschichtsauffassung hinterfragt, nämlich in Sein und Zeit, wird meines Erachtens offenkundig, daß er die Problematik von Hegels Geschichtsbegriff auf einer sehr tiefgehenden Ebene versteht.
Sehr treffend bringt dies Peter Trawny zum Ausdruck: „Der die Geschichte bewegende Geist bewegt sich notwendig in der Zeit. (…) Indem er aber die Geschichte beschließt, enden Zeit und Bewegung. Nicht kann ihm völlige Bewegungslosigkeit zufallen. Diejenige Bewegungsweise aber, die dem Stillstand am nächsten kommt, ist ein Kreisen in sich„ (Trawny (2000), S. 12).
Vgl. Landgrebe (1967), S. 65
Landgrebe (1967), S. 67.
Vgl. Janssen (1970), S. 123 f., S. 203 ff. Janssens Analyse der husserlschen Auffassung von Geschichte in Gegunüberstellung zur hegelschen its überzeugend; Janssens Behauptung, die Geschichte des Denkens stelles sich für Husserl nicht als durch „Notwendigkeit“ bestimmts dar, sondern lasse „nur subjektiv verschuldete, negativ auszuscheidende Faktoren als Grund für die Bewegungen des philosophischen Denkens zu, um die gegenwärtige Wesensmöglichkeit des eigenen Denkens als unendliche Aufgabe zukünftiger Forschung zu retten“ (123), scheint mir jedoch der husserlschen Auffassung teleologischer Geschichte nicht wirklich gerecht zu werden.
Vgl. Husserl, „Realitätswissenschaften und Idealisierung. — Die Mathematisierung der Natur“. Erste Abhandlung in Hua VI, S. 279–293.
Vgl. auch Gail Soffer, die vor den Gefahren eines radikalen Relativismus warnt: „Yet the same thinking which holds ‚our truths are valid for us, their truths for them ‘easily degenerates into the much more sinister ‚our truth are valid for us, no matter what anyone else thinks‘. Thus relativism provides sanction for the absence of any public debate or attempt to establish consensus“ (Soffer (1991), S. 203f.).
Vgl. Janssen (1970), S. 126, Fußnote: „Husserl setzt nicht, wie es uns seit Nietzsche, Marx, Freud und Heidegger vertraut ist, ein ursprüngliches, im Wesen des Lebens selber gelegenes Interesse an Verdeckung und Unwahrheit voraus.“
Vgl. Janssen (1970), S. 114. Janssen erklärt zunächst bezüglich Hegels Konzeption von Geschichte: „So laßt die historische Teleologie die Zukunft wesenlos werden, weil die Gegenwart als aufbewahrende VolIendung der Vergangenheit das Wesen der Zukunft mitenthält, so daß aus ihr nicht s ‚wesentlich Neues ‘mehr kommen kann. „Eine zugehörige Fußnote besagt: „Auch dieser Grundzug gilt für die histor ische Teleologie Hegels wie Husserls. Bei Husserl ist er verdeckter, da bei ihm die Zukunft als unendlicher Horizont phänornenologischer Forschungsarbeit und Entwicklung auftritt. Aber dieser Zukunftshorizont steht unter den Bedingung en der transzendentalen Phänomenologie, die darüber vorweg bestimmen, daß in ihm nur ihnen Konformes auftreten kann.“
Vgl. Bernet (1983), S. 30 f.: „Die erkenntnistheoretisch orientierte Zeitanalyse baut den natürlich vorausgesetzten Vorzug der jetzigen Gegenwart weiter aus, bedient sich dabei jedoch der unnatürlichen Redukt ion der vergangenen Gegenwart auf die gegenwärtige Erinnerung (‚Vergegen-wärtigung‘) der Vergangenheit sowie der zukünftigen Gegenwart aufdie gegenwärtige Erwartung (‚Entgegenwärtigung‘) der Zukunft. Sie verleugnet damit die vergessene Vergangenheit und die unerwartete, überraschende Zukunft.„
Vgl. Levinas, Die Ze it und der Andere, S. 48.
Vgl. Levinas, Totalität und Unendlichkeit, S. 174.
Vgl, Steinbock (1995), S. 250 ff. Vgl. auch Waldenfels (1991), S. 39: „Die Achtung vor dem Gesetz entspringt, wie Kant durchaus wußte, nicht selbst dem Gesetz. Anstatt Grenzerfahrungen vorweg zu moralisieren, sollte man vielmehr versuchen, so etwas wie ein Ethos von Grenzachtung und Grenzverletzung her zu denken “.
Vgl. Held (2000b), S. 11.
Vgl. auch Ladrière (1960), S. 187.
So formuliert Held im Anschluß an Kants dr itte Kritik: Held (2000b), S. 12.
Vgl. Kapitel 8b). So argumentiert auch Bernet in seinem uüerzeugenden Aufsatz „Encounter with the Stranger: Two Interpretations of the Vulnerability of th e Skin “, in dem er die Stärken der hus serlschen Interpretation im Vergleich zu Levinas' Interpretation aufze igt: „Sticking to the First Interpretation and its conception of an analogous apprehension of the Other, one would then have to say that there must be a strangeness in myself the understanding of which guides me in my apprehension (or appresentation) of the Other’s strangeness. Several texts of Husserl seem to be willing to go as far as thi s“ (Bernet (1998), S. 97).
Vgl. Trawny (2000), S. 18.
Sartre, Das Sein und das Nichts, S. 441.
Sartre, Das Sein und das Nichts, S. 442.
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Eine frühere Version diese Kapitels ist unter dem Titel „Die Gerichtetheit der Geschichte: Teleologie bei Hegel und Husserl“ veröffentlicht in dem Band Subjektivität — Verantwortung — Wahrheit. Neue Aspekte der Phänomenologie Edmund Husserls herausgegeben von David Carr & Christian Lotz. Frankfurt a. M. 2002.
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Stähler, T. (2003). Die Gerichtetheit der Geschichte. In: Die Unruhe Des Anfangs. Phaenomenologica, vol 170. Springer, Dordrecht. https://doi.org/10.1007/978-94-010-0059-8_11
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