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Karl Poppers Auffassungen über Religion und den Glauben an Gott

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Handbuch Karl Popper

Part of the book series: Springer Reference Geisteswissenschaften ((SPREFGEIST))

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Zusammenfassung

Dieser Artikel beginnt mit der Frage, ob es für Karl Poppers Denken kohärent ist, einerseits an einem epistemologischen kritischen Realismus festzuhalten, was voraussetzt, dass metaphysische Fragen rational analysiert werden können, und andererseits am Agnostizismus. Auf der Grundlage der Hypothese, dass Glaube als Fiducia nicht notwendigerweise Glauben als Doxa impliziert, zeigt der Autor anhand von Aussagen über die Natur des christlichen Glaubens, dass es Popper möglich war, sowohl am Agnostizismus (in doxastischer Hinsicht) als auch an Glaubensfragen (in religiöser Hinsicht) festzuhalten. So leitet sich zum Beispiel Poppers Einschätzung, dass es unmöglich ist, in der Geschichte von Offenbarung zu sprechen, von Barth und Kierkegaard her, während er seine Meinung, dass religiöse Lehren nicht am weltlichen Erfolg gemessen werden können, auch als im Einklang mit der christlichen Selbstinterpretation versteht. Die grundsätzliche Frage, ob Popper entweder nur hypothetisch über die Lehren des Christentums spricht oder ob er entgegen seinem ausdrücklichen Bekenntnis zum Agnostizismus tatsächlich Theist oder Atheist ist, bleibt absichtlich unbeantwortet. Dennoch schließt der Artikel mit der Einschätzung, dass Popper als ein Denker gesehen werden kann, der Argumente auch im Rahmen bestimmter christlicher Denkmuster verwendet. Letztendlich kann Popper als ein nur halbherziger Agnostiker betrachtet werden, der möglicherweise implizit einer spezifischen Form des deistischen Theismus zuneigte.

Bei der Gestaltung dieses Aufsatzes wurden Teile meines Beitrags „Poppers rätselhafter Agnostizismus“ im Jahrbuch der Karl-Heim-Gesellschaft, GLAUBE UND DENKEN, 28. Jahrgang, Frankfurt/M. u. a. 2015 benutzt. Der Redaktion des Jahrbuches sowie insbesondere dem Peter Lang Verlag möchte ich für die entsprechende Genehmigung danken.

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Notes

  1. 1.

    Poppers Relativismus hinsichtlich dieser besonderen Art von Theorien ergibt sich daraus, dass er es zulässt, dass sich die Geschichte, ausgehend von verschiedenen möglichen Interessen unterschiedlicher Historiker oder sogar unterschiedlicher Generationen, jeweils von Neuem betrachten, einschätzen und interpretieren lässt. Wobei dann wohl auch unterschiedliche Befunde herauskommen mögen. So stellt er u. a. fest, „that it is as justifiable to interpret history from a Christian point of view as it is to interpret it from any other point of view“ (Popper 2006, S. 300, Herv.v.m.). Die geschichtliche Wahrheit mag insofern letzten Endes vom jeweils gewählten „point of view“ grundsätzlich abhängen! Freilich hat Popper dabei zugleich hervorgehoben, dass sich solche mannigfachen Auslegungen des geschichtlichen Geschehens als gegenseitig komplementär, sich ergänzend (anstatt als sich gegenseitig ausschließend) erweisen können. Dies dürfte aber ein schwacher Trost sein, zumal hierbei eben keinerlei Garantie vorliegt, dass in allen relevanten Fällen eine solche Komplementarität dann auch tatsächlich am Werke sein wird. Somit ist auch bei Popper einem drohenden Abgleiten in Richtung Relativismus nicht vorgebeugt, zumal er im Bereiche der Geschichtswissenschaft die „Idee der Objektivität“ für grundsätzlich unanwendbar („inapplicable“) hält (vgl. Popper 2006, S. 296). In den Bereichen sowohl der Kosmologie und der Naturwissenschaften als auch in den übrigen Wissenschaftszweigen hat er dagegen den Relativismus scharf abgelehnt. Diesen kritisiert er in einem späteren Anhang zum gleichen Werk als die Lehre, nach welcher einerseits die Wahl zwischen den konkurrierenden Theorien arbiträr bleibt und das Vorliegen objektiver Wahrheit verneint wird oder nach welcher andererseits davon auszugehen ist, dass beim Vorhandensein von mehreren konkurrierenden Theorien keine Möglichkeit besteht zu entscheiden, ob eine besser als die andere ist bzw. sich der Wahrheit mehr annähert (vgl. dazu Popper 2006, S. 419, und weiter im gleichen Werk in Facts, standards and truth: A further criticism of relativism). Bezüglich der Geschichtswissenschaft hat er aber einen solchen Relativismus praktisch weitgehend zugelassen, bzw. dieser dürfte sich, folgerichtig durchdacht, schon aus seinem allgemeinen Verständnis dieser Wissenschaft ergeben. Der andere Klassiker des kritischen Rationalismus, Hans Albert, teilte dagegen ein derartiges Verständnis dieses Wissenschaftszweiges nicht und vertrat vielmehr einen generellen wissenschaftstheoretischen Anti-Relativismus.

  2. 2.

    Vgl. neuerdings seine Sammlung: Albert 2013.

  3. 3.

    Vgl. Albert 2011, S. 6.

  4. 4.

    „Doxastisch“ bezieht sich auf eine Meinung im kognitiven Sinne, „fiduziell“ auf das persönliche Vertrauen in Gott.

  5. 5.

    Überdies müsste man die eigentümliche Evolution von Poppers Auffassung der Metaphysik selbst berücksichtigen. Vgl. dazu die umfassende und synthetisierende Betrachtung von Martin Morgenstern 2015, S. 119–144.

  6. 6.

    Vgl. Popper 2006, S. 300–303.

  7. 7.

    Vgl. Popper 2006, S. 300.

  8. 8.

    Popper 2006, S. 299.

  9. 9.

    Eine weitere philosophische Autorität neben der Kierkegaards (als „Christian thinker protesting against Hegel’s historicism“), auf die sich Popper berufen hat, ist der weniger bekannte M. B. Foster („the Christian Philosopher“) mit seinem Buch The Political Philosophies of Plato and Hegel (und indirekterweise auch A. Schopenhauer als Hegel-Kritiker, auf den sich Kierkegaard seinerseits bezieht). Alle drei – Barth, Kierkegaard und Foster – haben eben dies gemeinsam: dass sie gegen Hegels Historizismus „protestiert“ haben, so Popper (vgl. Popper 2006, S. 416).

  10. 10.

    Popper 2006, S. 303.

  11. 11.

    Bei der Beurteilung von Poppers Einstellung zur Religion bzw. zum Christentum muss also stets und sorgfältig der Unterschied beachtet werden zwischen den theoretischen Bestandteilen religiöser Weltauffassung einerseits und den praktischen Regeln der Lebensführung andererseits. Die Annahme der letzteren muss dabei nicht zugleich mit der Annahme der ersteren einhergehen.

  12. 12.

    Bekannterweise folgte er hier dem Vorbild des großen Humanisten Albert Schweizer.

  13. 13.

    Zur Verwendung des Begriffs „Deismus“ vgl. unten den Abschn. „Deismus kombiniert mit dem moralischen Erbe des Christentums?“.

  14. 14.

    Albert stellt fest: „Im Gegensatz zu Popper habe ich mich immer wieder kritisch mit religiösen Auffassungen und mit theologischen Argumentationen befaßt“ (Albert 2011, S. 5); während von Popper gelten soll, er habe sich „lieber mit anderen Problemen befaßt“ (Albert 2011, S. 6).

  15. 15.

    So behauptet Popper: „a consistent materialist view of the world is only possible if it is combined with a denial of the existence of consciousness“ (Popper und Eccles 2003, S. 98)! Bekannterweise pflegte Popper auf die Frage nach einem postmortalen Leben folgenderweise zu antworten: „Ich lasse mich überraschen“ (Popper, zitiert nach Kiesewetter 2001, S. 123). Eine Stellungnahme, die seine grundsätzliche Offenheit für auf das Jenseits bezogene Annahmen andeuten dürfte.

  16. 16.

    Vgl. dazu u. a. Mt. 7,12.

  17. 17.

    Vgl. dazu sein berühmtes Werk über die protestantische Ethik (Weber 2014). Die weltliche Arbeit wird im Protestantismus mit dem Berufsgedanken verknüpft und somit als Arbeit nach Berufung („von Gott geruffet“, Weber 2014, S. 183) verstanden. Die Arbeit im eigenen Berufe gilt dann als die eigentümliche, durch Gott gestellte Aufgabe, so dass das hingebungsvolle Arbeiten der göttlichen Vorsehung dient und in der eschatologischen Perspektive den Weg zur Erlösung darstellt. Natürlicherweise lässt Popper im Rahmen seiner rationalistischen Philosophie solche eschatologischen Perspektiven weg, verbleibt aber beim Kerngedanken der Rechtfertigung durch die Arbeit.

  18. 18.

    Popper 2006, S. 306–307, Herv.v.m.

  19. 19.

    So lautet die Mitteilung Poppers, die er im Rahmen einer gemeinsamen Erklärung mit J.C. Eccles, dem Mitverfasser des Buches Das Ich und sein Gehirn (vgl. Popper und Eccles 1982, S. 14) abgegeben hat. Der Unterschied zwischen den beiden Autoren wurde dann so formuliert, dass John C. Eccles seinerseits „a believer in God and the supranatural“ sei, wobei aber folgendes gelte: „Each of us not only deeply respects the position of the other, but sympathizes with it“ (Popper und Eccles 2003, S. VIII). Letzteres kommt etwas schwächer zum Ausdruck in der deutschen Übersetzung, wo es nur heißt „wir bringen beide dem Standpunkt des anderen nicht nur Achtung entgegen, sondern wir versuchen, ihn zu verstehen“ (Popper und Eccles 1982, S. 14). Es ist nicht ganz klar, ob Popper mit seiner Rede vom „Sympathisieren“ mit dem Theismus eigentlich nur eine Höflichkeitsfloskel gemeint hat oder vielleicht diskreterweise auch noch seine persönlich grundsätzlich größere Nähe zum Theismus als zum Atheismus andeuten wollte. Wie oben dargelegt, würde ich es für nicht unbedingt widersprüchlich halten, den grundsätzlichen Agnostizismus zu vertreten und zugleich mit dem (primär fiduziell verstandenen) Glauben an Gott zu sympathisieren, ihm sich in gewisser Weise zu nähern. Es verbleibt aber die eigentliche Spannung in Bezug auf Poppers Neigung zur Übernahme einer grundsätzlich immanentistischen Weltsicht im Rahmen seiner Naturphilosophie. Insofern würde die vermutete mögliche Tendenz eine Erweiterung der ontologischen Perspektive erfordern, die nunmehr auch noch die Transzendenz mitumfassen würde, über die wir nur rational nicht endgültig entscheidbare metaphysische Vermutungen anstellen können.

  20. 20.

    Reinalters Schreiben vom 05.04.2016.

  21. 21.

    Bader erklärt diese Äußerung Poppers so, „daß auch die mißverständliche Verkündigung der Botschaft Jesu zur Ausbildung des philosophischen Atheismus beigetragen habe“ (Bader 2016, S. 262). Diese Erklärung übersieht aber, dass Poppers Eindrücke augenscheinlich durch die Lektüre des AT (und also allem Anschein nach nicht des NT) hervorgerufen worden sind. Es dürfte auch sehr fraglich sein, ob Popper evtl. einen Agnostizismus mit der Tendenz zum Atheismus vertrat. (Interessanterweise hat er, nach eigener Mitteilung an Kiesewetter, mit dem Pfarrer, der ihn getauft hat, später jahrelang Kontakt gepflegt, vermutlich nicht aus purer Höflichkeit, bzw. als ein Dankeschön für ein einmaliges Ritual, an dem die beiden beteiligt gewesen waren).

  22. 22.

    Agassis Schreiben vom 24. Mai 2016. Er hat zugleich gemeint, Popper habe die Religion wohl verstanden, das Christentum aber eigentlich nicht!

  23. 23.

    Zu dieser Vermutung berufe ich mich auf meine früher dargelegte Argumentation. Auch die Auffassung vom späten Hans Albert, der Popper sonst in so vieler Hinsicht sehr nahestand, könnte u. U. möglicherweise der Popperschen nahestehen. Die Befürwortung dieser Auffassung mag man verstehen als einen Hinweis auf ihre grundsätzliche Kompatibilität mit der Position des kritischen Rationalismus in ihrem das Metaphysikverständnis betreffenden Aspekt.

  24. 24.

    Den Abschnitt über den kritischen Rationalismus Alberts in diesem Buche hat Morgenstern nach Gesprächen mit ihm verfasst. Albert besteht dort mit Nachdruck darauf, dass ein solcher Gott auf die menschliche Welt keine kausalen Einwirkungen ausüben kann. Auch der Regensburger Philosoph Franz Kutschera scheint zu einer ähnlichen Position zu neigen. Allerdings würde er gerne dazu auch noch die Seelenunsterblichkeit haben.

  25. 25.

    Wenn man die schon angesprochene Zugehörigkeit Poppers zur aufklärerischen Überlieferung mitberücksichtigt, so halte ich es für angebracht, auf die folgende Einschätzung der letzteren durch Grabner-Heider hinzuweisen: „Generell läßt sich sagen, daß rationale Aufklärung nicht jede Form von Religion überwinden wollte, daß sie hauptsächlich einer intoleranten und fanatischen Religionsform den Kampf ansagte. Die wichtigsten Inhalte der Religion sollten mit den Erkenntnissen der Vernunft verträglich sein. So hat die Aufklärung wesentlich dazu beigetragen, daß die ursprünglichen Zielwerte des frühen Christentums gegen den erbitterten Widerstand der Feudalkirche in Erinnerung gerufen und langsam auch gesellschaftlich durchgesetzt werden konnten. Insofern könnte sich die europäische Aufklärung auch in Hinkunft als religionserhaltend erweisen“ (Grabner-Haider 1993, S. 155 [Herv.v.m.].

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Jakovljević, D. (2018). Karl Poppers Auffassungen über Religion und den Glauben an Gott. In: Franco, G. (eds) Handbuch Karl Popper. Springer Reference Geisteswissenschaften. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-16242-9_33-1

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